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Einleitung
Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ist eine spezielle Fallkonstellation im Bereich der Mittäterschaft, die sog. »additive Mittäterschaft«. Diese
Fallgruppe, ebenso wie ihre vorstehende Bezeichnung, wurde erstmals von Herzberg in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt, wobei er von folgendem Fall
ausging:
»Zwanzig Verschwörer planen ein Attentat. Der Heeresminister (M) soll aus einem
entfernt gelegenen Haus erschossen werden, wenn er beim Besuch einer Provinzstadt die Rathaustreppe hinaufschreitet. Um das Gelingen wahrscheinlicher zu machen, kommen sie überein, dass alle zwanzig aus mehreren Fenstern gleichzeitig
schießen sollen. So geschieht es. M bricht im Kugelhagel zusammen. Bei der Untersuchung finden sich viele Kugeln in der Leiche, andere haben das Opfer nur gestreift oder gar nicht getroffen. Für keinen der Attentäter kann ausgeschlossen werden, daß sein Schießen ohne Wirkung geblieben ist. Einer von ihnen, A, beruft sich
darauf und meint, es sei – in dubio pro reo – nicht statthaft, ihn wegen vollendeter
Tötung zu bestrafen.« 1
In der Folgezeit haben sich eine Reihe von Autoren2 mit der »additiven Mittäterschaft« befasst. Gleichwohl wurde und wird die Fallgruppe zumeist eher am
Rande diskutiert. Einige der ausführlicheren Stellungnahmen erfolgen lediglich
als eine Art Annex zur Befassung mit anderen Fallgruppen, etwa der sog. »fahrlässigen Mittäterschaft«3 sowie insbesondere der strafrechtlichen Relevanz von
Gremienentscheidungen. Diese beiden Fallgruppen sind, anders als die hier untersuchte, in der Vergangenheit jeweils Gegenstand einiger Monographien4 gewesen. Der vergleichsweise geringe Grad der Auseinandersetzung mit der vorliegenden Fallgruppe verwundert allerdings bei näherer Betrachtung. So wirft die
»additive Mittäterschaft«, wie ich im Rahmen dieser Untersuchung zu zeigen beabsichtige, eine Reihe von Fragen hinsichtlich der allgemeinen Voraussetzungen
der Mittäterschaft auf, die bis zum heutigen Tage nicht nur nicht vollständig geklärt, sondern teilweise noch nicht einmal gestellt wurden. Ersteres gilt etwa für
das Verhältnis von Mittäterschaft und Kausalität bei den schlichten Erfolgsdelikten, Letzteres vor allem für die Konkretisierung des Begriffes »Tat« als Bezugsobjekt der Tatherrschaft, deren Charakter als maßgebliches Täterschaftskriterium
in der Wissenschaft überwiegend anerkannt ist. Womöglich ist die vergleichsweise geringe Beschäftigung mit der »additiven Mittäterschaft« in der Literatur
auch eine Folge des Zusammenhanges, in dem sie von Herzberg in die wissen-
1 Herzberg Täterschaft S. 56.
2 Vgl. im Einzelnen sogleich A.
3 Zu dieser unten C. IV. 4.
4 Vgl. etwa zur »fahrlässigen« Mittäterschaft Kamm; Sung-Ryong; zum Gremienproblem
Knauer, Schaal, Weisser (alle nach LitVerz).
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schaftliche Diskussion eingeführt wurde. So hat er das Ergebnis, die mittäterschaftliche Strafbarkeit aller zwanzig Attentäter, nicht nur zu keinem Zeitpunkt
in Frage gestellt, sondern es vielmehr ausdrücklich als »nicht zweifelhaft« bezeichnet.5 Es ging ihm vielmehr vorwiegend darum zu zeigen, dass diese Fallgruppe durch die sog. »funktionelle Tatherrschaft« nicht zu erfassen sei, weshalb
diese als Voraussetzung der Mittäterschaft ungeeignet sei. Die »additive Mittäterschaft« wurde also von Anfang an nicht im Hinblick darauf diskutiert, ob in
der entsprechenden Fallkonstellation überhaupt die Voraussetzungen von Mittäterschaft vorliegen. Es ging zumeist lediglich darum, wie der Mittäterschaftsbegriff im Einzelnen beschaffen sein müsse, um in dieser Fallgruppe das jedenfalls
von Herzberg ausdrücklich vorausgesetzte Ergebnis zu ermöglichen. So überrascht es dann auch wenig, wenn Roxin im Rahmen seiner Replik auf die Kritik
von Herzberg sich weitgehend darauf beschränkt darzulegen, warum nach seiner
Auffassung eine Begründung der mittäterschaftlichen Strafbarkeit aller zwanzig
Attentäter unter Beibehaltung des Kriteriums der funktionellen Tatherrschaft
möglich sei.6 Zweifel hinsichtlich des Ergebnisses werden auch bei Roxin nicht
zum Ausdruck gebracht. Diese Vorwegnahme des Ergebnisses wird bereits in der
Terminologie deutlich, die von Herzberg verwendet und im Folgenden von nahezu allen Autoren übernommen wurde. Wenn ohne Reflektion zur Kennzeichnung des Herzbergschen Attentats-Falles der Begriff der »additiven Mittäterschaft« herangezogen wird, so impliziert dies bereits, dass es sich überhaupt um
einen Fall der Mittäterschaft handelt. Ob es so etwas wie eine »additive Mittäterschaft« überhaupt geben kann, wird gar nicht, worin gegenüber anderen Mittäterschaftskonstellationen ihre dogmatischen Besonderheiten liegen, nur bedingt untersucht. Inzwischen gibt es zwar einige Autoren, die eine mittäterschaftliche
Strafbarkeit aller Beteiligten in dieser Fallkonstellation ablehnen, gleichwohl hat
dies kaum zu einer intensiveren Befassung mit der hier untersuchten Fallgruppe
geführt. Ich möchte daher die Untersuchung der vorliegenden Fallgruppe explizit
ergebnisoffen vornehmen. Der Einfachheit halber wird der Terminus »additive
Mittäterschaft« in dieser Arbeit aber zunächst beibehalten. Zur Kennzeichnung
der Tatsache, dass die Antwort auf die Frage, ob eine »additive Mittäterschaft«
überhaupt existiert, hier ausdrücklich nicht vorweggenommen werden soll, wird
der Begriff innerhalb dieser Arbeit stets in Anführungszeichen gesetzt.
Zum Zwecke der beabsichtigten Untersuchung werden im Folgenden zuerst
die bisher zu dieser Fallgruppe vertretenen Auffassungen nebst den zugehörigen
Begründungen dargestellt und kritisch gewürdigt. Sodann ist im Wege einer kritischen Problemanalyse aufzuzeigen, welche spezifischen Schwierigkeiten sich
bei der Befassung mit der »additiven Mittäterschaft« ergeben, und es ist zu zeigen, dass die Erarbeitung einer konsequenten Lösung dieser Fallgruppe nur auf
der Basis einer Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen der Mittäterschaft
im Allgemeinen erfolgen kann. Die Erarbeitung solch allgemeiner Mittäterschaftsvoraussetzungen erfolgt im 3. Teil dieser Arbeit. Dabei werde ich mich vor
5 Herzberg Täterschaft S. 57.
6 Roxin JA 1979, 519 (524).
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allem an der gesetzlichen Regelung in § 25 Abs. 27 orientieren, sowie eine
Abgrenzung zur insoweit unbeschadet zahlreicher unterschiedlicher Akzentuierungen weitgehend herrschenden Tatherrschaftslehre vornehmen. Abschließend
wird eine ergebnisorientierte Anwendung des Erarbeiteten auf die »additive
Mittäterschaft« sowie auf andere problematische Fallgruppen stattfinden.
7 Normen ohne Gesetzesangabe sind solche des StGB.
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References
Zusammenfassung
Das Werk behandelt die Abgrenzung von Mittäterschaft und Teilnahme, eine angesichts der Verbreitung des Tatherrschaftsgedankens rückläufige Diskussion. Losgelöst vom Begriff „Tatherrschaft“ wird die Mittäterschaft – anhand der sog. „additiven Mittäterschaft“ – konsequent auf ihre gesetzliche Regelung in § 25 Abs. 2 StGB zurückgeführt. Die entwickelte Lösung, eine teilweise Renaissance der formal-objektiven Theorie, mag dem Einwand fehlender argumentativer Flexibilität und somit mangelnder Praxistauglichkeit ausgesetzt sein. Demgegenüber steht die Rückbesinnung auf eine echte Tatbestandsbezogenheit, die den dahinterstehenden verfassungsrechtlichen Garantien die notwendige Geltung verschafft.