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D. Träger der Wirtschaftspolitik
11. Wirtschaftspolitische Willensbildung und Verbände
Dem Beobachter der wirtschaftspolitischen Willensbildung in Deutschland fällt i.d.R.
auf: Wann immer eine wirtschaftspolitische Aktivität erwogen wird, stets melden sich
Vertreter von Interessenverbänden zu Wort, um vorgebliche Wünsche oder Klagen ihrer Klientel geltend zu machen. Das gilt besonders für erwogene wirtschaftspolitische
Reformvorhaben. Der Chor der Wortmeldungen ist vieltönig und häu? g dissonant.
2006 waren 1896 Verbände nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
aufgelistet, die Zugang zum Bundestag und zu den Bundesministerien hatten (KIRCH-
HOF 2006, S. 57). 1972 waren es 635. Insgesamt sind in Deutschland rund 14000
Verbände und Dachverbände tätig. In ihnen sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Berufe, Wirtschaftszweige, Handwerker, Sozialdienste, Verbraucherschützer, Sportler,
Kulturschaffende, Wissenschaftler und Hochschulrektoren organisiert.
Ziel der Verbandfunktionäre dürfte es i.d.R sein, die Erwerbsinteressen ihrer Klientel werbend zu vertreten. Wie dargelegt (Abschn. 13.1.5) geht es ihnen darum, in Gesetzgebungs- und Regulierungsverfahren rechtlich abgesicherte Privilegien zu erlangen, die ihrer Klientel erwerbslose Zusatzeinkommen oder Renten verschaffen. Dies
geschieht im Rahmen eines Tauschgeschäfts. Getauscht wird die Privilegienvergabe
gegen politische Unterstützung bei der Wiederwahl eines politischen Mandatsträgers
oder einer Partei. Dieser Vorgang des rent-seekings (TOLLISON, 1982) wurde von
HAYEK (2003, 405) als „Schacherdemokratie“ kritisiert. Symptomatisch für sie ist,
wenn Privilegien und damit verbundene Renten durch wirtschaftspolitische Reformen
in Frage gestellt werden und der Widerspruch der Begünstigten bzw. deren Vertreter
durch Protestaktionen artikuliert wird. In diesem Fall wird von den politischen Akteuren versucht, den Widerstand der Begünstigten und deren Verbandsvertreter in „konzertierten Aktionen“, „Bündnissen“, „Arbeitskreisen“, „runden Tischen“ und „Kanzlertreffen“ zu dämpfen und beschönigend in eine „konsensuale Politik“ ein? ießen zu
lassen. (STREIT, 2004, 45)
Die Erfolgsbedingungen für eine solche konsensuale Politik dürften denkbar ungünstig sein. Reformbemühungen stoßen i.d.R. auf eine dichte Interessenver? echtung
von politischen Mandatsträgern und Verbänden. Sie äußert sich darin, dass Abgeordnete häu? g Mitglieder oder gar Funktionsträger von Interessenverbänden sind oder
sich durch Scheinarbeits- oder Scheinberaterverträge in deren Dienst nehmen lassen.
Die Diskussion über Nebeneinkünfte von Abgeordneten im Herbst 2006 dürfte in diese Richtung gezielt haben. Es steht zu befürchten, dass die personelle und ? nanzielle
Ver? echtung von Abgeordneten und organisierten Interessengruppen, eine Art Selbstlähmung der Mandatsträger bewirkt, wenn es darum geht, Reformen parlamentarisch
durchzusetzen. Grundsätzlich ist zu vermuten, dass das Beziehungsge? echt von Mit-
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gliedern der politischen Klasse und Verbänden sowie deren Vertretern der Korruption
nahe kommt (v. ARNIM, 2001, Kap. 5). Edmund Burke, Mitglied des englischen Unterhauses, hat 1774 den Wählern seines Wahlkreises, Bristol, die verfassungstheoretisch begründete Stellung eines repräsentativen Abgeordneten nahezu klassisch wie
folgt umrissen: “Das Parlament ist nicht ein Kongress von Botschaftern verschiedener
sich bekämpfender Interessen, die jeder wie ein Agent und Advokat gegen andere
Agenten und Advokaten verfechten müsste, sondern das Parlament ist eine frei ihre
Meinung bildende Versammlung einer Nation mit einem Interesse, nämlich dem des
Ganzen, … (zit. n. v, ARNIM 2001, S.33)
Literatur
Von Arnim, H.H. (2001), Das System – Die Machenschaften der Macht, Rottenburg: Jochen
Kopp Verlag.
Hayek, F.A. (2003), Recht, Gesetz und Freiheit, Gesammelte Schriften in deutscher Sprache,
Bd. B4, Hrsg. V. V. Vanberg, Tübingen: Mohr Siebeck.
Kirchhof, P. (2006), Das Gesetz der Hydra – Gebt den Bürgern ihren Staat zurück, München:
Droemer Knaur Verlag, Teil III.
Streit, M.E. (2003/2004), Die Misere des deutschen Verbändestaates, in ders. (Hrsg.): Jenaer
Beiträge zur Institutionenökonomik und Wirtschaftspolitik, Contributiones Jenenses, Bd. 9,
Nomos: Baden-Baden, S.43-50.
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12. Wissensaspekte wirtschaftspolitischer Beratung
Wissensgrundlage für eine Beratung wirtschaftspolitischer Akteure durch einen Ökonomen sind empirisch gehaltvolle, überprüfte Aussagen über Wirkungszusammenhänge in einem konkreten marktwirtschaftlichen System. Es sind Aussagen über Ziel-
Mittel-Beziehungen, die sich durch logische Operationen zu Informationen über wirtschaftspolitische Handlungsmöglichkeiten transformieren lassen (Abschn. 17.1.1).
Bei Würdigung dieser Wissensgrundlage muss beachtet werden, dass Marktwirtschaften -systemtheoretisch betrachtet (Abschn. 2.6.0)- offen und interaktiv komplex
sind. Daher dürften Kausalitätsbeziehungen, die Ziele und Mittel miteinander verbinden, kaum aufspürbar sein, mit der Folge, dass ein sich auf solche Ziel-Mittel-Beziehungen stützendes Interventions- oder Lenkungswissen begrenzt ist oder gar gänzlich
fehlen kann. Wissensde? zite sind eine dürftige Beratungsgrundlage für jemanden, der
seinen Rat auf die Kenntnis bewährter, relativ kurzer Kausalketten stützen möchte.
Kommt es dennoch zu konkretem wirtschaftspolitischem Handeln ist -systembedingtmit unerwünschten Neben- und Fernwirkungen einer erwogenen Intervention sowie
davon ausgelösten, irritierenden Nachbesserungsversuchen zu rechnen.
Deshalb ist die kognitive Ausgangsbasis für einen Berater denkbar ungünstig.
Wissenschaftlich fundierte Handlungsempfehlungen vermag er nicht zu geben.
Dem verbreiteten Denken in einfachen Kausalitätsbeziehungen muss er redlicherweise mit dem Hinweis auf Komplexität des marktwirtschaftlichen System begegnen. Bei
erwogenen Interventionen muss er zur Vorsicht, wenn nicht zur Zurückhaltung raten
mit dem als abstrakt empfundenen Hinweis auf unerwartete und daher nicht näher
konkretisierbare Nebenwirkungen. Das bringt den Berater vermutlich in Misskredit
bei einem interventionswilligen politischen Akteur. Positiv gewendet müsste des Beraters Empfehlung unter diesen Umständen lauten, möglichst alles zu unterlassen, was
die beiden systembildenden Faktoren beeinträchtigen könnte: (1) die Selbstkoordination durch Tauschhandlungen oder Transaktionen und (2) die Selbstkontrolle durch
Wettbewerbshandlungen. In dieser im Grunde ordnungstheoretisch orientierten Empfehlung ist ein Kon? ikt zwischen wissenschaftlichem Berater und beratenem politischen Akteur angelegt. Es liegt nahe, zu vermuten, dass in diesem Spannungsfeld
zwischen ökonomischer und politischer Rationalität, der ökonomische Rat übergangen und dazu benutzt wird, eine ohnehin getroffene Entscheidung mit Hilfe der Ökonomik zu untermauern (STREIT 2005, S. 31f.)
In der vorherrschenden Form von Demokratie dürfte für den beratenen politischen
Akteur gelten, dass er seine Interventionsentscheidungen opportunistisch trifft mit
dem Ziel, seine Wiederwahl zu fördern. Hierzu eignen sich vor allem solche Maßnahmen, die Gruppeninteressen dienlich zu sein versprechen. Das zuvor angesprochene
Spannungsverhältnis zwischen Berater und interventionswilligen Beratenen erwächst
daraus, dass sich der Berater als lästiger Mahner vor systemgefährdendem Tun sieht
und vermutlich auch so gesehen wird. Sein Rat würde unter diesen Umständen nur
akzeptiert, wenn er nicht gegen politische Opportunismen verstößt, also nicht der Begünstigung von Gruppeninteressen zuwider läuft. Beugt sich der Berater derartigen
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Band 11 der Reihe enthält im ersten Teil Reflexionen des Autors zu Themen, die in seinem in 6. Auflage 2005 erschienenen Lehrbuch zur Theorie der Wirtschaftspolitik auftreten.
Im zweiten Teil findet sich eine Reihe von Kommentaren des Autors zur Ordnungspolitik in Deutschland, die zwischen 1987 und 2008 in überregionalen Tageszeitungen erschienen sind.
Der Autor ist Professor Emeritus am Max-Planck-Institut für Ökonomik in Jena.