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„vierten Alter“ werden die familiären und professionellen Hilfssysteme bis an die
Grenzen ihrer Leistungsmöglichkeit geführt. Ziel der Pflege ist stets die weitestgehende Erhaltung von Alltagskompetenzen, um damit die durch die Pflege
„gewonnenen Jahre“71 nicht zu „verlorenen“ im Sinne inaktiver Jahre werden zu
lassen.
Hilfe- und Pflegebedürftigkeit allein als unabwendbares Altersschicksal anzusehen, an dessen Ausleben eben nur die Alten beteiligt sind, und sie nicht an Pflegeentscheidungen oder dem Testen von Partizipationsbereichen zu beteiligen, wäre zu
kurzsichtig.72 Vielmehr muss ein gesellschaftliches Konzept für die Schaffung und
Erhaltung von Pflegeressourcen gefunden werden, dass verschiedene Akteure in den
Pflegeprozess einbindet und ermöglicht, dass Erlebnisweisen, Leistungsvermögen
und Kompetenzen sowohl objektiv (Qualität der Pflege, Ausmaß erhaltender
Versorgungselemente, Endpunkte wie Umsiedlung in ein Heim) als auch subjektive
Zufriedenheit der pflegebedürftigen Zielpersonen und der Angehörigen in Wechselwirkung treten.
III. Pflegebedürftigkeit als Lebenskrise
Hilfe- u. Pflegebedarf wird sowohl von den Pflegebedürftigen aber auch von der
Familie als krisenhaftes Ereignis erlebt.73 Alte, gewohnte Routinemuster gelten nicht
mehr und der Ausgang dieser Belastungssituation ist offen.74 Der Verlust bisher gelebter selbstständiger Lebensführung und der eigenen „primären Kontrolle“75 ist
psychisch zu bewältigen und eine neue Lebensperspektive zu finden, die Einschränkungen beinhaltet und auch ein Akzeptieren dieser Einschränkungen erfordert.76
Was so beschrieben wird, ist tatsächlich ein meist lange Zeit in Anspruch nehmender Prozess, in dem erstmals im Leben die Auseinandersetzung mit den eingetretenen Grenzen und Fähigkeitseinschränkungen von unabsehbarer Dauer notwendig
ist.77 Ein Schlüssel der psychischen Verarbeitung liegt darin, dass es gelingt, die
„Biografie-Ressource“ des gelebten Lebens der Betroffenen in das neue Leben mit
einzubringen und sie als Basis für das anstehende „Ertragen der Hilfsbedürftigkeit“
zu nutzen.78
Hilfe- und Pflegebedarf ist nicht allein die logische Folge von Alter und
Hochaltrigkeit oder von Erkrankungen – vielmehr eine prozesshafte Entwicklung in
Wechselwirkung zu eingetretenen Verlusten im Bereich der Gesundheit und der
71 Wahl/Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 16
72 Wahl/Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 19
73 Wahl/Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 21
74 Wahl/Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 21
75 Heckhausen/Schulz 1995, S. 284, 285 f.
76 Kruse, S. 355, 362
77 Wahl/Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 21
78 Kruse/Bruder, S. 275, 277
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Vielzahl von Ressourcen. Dadurch rückt die Ressourcenaktivierung, z. B. durch
Familienangehörige, in den Mittelpunkt und zwar selbst dann, wenn die aufgetretene
Erkrankung dauerhaft ist und damit nur schwer oder gar nicht beeinflusst werden
kann.
IV. Entwicklungstrends bei Hilfe- u. Pflegebedarf in Privathaushalten
Wird die Sicherung der Lebenssituation alter Menschen als gesellschaftliche Aufgabe verstanden, ist die Frage zu beantworten, wie angesichts des demo-grafischen
Wandels in Deutschland die Rahmenbedingungen ausgestaltet werden müssen,
damit der Vorrang der häuslichen Versorgung aufrecht erhalten werden kann.79 Dies
setzt zunächst das Erkennen von zeitlichen Entwicklungen des Hilfe- u. Pflegebedarfs voraus. Dabei ist zunächst festzustellen, dass die Zahl der Hilfe- u. Pflegebedürftigen in privaten Haushalten in den letzten Jahren stets zugenommen hat.80
Waren es im Jahr 1991 noch etwa 1,1 Mio. Pflegebedürftige, so waren es im Jahre
1994 etwa 1,2 Mio. und im Jahr 2004 etwa 1,4 Mio. Dieser Zuwachs ist jedoch nicht
auf einen generell erhöhten Pflegebedarf älterer Menschen zurückzuführen, sondern
spiegelt den veränderten Altersaufbau der Bevölkerung wieder.81 Tatsächlich hat
sich der relative Anteil der Hilfe- u. Pflegebedürftigen in der jeweiligen Bevölkerungsgruppe in den letzten 10 Jahren kaum verändert. Waren im Jahre 1991 31,4 %
aller Mitbürger in Privathaushalten über 85 Jahren regelmäßig pflegebedürftig, so
waren es im Jahr 2003 30,4 %. Dieser, wenn auch geringe, im Übrigen nur in den
alten Bundesländern zu verzeichnende Rückgang wird damit begründet, dass in dem
gleichen Zeitraum ein etwas größerer Anteil an Hochaltrigen in die stationäre Pflege
gewechselt ist. Im Ergebnis sind Hochaltrige heute nicht mehr oder weniger
pflegebedürftig als früher. Die wachsende Zahl der in Privathaushalten Gepflegten
ist vielmehr die Konsequenz einer sich immer mehr verlängernden Lebenserwartung. So ist der Anteil der in Deutschland lebenden Personen im Alter über 85
Jahren (Hochaltrige) von 3,8 % (3 Mio.) im Jahre 1991 auf 4,1 % (3,4 Mio.) an der
Gesamtbevölkerung gestiegen.82 Damit hat jedoch die Entwicklung noch kein Ende
gefunden. So wird der Anteil der Hochaltrigen an der Gesamtbevölkerung im Jahre
2020 auf 6,9 % (5,7 Mio.) ansteigen83, und auch in den weiteren Jahren wird mit
einer Zunahme gerechnet.
Die Differenzierung nach dem Geschlecht der hochbetagten Pflegebedürftigen in
Privathaushalten ist dagegen weniger spektakulär. Waren im Jahre 1991 23 % aller
Männer in Privathaushalten im Alter über 85 Jahren pflegebedürftig und im Jahre
79 Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 55
80 Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 61
81 Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 62
82 Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 64
83 Schneekloth in Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 64
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Wenn Abkömmlinge durch ihre unentgeltliche Mitarbeit im Haushalt, Beruf oder Geschäft des Erblassers oder durch erhebliche Geldleistungen in besonderem Maße zur Nachlassmehrung – oder dessen Erhalt – beigetragen haben, kann dies einen Ausgleichungsanspruch bei der Erbauseinandersetzung rechtfertigen.
Selbst die möglicherweise Jahrzehnte zurückliegenden Leistungen der Kinder im Rahmen der §§ 1619, 1620 BGB stehen der Ausgleichungspflicht nicht entgegen.
In den erbrechtlichen Fokus gelangen immer häufiger Pflegeleistungen von Abkömmlingen gegenüber ihren Eltern. Diese rechtfertigen nach der derzeitigen Gesetzeslage nur dann einen Ausgleichungsanspruch wenn die Pflege und der Verzicht auf berufliches Einkommen erfolgt (§ 2057 a Abs. 1 S. 2 BGB). Diese Situation soll nach dem Willen der Bundesregierung (Regierungsentwurf vom 30.01.2008) durch die Schaffung eines § 2057 b BGB-E geändert werden.
Pflege wird mittlerweile als gesellschaftliche Aufgabe verstanden. Es wird nunmehr auch erkannt, dass alle gesetzlichen Erben – also auch der Ehepartner – an der Ausgleichung beteiligt werden sollen, was nach der bisherigen Gesetzeslage nicht der Fall war und zu Ungereimtheiten führte.
Weil es immer mehr ältere Menschen in unserer Gesellschaft gibt und diese im Falle einer Pflegebedürftigkeit nach Möglichkeit in ihrem häuslichen Bereich gepflegt werden möchten und dabei der Unterstützung ihrer Kinder und Ehepartner bedürfen, kann angenommen werden, dass die Ausgleichungspflicht auf Grund von Sonderleistungen nach §§ 2057 a, 2057 b BGB-E in Zukunft häufiger bei der Erbauseinandersetzung zu beachten sein wird.