VII. Versorgung der Allgemeinheit
§ 1 EnWG 98 bezweckte die sichere, preisgünstige und umweltverträgliche Energieversorgung „im Interesse der Allgemeinheit“. Die Orientierung des EnWG 98 am
Interesse der Allgemeinheit wurde als unsinnig kritisiert, da eine Versorgung im Interesse von Partikularinteressen, die sich von der Versorgung im Interesse der Allgemeinheit unterscheide, nicht denkbar sei. Denn Beeinträchtigungen der Umwelt und
der Versorgungssicherheit sowie ein hohes Preisniveau hätten immer Auswirkungen
auf die Gesellschaft als ganzes.50 Die aktuelle Fassung der Zweckbestimmung stellt
nicht mehr auf das Interesse der Allgemeinheit ab. Die Allgemeinheit wird nur noch
als Objekt genannt - als derjenige Marktteilnehmer, der versorgt werden muss. Von
der soeben dargestellten Kritik Büdenbenders ausgehend, kann angenommen werden, dass der Gesetzgeber die Doppelregelung erkannt hat und vermeiden wollte.
Der Gesetzgeber macht mit der Streichung des Begriffs Interesse deutlich, dass das
EnWG nicht im besonderen Maße am Allgemeininteresse auszulegen ist.
Fraglich ist, ob die Nennung der Allgemeinheit auch ein Ziel des Gesetzes ausdrückt. Es wird vertreten, die Erwähnung „(des Interesses) der Allgemeinheit“ habe
den Zweck, die besondere Branchenregulierung mit Art. 86 Abs. 2 EG „kompatibel
zu halten.“51 Art. 86 Abs. 2 EG erlaubt es, Unternehmen, die mit Dienstleistungen
im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse betraut sind, von den Wettbewerbsregelungen auszunehmen, soweit die Wettbewerbsregelungen die Wahrnehmung der
übertragenen Aufgabe behindern. Da die Vertragsvorschriften zum Wettbewerb
durchbrochen werden, ist die Vorschrift restriktiv auszulegen.52 Das gilt insbesondere bei der Feststellung, ob die Erfüllung der übertragenen Aufgabe verhindert würde.53
Die Tätigkeit der Energieversorgungsunternehmen im Rahmen des EnWG müsste
eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse sein. Die Stromversorgung ist grundsätzlich eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse.54 Es ist kein Grund ersichtlich, warum das gleiche nicht auch für die Gasversorgung gelten sollte. Elektrizitätsversorgungsunternehmen sind durch die allgemeine Anschluss- und Versorgungspflicht dem Allgemeinwohl verpflichtet.55 Weiterhin
können Enteignungen im Rahmen der Planung von Netztrassen wegen Art. 14 Abs.
3 S. 1 und 2 GG nur zum Wohle der Allgemeinheit vorgenommen werden.56 In diesen beschriebenen Fällen sind die Elektrizitätsversorgungsunternehmen tatsächlich
50 Büdenbender, EnWG 98, § 1 Rn. 49 f; Salje, EnWG, § 1 Rn. 17.
51 Salje, EnWG, § 1 Rn. 14.
52 Jung, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/EGV, Art. 86 Rn. 35; Stadler, in: Langen/Bunte, Europäisches Kartellrecht, Art. 86 Rn. 43.
53 Jung, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/EGV, Art. 86 Rn. 45.
54 EuGH, Rs. 393/92, Slg. 1994, I-1477, Rn. 47 ff. – Almelo/Energiebedrijf Ijsselmij; Rs.
C-159/94, Slg. 1997, I-5815, Rn. 57 – Kommission/Frankreich; Rs. C-158/94, Slg. 1997,
I-5789, Rn. 38 ff. - Kommission/Italien; Jung, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/EGV, Art. 86
Rn. 52; Stadler, in: Langen/Bunte, Europäisches Kartellrecht, Art. 86 Rn. 40.
55 Rojahn, Das neue Fachplanungsrecht für Energiefreileitungen, in: Burgi (Hg.), Planungssicherheit, S. 66, 72.
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zur Versorgung im Allgemeininteresse verpflichtet. Aber das EnWG regelt nicht nur
die allgemeine Versorgung, sondern zum Beispiel auch den Betrieb von Objektnetzen oder den Bau von Direktleitungen.57 Die notwendige Restriktion bei der Auslegung des Art. 86 Abs. 2 EG kann deshalb schwerlich die Annahme einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse für den gesamten Bereich der Energiewirtschaft begründen, sondern nur für die Bereiche, in denen öffentliche Aufgaben erfüllt werden.58 Welche Bereiche in den Anwendungsbereich des Art. 86 Abs. 2
EG fallen, vermag die allgemeine Formulierung „Versorgung der Allgemeinheit“ in
§ 1 Abs. 1 EnWG aber nicht zu klären. Ers kann somit nicht davon ausgegangen
werden, dass die Tätigkeit der Energieversorgungsunternehmen im Rahmen des
EnWG grundsätzlich eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse ist.
Ohnehin nennt § 1 Abs. 1 EnWG nicht mehr das Interesse der Allgemeinheit,
sondern nur noch die Allgemeinheit als Zielgruppe der Energieversorgung. Eine Interpretation, die dem Allgemeininteresse bei der Auslegung eigenständige Bedeutung zumisst, verkennt, dass die Bestimmung gerade um den Begriff des Interesses
reduziert worden ist.
Die partielle, wenn auch überwiegende, Allgemeinwohlorientiertheit der Energieversorgung kann damit nicht als generelles Ziel des EnWG im Sinne der Zielbestimmung des § 1 EnWG verstanden werden. Der Nennung der Allgemeinheit in § 1
Abs. 1 EnWG ist damit keine eigenständige rechtliche Bedeutung zuzumessen.59
VIII. Langfristiger, leistungsfähiger und zuverlässiger Netzbetrieb
Gemäß § 1 Abs. 2 EnWG dient die Regulierung der Netze auch einem langfristigen,
leistungsfähigen Netzbetrieb. Laut Gesetzesbegründung ist dies mit Versorgungssicherheit und Versorgungszuverlässigkeit gleichzusetzen. Versorgungssicherheit und
der Kontinuationsaspekt Versorgungszuverlässigkeit sind vom Begriff der Sicherheit der Stromversorgung umfasst. Mit Ausnahme des Aspekts der Anlagensicherheit wiederholt das Regulierungsziel somit das Sicherheitsziel.
56 In diesem Sinne und damit sehr eingeschränkt ist auch der GesE der BReg zum EnWG 98, BT-
Drucks 13/7274, S. 19 zu verstehen, wonach der Leitungsbau nicht nur der Versorgungssicherheit, sondern auch dem Wettbewerb dienen kann. Dazu Rojahn, Das neue Fachplanungsrecht
für Energiefreileitungen, in: Burgi (Hg.), Planungssicherheit, S. 66, 84 ff.
57 Salje, EnWG, § 1 Rn. 13.
58 So auch Jung, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/EGV, Art. 86 Rn. 34. An der Annahme einer Bereichsausnahme grundsätzlich zweifelnd: Stadler, in: Langen/Bunte, Europäisches Kartellrecht,
Art. 86 Rn. 42.
59 So auch: Theobald, in: Danner/Theobald, Energierecht, EnWG I B1 § 1 Rn. 11.
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References
Zusammenfassung
Das Werk befasst sich mit dem Gesetzesziel „Umweltverträglichkeit“ des Energiewirtschaftsgesetzes. Der Autor reduziert das Gesetzesziel auf eine Definition mit wenigen Kriterien. Ferner wird die Rechtsqualität von Ziel- und Zweckbestimmungen untersucht. Umwelteinwirkungen der Energieversorgung werden aufgezeigt – insbesondere in welchem Umfang Netztechnik, Struktur und Steuerung der Netze Auswirkungen auf die Umwelt haben. Umweltverträglicher Netzbetrieb bedeutet so beispielsweise die möglichst weitgehende Einbindung dezentraler Erzeuger und eine effiziente Abstimmung von Angebot und Nachfrage. Schließlich werden Beispiele gebildet, um zu zeigen, inwieweit „Umweltverträglichkeit“ in Abwägung mit den anderen Zielbestimmungen des EnWG Auswirkung bei der Auslegung des Energiewirtschaftsrechts haben kann. So wird unter anderem deutlich, dass „Netzausbau“ unter Berücksichtigung der Umweltverträglichkeit nicht nur den Bau neuer Leitungen, sondern auch das Überwachen der Temperatur der bestehenden Leitung bedeuten kann.