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stöße in Betracht zu ziehen. CDU/CSU und FDP wiederum wären mit ihren Forderungen letztendlich ebenfalls gescheitert, da die USA sich frühzeitig zu einem gewaltsamen Regimewechsel im Irak auch ohne VN-Mandat und ohne Abstimmung
mit den Bündnispartnern entschieden hatten. Trotz aller Differenzen herrschte Einvernehmen in der deutschen Innenpolitik, den Einsatz militärischer Gewalt nur in
Ausnahmesituationen als ein angemessenes Instrument der Nichtverbreitungspolitik
zu betrachten. Das Ziel blieb parteiübergreifend die Stärkung multilateraler Rüstungskontrollregime.
6.4.4 Perspektiven für die Nichtverbreitungspolitik nach dem Irak-Krieg
Zum transatlantischen Streit über die Kriegsvorbereitungen der USA gegen den Irak
wäre es vermutlich auch unter einer von CDU/CSU und FDP geführten Bundesregierung gekommen. In diesem Fall hätte sich die deutsche Außenpolitik jedoch nicht
so eindeutig und frühzeitig auf eine ablehnende Position festgelegt. Der Politikstil
des Bundeskanzlers, der die Irak-Politik unter weitgehender Umgehung des Auswärtigen Amtes zur Chefsache gemacht hatte,1231 die Instrumentalisierung des Streits vor
den Bundestagswahlen 2002 und die Sperrminorität einiger weniger Abgeordneter
von SPD und Bündnis90/Die Grünen im Deutschen Bundestag haben zur Verschärfung des Konflikts und zum Versagen des außenpolitischen Krisenmanagements
beigetragen.1232
Letztlich bedeutete die deutsche Irak-Politik 2002 und 2003 jedoch eine Fortsetzung jener Prinzipien und Grundmerkmale, welche die deutsche Nichtverbreitungspolitik bereits in den 1990er Jahren gekennzeichnet hatte.1233 Deutschland zeigte sich
in der Entwicklung der Nichtverbreitungspolitik der NATO im Allgemeinen und in
der Irak-Politik im Besonderen als ein Status quo-orientierter Akteur.1234 Im Bereich
der defensiven Aspekte von Counterproliferation im Bündnis war die deutsche Politik durch passive Anpassung gekennzeichnet. Sie trug diese Entwicklungen mit,
ohne sichtbar eigene Impulse zu setzen. Darüber hinaus blieb auch die Bereitstellung
entsprechender finanzieller Ressourcen innenpolitisch umstritten (Beispiel
MEADS). Der Aufnahme der offensiven Aspekte von Counterproliferation, bis hin
1231 Vgl. Gunter Hofmann in: Die Zeit (5/2003), Der lange Weg zum lauten Nein. „Auf der
Ebene der Akteure rückte der Kanzler in den Vordergrund; es war seine Festlegung, die die
Außen- und Europapolitik trieb, nur Schröder konnte auf Augenhöhe mit Chirac und Putin
agieren“, so auch die Bewertung von Josef Janning. Janning, Josef (2003), „Bundesrepublik
Deutschland,“ in: Weidenfeld, Werner und Wessels, Wolfgang (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 2002/2003, Bonn, Europa Union Verlag, S.327-34, hier: S.327.
1232 Vgl. Harnisch, Deutsche Sicherheitspolitik auf dem Prüfstand: Die Non-Proliferationspolitik gegenüber dem Irak, S.192.
1233 Vgl. Dalgaard-Nielsen, Gulf War, S.110; Müller, German National Identity and WMD
Proliferation. Vgl. auch Staack, Nein zur Hegemonialmacht, S.203.
1234 Vgl. Harnisch, Deutsche Sicherheitspolitik auf dem Prüfstand: Die Non-Proliferationspolitik gegenüber dem Irak, S.191.
316
zu präventiven Militärschlägen, in die Bündnisstrategie widersetzte sich Deutschland dagegen vehement und betrieb schließlich eine aktive Verhinderungspolitik in
der Frage einer direkten oder indirekten Beteiligung der NATO im Irak-Krieg.
Ein wesentlicher Faktor der deutschen Politik war die von den USA stark abweichende Sicherheitswahrnehmung, welche die Bundesrepublik mit anderen europäischen Verbündeten teilte. Dies galt nicht nur für den Irak, sondern für das sicherheitspolitische Risiko durch die Verbreitung atomarer, biologischer und chemischer
Waffen insgesamt. Auch in Europa herrschte seit dem Ende des Kalten Krieges die
Einschätzung vor, dass es sich dabei um ein ernstes sicherheitspolitisches Problem
handelt. Anders als in den USA wurde diese Herausforderung allerdings nicht als
eine Bedrohung gesehen, die sich durch entschlossenes politisches und militärisches
Handeln dauerhaft ausschließen lässt: „The more jaded Europeans deemed threats a
fact of life that could be only coped with and managed, but never totally eliminated.“1235
Die Bereitschaft der USA, die Verwundbarkeit gegenüber sicherheitspolitischen
Risiken zu akzeptieren, sank nach dem 11. September drastisch und vergrößerte
damit die Kluft zu den Bedrohungsperzeptionen der Europäer weiter.1236 Darüber
hinaus konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der deutschen und europäischen Sicherheitspolitik auf die Verbreitung gefährlicher Waffen und weniger auf die einzelnen Staaten, die ihren Besitz oder ihre Weitergabe anstrebten. Daher stießen die
amerikanisch geprägten Begriffe rogue states, states of concern oder axis-of-evil in
vielen europäischen Hauptstädten, darunter Berlin, auf Ablehnung.1237 In Deutschland wurde Proliferation stets als ein universelles politisches Problem betrachtet, zu
dessen Bearbeitung in erster Linie internationale politische Strategien benötigt wurden. Amerikanische Administrationen von George Bush Senior über Bill Clinton bis
George W. Bush sahen hingegen in politischem und militärischem Druck auf diese
Problemstaaten, darunter Iran, Irak, Libyen, Kuba, Nordkorea, Syrien und Sudan,
1235 Pond, Friendly Fire, S.62.
1236 Gordon unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen dem „historischen Pessimismus“
der Europäer, wonach ein Leben ohne Risiken und Bedrohungen nicht möglich sei, und
dem „historischen Optimismus“ der Amerikaner, der sich darüber hinaus mit einem Glauben an die technische Lösbarkeit politischer Probleme verbindet. Gordon, Iraq.
1237 Vgl. Müller, German National Identity and WMD Proliferation, S.5; Thränert, Oliver
(1999), „Introduction,“ in: ders. (Hrsg.), Preventing the Proliferation of weapons of mass
destruction: what role for arms control? A German-American Dialogue, Bonn u.a., Friedrich-Ebert-Stiftung, Analyseeinheit Internationale Politik, S.8. Während der Irak-Debatte
brachte der SPD-Außenpolitiker Gernot Erler diese Position zum Ausdruck: „[W]ir bestehen auf der Rückkehr zu dem politischen Ziel umfassender Abrüstung und Rüstungskontrolle aller Länder auf der Basis internationaler Verträge. Die Waffen selber sind die Gefahr, auch wenn sie in den Händen der guten Länder sind.“ Redebeitrag Erler in: Deutscher
Bundestag, Abgabe einer Regierungserklärung zur aktuellen internationalen Lage
(13.2.2003), S.1891. In dem Beitrag Erlers spiegelt sich auch die Status quo-Orientierung
der deutschen Irak-Politik deutlich wider: „Dieses Nein [der Bundesregierung gegen einen
Irak-Krieg] ist – im Gegenteil – ein Nein zu einer Veränderung der Werte und Regeln dieser Gemeinschaft, die ohne jeden Verständigungsprozeß durchgesetzt werden soll.“ Ebd..
317
eine zumindest ebenso wichtige Komponente der Nichtverbreitungspolitik. Das
militärische Druckmittel ist nach dem 11. September 2001 in den Vordergrund der
amerikanischen Politik gerückt.
Trotz ihrer Status quo-Orientierung hatte sich die deutsche Nichtverbreitungspolitik seit Beginn der 1990er Jahre durchaus auch den Veränderungen des internationalen Umfelds angepasst. Die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen blieb aus
deutscher Sicht überschaubar, solange sich die nationale und europäische Verteidigungspolitik beinahe ausschließlich mit regionalen Sicherheitsanforderungen beschäftigte.1238 Dies änderte sich mit der globaleren Ausrichtung der Atlantischen
Allianz, die auch die Bundeswehr unmittelbar betraf. Der Einsatz deutscher Soldaten
in einem MVW-Umfeld erscheint nun immer mehr im Bereich des Möglichen. Darüber hinaus hat der Irak-Krieg 2003 auch in der Bundesrepublik die Erkenntnis
wachsen lassen, dass der Durchsetzung der internationalen Nichtverbreitungsnormen
(enforcement) zukünftig ein höherer Stellenwert als in der Vergangenheit zukommen müsse. Diese Veränderungen in der deutschen Sichtweise lassen sich nach dem
Irak-Krieg exemplarisch in drei Bereichen identifizieren.
Erstens formulierte die Europäische Union mit aktiver deutscher Beteiligung das
Ziel einer deutlich profilierteren und auch robusteren Nichtverbreitungspolitik. Die
EU hat zu diesem Zweck im Dezember 2003 neben ihrer Europäischen Sicherheitsstrategie auch eine eigene Strategie zur Bekämpfung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen veröffentlicht, die ultima ratio auch den Einsatz militärischer
Gewalt gegen Normverletzer vorsieht. Gemeinsam mit Frankreich bestand die Bundesregierung allerdings auf der Festschreibung eines Mandats der Vereinten Nationen und auf der Völkerrechtskonformität aller Maßnahmen.1239
Zweitens beteiligte sich die Bundesregierung von Anfang an an der Proliferation
Security Initiative (PSI), die von der Bush-Administration am 31. Mai 2003 während
eines Besuchs des Präsidenten in Polen lanciert wurde. Im Kern handelt es sich
dabei um eine nicht-institutionalisierte Initiative außerhalb der bestehenden Regime
zur Unterbindung des Transports von MVW sowie relevanter Komponenten und
Trägersysteme über Land, See und auf dem Luftwege.1240 Die Bundesregierung beteiligte sich an der PSI trotz bestehender Unklarheiten über die völkerrechtlichen
1238 Vgl. Krömer, Massenvernichtungswaffen und die NATO, S.376.
1239 Rat der Europäischen Union (12.12.2003), Ein sicheres Europa in einer besseren Welt.
Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel; Rat der Europäischen Union (10.12.2003), EU
Strategy Against the Proliferation of Weapons of Mass Destruction, Brüssel. In dem Strategiepapier gegen MVW heißt es: „When [diplomatic preventive] measures have failed, coersive measures under Chapter VII of the UN-Charter and international law (sanctions, selective or global, interception of shipments and, as appropriate, the use of force) could be envisioned.“ Der Kern der Strategie betrifft die Stärkung multilateralen Vorgehens und
multilateraler Regime der internationalen Nichtverbreitungspolitik. Bemerkenswert an dem
Dokument ist, dass den Problemen der Verifikation und der Durchsetzung von Nichtverbreitungsnormen breiter Raum gegeben wird.
1240 US Departement of State/Bureau of Nonproliferation (ohne Datum), The Proliferation
Security Initiative, http://www.state.gov./t/np/rls/other/34726.htm,
(letzter Zugriff am 27.7.2006).
318
Grundlagen der vorgesehenen Maßnahmen, insbesondere bezüglich der Beschlagnahmung von Frachtladungen.1241 Die unmittelbare deutsche Beteiligung war bemerkenswert, weil die PSI nicht nur außerhalb der bestehenden Verträge stand, sondern
für Deutschland auch potentiell militärische Konsequenzen haben könnte.1242 Die
Bundesregierung knüpfte jedoch wesentliche Einschränkungen an ihre Beteiligung,
welche die militärischen Folgen der PSI aus deutscher Sicht stark reduzierten und
darüber hinaus die Konformität der amerikanischen Initiative mit deutschem und
internationalem Recht sicherstellen sollten.1243
Drittens zeigte sich der stärkere Stellenwert des Problems der Durchsetzung internationaler Nichtverbreitungsnormen und -regeln in der deutschen Politik gegen-
über dem Iran. Die Bundesrepublik hatte sich traditionell für einen kritischen Dialog
mit Teheran eingesetzt, der auf die freiwillige Kooperation Irans mit der Internationalen Atomenergiebehörde zur Überprüfung seines Atomprogramms setzte. Dies
änderte sich zunächst auch nicht, als 2002 bekannt wurde, dass Teheran im Verborgenen ein umfassendes Programm zur Konversion und Anreicherung von Uran realisiert hatte, das auch zur Herstellung von waffenfähigem Uran dienen konnte. Erst
nachdem die mehrjährigen Verhandlungen unter der Führung der EU-Troika aus
Deutschland, Frankreich und Großbritannien zu keiner Lösung führten, erklärte sich
Berlin dazu bereit, einen sanktionsbasierten Kurs im VN-Sicherheitsrat zu unterstützen.1244 Dahinter stand auch die Erfahrung aus der Irak-Krise, dass eine frühzeitig
ansetzende diplomatische Strategie, die sowohl politische und ökonomische Anreize, als auch glaubwürdige Sanktionsdrohungen einschließt, eine unkontrollierbare
Eskalation unter Umständen verhindern kann. Die Möglichkeit militärischer
1241 Dies betrifft in erster Linie den völkerrechtlichen Grundsatz der Freiheit der Meere, das
Recht auf ungehinderte Passage und die Seerechtskonvention. Vgl. Squassoni, Sharon
(2004), Proliferation Security Initiative (PSI), CRS Report for Congress, Washington D.C.,
Congressional Research Service.
1242 Dies betrifft beispielsweise den militärischen Auftrag, verdächtige Schiffe unter Anwendung von Zwang zu stoppen.
1243 Vgl. Thränert, Oliver (2007), „Rüstungskontrolle und Nichtverbreitungspolitik,“ in: Jäger,
Thomas; Höse, Alexander und Oppermann, Kai (Hrsg.), Deutsche Außenpolitik. Sicherheit,
Wohlfahrt, Institutionen und Normen, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften,
S.197-217, hier: S.214. Die Regierung erklärte, dass die PSI für Deutschland in erster Linie
die innerstaatliche Durchsetzung der einschlägigen Gesetze (Kriegswaffenkontrollgesetz,
Außenwirtschaftsgesetz, Strafprozessordnung) sowie die internationale Zusammenarbeit
der deutschen Behörden mit ausländischen Stellen bedeute. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass sich die Befugnisse der Bundeswehr durch die deutsche Beteiligung an der
PSI nicht ausweiten würden (Die „deutschen Streitkräfte haben regelmäßig keine Einsatzmöglichkeiten zum Anhalten und Durchsuchen von Schiffen.“) Schließlich bekräftigte die
Bundesregierung die bestehenden völkerrechtlichen Grundsätze. Deutscher Bundestag
(6.1.2004), Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr.
Werner Hoyer, Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP, Drucksache 15/2310, Berlin.
1244 Vgl. Müller, Germany and the Proliferation of Weapons of Mass Destruction, S.62.
319
Zwangsmaßnahmen gegen den Iran lehnte die Bundesregierung weiterhin strikt
ab.1245
Die deutsche Nichtverbreitungspolitik vollzog seit Anfang der 1990er Jahre eine
Kehrtwende von einer wirtschaftspolitisch motivierten Exportpolitik hin zu einer
aktiven Nichtverbreitungspolitik. Die Ereignisse vom 11. September 2001 und die
Irak-Krise 2002 und 2003 leiteten eine weitere Veränderung dahingehend ein, dass
nun auch der sanktionsbasierten Durchsetzung internationaler Nichtverbreitungsnormen mehr Beachtung geschenkt wurde. Dessen ungeachtet wurden militärische
Mittel weiterhin als ein in den meisten Fällen ungeeignetes Instrument zur Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen angesehen. Multilaterale
Rüstungskontrolle wurde parteiübergreifend als das wichtigste Instrument der Nonproliferationspolitik betrachtet.1246 Daraus folgt, dass aus deutscher Sicht die Funktion der NATO auch in Zukunft im Wesentlichen auf politische Konsultationen zwischen den Partnern in Nichtverbreitungsfragen sowie auf die Verbesserung des
Schutzes der Territorien, Bevölkerungen und Truppen der Allianzpartner beschränkt
bleiben wird. In diesen Zusammenhang passt auch, dass sich die Bundesregierung
auch unter der Großen Koalition seit 2005 dafür einsetzt, den Streit über die Stationierung der europäischen Komponenten des geplanten amerikanischen Raketenabwehrsystems im Bündnis und im Dialog mit Russland beizulegen.1247
Die Untersuchung hat keinen Anhaltspunkt dafür geliefert, dass es in dieser Hinsicht wesentliche Positionsunterschiede zwischen Bundeskanzleramt, Auswärtigem
Amt und Bundesverteidigungsministerium gab. Sofern sich die Bedrohungswahrnehmungen im Bündnis nicht abrupt verändern – etwa als Folge von Anschlägen mit
Massenvernichtungswaffen in Europa –, ist unwahrscheinlich, dass sich dieses deutsche Funktionsverständnis substantiell ändern wird. Unter den aktuellen Bedingungen ist insbesondere der präventive Einsatz militärischer Gewalt gegen Proliferationsrisiken weder in Berlin noch im Bündnis insgesamt konsensfähig.1248
1245 Für eine umfassende Darstellung der deutschen und europäischen Diplomatie im Konflikt
über das iranische Atomprogramm seit 2002 vgl. Linden, Ruth (2006), Die Initiative der
EU-3 im Iran. Ein Testfall für die europäische Sicherheitspolitik nach der Irak-Krise? Trier,
Lehrstuhl für Internationale Beziehungen/Außenpolitik, Universität Trier; Overhaus, Marco
(2006), „Der Atomkonflikt mit dem Iran. Testfall für Europas weltpolitische Ambitionen,“
in: Reader Sicherheitspolitik (9-10/06), S.241-56.
1246 Vgl. Thränert, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitungspolitik, S.200.
1247 FAZ (20.2.2007), Polen und Tschechen für Raketenabwehr; IHT (2.3.2007), Germany
suggests U.S. anti-missile program could be integrated into NATO.
1248 Vgl. Yost, David S. (2007), „NATO and the anticipatory use of force,“ in: International
Affairs 83(1), S.39-68, hier: S.56.
320
6.5 Transatlantisches Rapprochement nach dem Ende des Irak-Krieges
Der Bruch zwischen den USA und einem Teil Europas im Vorfeld des Irak-Krieges
belastete die Beziehungen der Bündnispartner nachhaltig. Er verstärkte auch die
bereits seit dem Kosovo-Krieg 1999 zu beobachtende Tendenz in der deutschen
Sicherheitspolitik, den traditionellen Vorrang der Allianz in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen zugunsten einer Stärkung der Europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik (ESVP) zu relativieren.1249 Dennoch bemühte sich die
Bundesregierung seit dem Sommer 2003 um eine Verbesserung der deutschamerikanischen Beziehungen sowie um eine Schadensbegrenzung innerhalb der
Allianz. Sie baute ihr politisches und militärisches Afghanistan-Engagement konsequent aus und setzte damit ihre aktive Politik nach dem 11. September 2001 fort.
Berlin verweigerte zwar weiterhin einen unmittelbaren deutschen Militärbeitrag im
Irak, nahm jedoch sichtbar eine konstruktivere Haltung in der Frage des Wiederaufbaus nach dem Krieg ein. Schließlich lancierten Bundeskanzler Schröder, Außenminister Fischer und Verteidigungsminister Struck 2004 und 2005 zusammenhängende
Initiativen, die zu einer Stärkung der politischen Dimension der Allianz beitragen
sollten.
6.5.1 Der Ausbau des deutschen Afghanistan-Engagements
Bereits während der ersten Planungen einer Schutztruppe für Afghanistan Ende
2001 hatte sich die Bundesregierung für eine stärkere Funktion der NATO ausgesprochen.1250 Dies scheiterte nach Auffassung deutscher Diplomaten in erster Linie
am Widerstand der USA, die Einschränkungen ihrer politischen und militärischen
Handlungsfähigkeit befürchteten.1251 Erst als die logistischen und politischen Probleme sowie die materiellen Kosten bei der langfristigen Führung von ad hoc-
Koalitionen im Wiederaufbauprozess immer deutlicher wurden, vollzog sich auch in
den USA ein Positionswandel. Während des informellen Treffens der NATO-
Verteidigungsminister in Warschau am 24. September 2002 kündigten Deutschland
und die Niederlande an, ab Februar des kommenden Jahres die Führung der ISAF zu
1249 Seit dem Herbst 2002 begannen Frankreich und Deutschland gemeinsam, die Entwicklung
der ESVP zu einer Verteidigungsunion im Rahmen des Europäischen Konvents zur Erarbeitung einer Europäischen Verfassung voranzutreiben. Vgl. hierzu Overhaus, Marco
(2006), „Civilian Power under Stress: Germany, NATO, and the European Security and
Defense Policy,“ in: Maull, Hanns W. (Hrsg.), Germany's Uncertain Power. Foreign Policy
of the Berlin Republic, Houndmills, Palgrave Macmillan, S.66-78; Overhaus, Marco
(2004), „In Search of a Post-Hegemonic Order: Germany, NATO and the European Security and Defense Policy,“ in: German Politics 13(4), S.551-68.
1250 Persönliches Interview.
1251 Vgl. SZ (15.5.2002), Außenminister-Treffen in Reykjavik. NATO bindet Russland stärker
ein.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.