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Die Theorie nimmt eine systemische „Vogelperspektive“ ein, d.h. sie beleuchtet
in erster Linie die Wirkung von internationalen Institutionen auf das außenpolitische
Verhalten der Akteure sowie die Frage, wie und wann internationale Institutionen
entstehen und sich wandeln. Die vorliegende Arbeit überträgt diesen Rahmen auf die
„Froschperspektive“ des Akteurs Bundesrepublik Deutschland. Daher wird in der
empirischen Analyse untersucht, wie sich der internationale Handlungskontext und
die bestehenden Interdependenzen aus Sicht der relevanten deutschen Akteure darstellten bzw. veränderten, welche funktionale Nachfrage nach institutioneller Kooperation daraus abgeleitet und schließlich in konkrete institutionelle Initiativen
übersetzt wurde.
3.1.3 Prämissen des funktionalen Institutionalismus
Ebenso wie der Neorealismus geht der Institutionalismus von der Anarchie in der
internationalen Staatenwelt aus. Diese führt dazu, dass bestehende Konflikte nicht
durch eine übergeordnete Instanz mit einem legitimen Gewaltmonopol bearbeitet
werden können. Den beiden Theorien liegt die Annahme zugrunde, dass Staaten
rational auf der Basis gegebener Interessen und Präferenzen handeln.155 Rationalismus wird dabei definiert als „a meta-theoretical tenet which portrays states as selfinterested, goal-seeking actors whose behavior can be accounted for in terms of the
maximization of individual utility (where the relevant individuals are states)”.156 Die
Mehrzahl der Arbeiten innerhalb dieser Forschungsrichtung geht darüber hinaus von
einer umfassenden Rationalität aus, die sowohl Zweck- wie auch Zielrationalität
einschließt. Demnach verfolgen Staaten ihre Ziele nicht nur rational „with the madorn, Helga und Keck, Otto (Hrsg.), Kooperation jenseits von Hegemonie und Bedrohung.
Sicherheitsinstitutionen in den internationalen Beziehungen, Baden-Baden, Nomos, S.101-
37; Theiler, Die NATO im Umbruch. Bündnisreform im Spannungsfeld konkurrierender
Nationalinteressen.
155 Außenpolitische Präferenzen können in der rationalistischen Sichtweise definiert werden
als „a set of underlying national objectives independent of any particular international negotiation to expand exports, to enhance security vis-a-vis a particular threat, or to realize
some ideational goal.” Moravcsik, Andrew (1998), The Choice for Europe. Social Purpose
& State Power from Messina to Maastricht, Ithaca, New York, Cornell University Press,
S.20.
156 Hasenclever, Andreas; Mayer, Peter und Rittberger, Volker (1997), Theories of International Regimes, Cambridge, Cambridge University Press, S.23. Zangl und Zürn definieren
rationales Handeln so, „dass soziale Akteure (a) über eine gegebene und wahrgenommene
Menge von Verhaltensoptionen verfügen, (b) die Konsequenzen der verschiedenen Verhaltensoptionen abschätzen, (c) die verschiedenen Verhaltensoptionen gemäß ihrer erwarteten
Konsequenzen in eine Reihenfolge der Wünschbarkeit bringen [und] (d) die Verhaltensoption wählen, die ihre Nutzenerwartung befriedigt.“ Zangl, Bernhard und Zürn, Michael
(1994), „Theorien des rationalen Handelns in den Internationalen Beziehungen,“ in: Kunz,
Volker und Druwe, Ulrich (Hrsg.), Rational Choice in der Politikwissenschaft. Grundlagen
und Anwendung, Opladen, Leske und Budrich, S.81-111, hier: S.81.
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ximum efficiency afforded by available political means“.157 Die Annahme der Zielrationalität setzt darüber hinaus die staatlichen Ziele a priori fest.158 Ihre Definition
verharrt jedoch in der Regel auf einem abstrakten Niveau. Sicherheit, Wohlfahrt und
Einfluss gehören dabei zu den zentralen, wenn auch sehr grundlegenden Zielen der
Staaten.
Ein zentraler Bestandteil der Rationalitätsannahme ist die Stabilität der Präferenzordnungen der Akteure über einen längeren Zeitraum. Rationalistische Theorien
im Allgemeinen und der funktionale Institutionalismus im Besonderen basieren
daher auf dem methodologischen Individualismus, der den Beitrag der Akteure zur
Schaffung und zum Wandel internationaler Institutionen und Strukturen in den Mittelpunkt rückt.159 Das bedeutet jedoch nicht, dass umgekehrt die Wirkung sozialer
Strukturen auf die Identitäten, Interessen und Strategien der Akteure grundsätzlich
negiert wird.160 Allerdings schließt der Institutionalismus diese Faktoren aus der
Analyse aus und geht somit von der Konstanz der Interessen und Identitäten während des Untersuchungszeitraums aus.
Die Frage danach, wer die relevanten Akteure sind, gehört für jede Theorie der
Internationalen Beziehungen und der Außenpolitikforschung zu den bestimmenden
Grundannahmen. Rationalistische Ansätze gehen in der Regel von einem staatszentrierten Verständnis aus.161 Dies gilt insbesondere für den Neorealismus, der Staaten
als black boxes betrachtet, deren innerstaatliche Ordnungen außenpolitisches Verhalten nicht oder nur marginal beeinflussen. Auch Institutionalisten betrachten Staaten
als die wesentlichen Handelnden in den internationalen Beziehungen, allerdings
keineswegs als die einzig relevanten.162 In dem Sinne, dass materielle Strukturen,
d.h. die Verteilung von Macht, Wohlfahrt und Einfluss, gegenüber moralischen
Faktoren, Werten und Normen im Vordergrund stehen, wurde der Materialismus
schließlich ebenfalls zu den Prämissen des funktionalen Institutionalismus gezählt.163
157 Moravcsik, The Choice for Europe, S.23.
158 Für eine detailliertere Diskussion der Unterscheidung zwischen Zweck- und Zielrationalität
vgl. Wagner, Wolfgang (2002), Die Konstruktion einer europäischen Außenpolitik. Deutsche, französische und britische Ansätze im Vergleich, Frankfurt am Main, Campus, S.109.
159 Vgl. Adler, Emanuel (1997), „Seizing the Middle Ground: Constructivism in World Politics,“ in: European Journal of International Relations 3(3), S.319-63, hier: S.351.
160 Der funktionale Institutionalismus basiert auf einem „dünnen“ Verständnis der Wirkung
internationaler Institutionen: „They are mostly confined to influencing the behavior and policies (preferences over strategies) of actors while the underlying interests (preferences over
outcomes) or identities remain outside [of the analysis] and are exogenized.“ Risse,
Constructivism and International Relations, S.605. Insgesamt, so eine Kernaussage der
Theorie, beeinflussen Staaten die Entstehung und den Wandel von Institutionen deutlich
stärker als das Institutionen umgekehrt eine konstitutive Wirkung auf staatliche Interessen
und Identitäten entfalten würden. Keohane, International Institutions and State Power, S.6.
161 Vgl. Baldwin, David A. (Hrsg.) (1993), Neorealism and Neoliberalism. The Contemporary
Debate, New York, Columbia University Press, S.13.
162 Vgl. Keohane, International Institutions and State Power, S.1; Keohane und Nye, Power
and Interdependence (3. Auflage), S.20-32.
163 Vgl. Schimmelfennig, Frank (2003), The EU, NATO and the Integration of Europe, Cambridge, Cambridge University Press, S.19.
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Diejenige theoretische Grundannahme, die im Zusammenhang mit der Fragestellung dieses Buches von besonderem Interesse ist, bezieht sich auf das instrumentelle
Verständnis staatlicher Politik gegenüber institutionalisierten Formen von Kooperation. Volker Rittberger fasst die Annahme instrumentellen staatlichen Verhaltens
wie folgt zusammen:
„Da das Verhalten von Staaten in der Regel durchaus eigennützig motiviert ist, muss davon
ausgegangen werden, dass sie für ihre Unterstützungsleistungen von den internationalen Organisationen eine Gegenleistung erwarten, dass sie also annehmen und auch danach streben,
durch Mitarbeit in Internationalen Organisationen ihre Interessen in der internationalen Politik
besser zu Geltung zu bringen.“164
Diese instrumentelle Sichtweise ergibt sich aus der Annahme rational und egoistisch handelnder Akteure, da „states are self-interested and turn to multilateralism
only if it serves their purposes, whatever those may be“.165 Aus dieser Perspektive
stehen verschiedene Institutionen, die aus staatlicher Sicht gleiche oder ähnliche
Funktionen erfüllen, in einem Konkurrenzverhältnis zueinander.166 Westliche Industriestaaten sind Mitglied in mehreren Institutionen, wobei sich der Nutzen multipler
Mitgliedschaften verstärkt, wenn die Institutionen gleichgerichtete Ziele verfolgen
bzw. ähnliche Funktionen erfüllen. Allerdings ist jede Mitgliedschaft in einer Institution stets auch mit Kosten verbunden. Neben den finanziellen Kosten und der
Begrenzung außenpolitischer Autonomie besteht im Zusammenhang mit Sicherheitsinstitutionen die Gefahr, in die Konflikte anderer Mitgliedstaaten hineingezogen zu werden (entrapment). Auch die Erfüllung von Vertragspflichten, wie die
Stationierung von eigenen Truppen im Ausland bzw. von ausländischen Truppen im
Inland, ist teilweise mit erheblichen Kosten verbunden.167 Auch für die deutsche
Sicherheitspolitik existieren verschiedene institutionelle Kontexte, die ähnliche oder
gleiche, sich teilweise überlappende, Aufgaben erfüllen. Mit anderen Worten: Die
NATO konkurriert mit anderen Institutionen unter den Bedingungen begrenzter
Ressourcen um die Gunst ihrer Mitgliedstaaten und damit auch um die Gunst der
deutschen Sicherheitspolitik.
Informationen haben in der institutionalistischen Theorie einen zentralen Stellenwert. Institutionalisten gehen davon aus, dass die Erhebung und Verteilung dieser
Informationen der Schlüssel zur dauerhaften Kooperation in der internationalen
Politik ist.168 Institutionen sind es, die Informationen erheben und sie den Mitglie-
164 Rittberger, Internationale Organisationen - Politik und Geschichte, S.104.
165 Martin, Lisa (1992), „Interests, power, and multilateralism,“ in: International Organization
46(4), S.765-92, hier: S.767.
166 Hall und Taylor, Political Science and the Three New Institutionalisms, S.13.
167 Vgl. Duffield, NATO's Functions After the Cold War, S.764-65.
168 Vgl. Keohane, Robert O. und Martin, Lisa L. (2003), „Institutional Theory as a Research
Program,“ in: Elman, Colin und Elman, Miriam Fendius (Hrsg.), Progress in International
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dern zur Verfügung stellen. Daraus ergibt sich der zentrale Stellenwert von gegenseitigen Konsultationen im Rahmen internationaler Regelwerke und Organisationen.
Schließlich haben Institutionalisten eine sehr spezifische Sichtweise auf das Verhältnis von Macht und Interessen bzw. die Bedeutung materieller Machtasymmetrien für die Stabilität institutionalisierter Kooperation. Anders als etwa Neorealisten gehen Institutionalisten davon aus, dass Institutionen auch dann stabil bleiben können, wenn sich die zugrunde liegenden Interessenstrukturen und Machtverteilungen zwischen den Staaten verändern. Institutionalisierte Zusammenarbeit fördert auch in diesem Sinne die Stabilität des internationalen Systems.
3.1.4 Allgemeine und spezifische Funktionen internationaler
(Sicherheits-) Institutionen
Die geschilderten Merkmale und Prämissen der institutionalistischen Theorie erscheinen vor allem im Bereich der politischen Ökonomie plausibel, besonders dann,
wenn es um die Beziehungen der industrialisierten Staaten im OECD-Raum geht. So
wurde argumentiert, dass sich die Plausibilität der Aussagen des Institutionalismus
auf den Bereich der Ökonomie beschränke, während den internationalen Sicherheitsbeziehungen eine andere Logik zugrunde liege.169 Aus dieser Perspektive wird
Sicherheit als ein besonders sensibles Herrschaftsfeld angesehen, welches sich in
seiner Bedeutung von anderen Sachbereichen abhebt (high politics). Ein Verlust im
Bereich der Wirtschaft bedeutet in der Regel weniger Profit und ggf. verlorene Exportchancen. Ein Verlust in der Sicherheitspolitik kann im Extremfall die eigene
physische Vernichtung bedeuten.170
Demgegenüber haben Helga Haftendorn, Otto Keck und ihre Koautoren argumentiert, dass Staaten auch im sicherheitspolitischen Bereich institutionell kooperieren, um sich einerseits besser vor äußeren Risiken und Bedrohungen schützen zu
können.171 In diesem Zusammenhang hat die NATO bereits während der Zeit des
Kalten Krieges eine Reihe von Funktionen erfüllt, die über die Zusammenlegung der
Relations Theory. Appraising the Field, Cambridge und London, MIT Press, S.71-107,
hier: S.73.
169 Vgl. beispielsweise Jervis, Robert (1999), „Realism, Neoliberalism, and Cooperation.
Understanding the Debate,“ in: International Security 24(1), S.42-63, hier: S.45.
170 Vgl. Grieco, Joseph M. (1988), „Anarchy and the Limits of Cooperation: A Realist Critique
of the Newest Liberal Institutionalism,“ in: International Organization 42(3), S.485-508.
Vgl. auch Hasenclever; Mayer und Rittberger, Theories of International Regimes, S.59-68.
Ähnlich argumentiert Lipson, dass institutionalisierte Formen der Kooperation in wirtschaftspolitischen Bereichen leichter zu erreichen und auch aufrecht zu erhalten seien, als
im Bereich militärischer Sicherheitspolitik. Lipson, Charles (1984), „International Cooperation in Economic and Security Affairs,“ in: World Politics 37(1), S.1-23.
171 Haftendorn, Helga und Keck, Otto (Hrsg.) (1997), Kooperation jenseits von Hegemonie
und Bedrohung, Baden-Baden, Nomos sowie Haftendorn, Helga; Keohane, Robert und
Wallander, Celeste (Hrsg.) (1999), Imperfect Unions - Security Institutions over Time and
Space, Oxford, Oxford University Press.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.