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Vorwort
Die Aktualität des Forschungsthemas und die Relevanz der in dieser Arbeit vorgelegten Untersuchungsergebnisse für Rechtstheorie und Rechtspraxis machen darauf aufmerksam, dass die rechtswissenschaftliche Forschung von einer Öffnung gegenüber
interdisziplinären Fragestellungen und methodischen Vorgehensweisen pro? tieren
kann. Ein rein rechtsdogmatisches Re? ektieren, das sich auf die Beantwortung von
Fragestellungen konzentriert, die aus der Anwendung einer spezi? schen Rechtsordnung resultieren, hat Schwierigkeiten, die Interdependenz von Recht und Kultur – von
normativer Zielvorgabe und sozialer Wirklichkeit – zu erfassen. Die Kulturalität von
Recht, die Kulturbedingtheit des Rechtsanwendenden und des von der Rechtsanwendung Betroffenen sind Dimensionen, die sich einem rein rechtsdogmatischen Zugang
schon deshalb verschließen, weil sie keine „Kategorien“ des geschriebenen Rechts
sind.
Setzt das Gelingen von Rechtsschutz auch eine möglichst genaue Kenntnis der Beschaffenheit der sozialen Wirklichkeit voraus, in der sich der Rechtsschutz abspielt, so
konkretisiert die (Rechts-)Ethnologie, in welcher Gestalt der pluralistische kulturelle
Kontext des Menschen und die kulturell diverse Beschaffenheit gegenwärtiger Gesellschaften zur Herausforderung für Rechtstheorie und Rechtspraxis werden. Möglichkeiten und Grenzen einer Rechtseffektivierung sind, derart betrachtet, untrennbar verbunden mit einem Re? ektieren über Möglichkeiten und Grenzen von Interdisziplinarität – vermag doch erst die disziplinäre Außenperspektive auf das Recht, jene
außerhalb des geschriebenen Gesetzestextes liegenden Hindernisse zu erkennen und
zu benennen, die einer Effektivierung der Rechtspraxis und letztlich auch des (Menschen-)Rechtsschutzes im Wege stehen könnten. Die Wahl eines derartigen Forschungsansatzes wurde durch Ideen und Thesen der angloamerikanischen „Law and
Society“-Forschung („socio-legal studies“) angeregt. Beansprucht die Arbeit, sozialwissenschaftliche Außenperspektive und völkerrechtswissenschaftliche Innenperspektive gegenüberzustellen und die unterschiedlichen Blickwinkel in dieser Gegenüberstellung wechselseitig zu „schärfen“ und zu komplettieren, so ist dieser disziplinäre
Austausch Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung.
Mein herzlicher Dank gilt meinen französisch-deutschen „Doktoreltern“, Frau Prof.
Dr. Constance Grewe von der Université de Strasbourg und Herrn Prof. Dr. Markus
Kotzur von der Universität Leipzig. Ihre fachliche und persönliche Betreuung, der intensive Gedankenaustausch und die wissenschaftliche Begleitung hätten nicht anregender und zielführender sein können. Neben der Interdisziplinarität der Arbeit hat
auch ihre Internationalität meinen Doktoreltern unter anderem im Rahmen des Abschlusses der „Convention de cotutelle de thèse“ zwischen der Université Robert
Schuman und der Universität Leipzig sowie bei der Organisation der internationalen
Promotionsprüfung in Leipzig große organisatorische Mühen abverlangt, für die ich
mich bedanken möchte.
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Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Christian Giordano vom Seminar für Sozialanthropologie der Universität Fribourg in der Schweiz für seine freundliche Bereitschaft, den ethnologischen Teil der Arbeit zu betreuen und als Prüfer an
der Promotionsprüfung in Leipzig teilzunehmen. Die Gelegenheit, mit ihm die sozialwissenschaftlich relevanten Schlussfolgerungen der Arbeit zu diskutieren, war bereichernd, hat mein Verständnis für ethnologische Fragestellungen vertieft und den Fortgang der Arbeit sehr gefördert. Herrn Prof. Dr. Dominique Breillat von der Université
de Poitiers und Herrn Prof. Dr. Helmut Goerlich von der Universität Leipzig danke ich
für die rasche Anfertigung der Zweitgutachten und ihre mit erheblichem Aufwand verbundene Mitwirkung an der Leipziger Promotionsprüfung.
Während der Vorbereitung der vorliegenden Arbeit war ich Mitglied des Jahrgangs
„Marco Polo“ des „European Doctoral College“ der Straßburger Universitäten und
habe aus den besonderen Formen der Unterstützung und aus den wöchentlichen Vorlesungen internationaler Fachkräfte zu europäischen Themen einen großen Gewinn
ziehen können. Für das während der Anfertigung der Arbeit gewährte großzügige Promotionsstipendium des Europäischen Doktorandenkollegs bedanke ich mich ebenso
sehr wie für das Promotionsstipendium des DAAD und für die vollständige Finanzierung der durch den binationalen Charakter der Dissertation angefallenen Reisekosten
durch die Deutsch-Französischen Hochschule. Zwei in den Jahren 2006 und 2007 abgeleistete mehrmonatige Studienbesuche am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gaben mir Gelegenheit, die Praxisnähe der Themenstellung mit Richtern und
Mitarbeitern der Kanzlei umfassend zu diskutieren und von der guten Ausstattung der
Bibliothek des Gerichtshofs zu pro? tieren. Auch hierfür sei herzlich gedankt. Über die
Auszeichnung der Arbeit mit dem Dissertationspreis der Dr. Feldbausch-Stiftung habe
ich mich sehr gefreut.
Von ganzem Herzen danke ich meinen Eltern, meiner Schwester Felicitas und meinem Bruder Sebastian für ihre Großzügigkeit und Unterstützung.
Patricia Wiater
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Zusammenfassung
Der Kulturpluralismus, der gegenwärtige Gesellschaften prägt, stellt Staat, Individuum und EGMR vor Herausforderungen: Der Staat ist angehalten, das Spannungsfeld, das bisweilen zwischen staatlichem Recht und den Verhaltenspostulaten soziokultureller Normativität (Beispiel muslimisches Kopftuch) besteht, in seinem Rechtssystem zu lösen – ohne allein der ethnischen oder sozialen Mehrheit gerecht zu werden. Das Individuum befindet sich bei einem Widerspruch zwischen staatlichem Recht und „seiner Kultur“ in einem „Kulturkonflikt“, der notwendigerweise die Verletzung einer der anwendbaren Handlungsnormen – staatlicher oder nicht-staatlicher Art – bedingt. Der EGMR ist in derartigen Fällen herausgefordert, über den Konventionsschutz von Antragstellern zu entscheiden, deren Kulturwerte und -praktiken auf nationaler Ebene Restriktionen ausgesetzt sind.
Die Untersuchung zeigt systematisch verschiedene Formen kulturpluralistischer Konflikte nationaler und internationaler Natur auf. Sie erarbeitet, auf welche methodische Art und Weise der EGMR durch die Anwendung der EMRK eine „europäische Kulturordnung“ schafft, die das Zusammenspiel von staatlichem Recht und pluralistischer gesellschaftlicher Kultur auf nationaler Ebene prägt.