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Teil 2: Der Anwendungsbereich des § 651 S. 1 BGB
Kapitel 1: Grundlagen
Gegenstand dieses den Schwerpunkt der Arbeit bildenden Kapitels sind die Grundlagen, die für die Zuordnung eines Sachverhalts zum Anwendungsbereich des § 651
S. 1 maßgebend sind. Es sollen allgemeingültige Regeln für die Feststellung der
Anwendbarkeit des § 651 S. 1 entwickelt werden.
Ausgespart werden in diesem Kapitel vier besonders problematische Fallgruppen, da diese ohne die vorherige Entwicklung allgemeiner Zuordnungsgrundsätze
nicht sinnvoll erörtert werden können. Sie werden in den Folgekapiteln besprochen.173
A) § 651 S. 1 BGB im System der Schuldvertragstypen
I. § 651 S. 1 BGB als Normstrukturtypus und die daraus folgende Anwendbarkeit
der allgemeinen Einordnungsregeln
Ob eine bestimmte Norm auf einen Sachverhalt Anwendung findet, bestimmt sich
nach allgemeinen Regeln. Dies gilt auch für die Grundnormen der Vertragstypen im
Besonderen Schuldrecht wie z.B. § 433 oder § 611. Hierfür existieren bekanntlich
allgemeine Regeln, die insbesondere die Einordnung sog. gemischter Verträge und
die Abgrenzung der Vertragstypen untereinander betreffen.
Dies führt zu der Frage, ob § 651 S. 1 einen eigenen Schuldvertragstypus normiert und wie sich dieser gegebenenfalls zu den anderen Schuldvertragstypen verhält. Sollte § 651 S. 1 nämlich einen eigenen Vertragstypus normieren, so wäre die
Anwendbarkeit der allgemeinen Einordnungsregeln, auf deren Einzelheiten an dieser Stelle noch nicht eingegangen werden muss174, die Folge.
Die Aufgaben der Vertragstypen des Besonderen Schuldvertragsrechts des BGB
lassen sich in kurzer Form wie folgt beschreiben: Die vom Gesetzgeber »geschaffenen« Typen (Normstrukturtypen) erklären zum einen, unter welchen Voraussetzun-
173 Vgl. Kap. 2 (Schiffsbauverträge); Kap. 3 (Lieferungsverträge mit Montageverpflichtung; Kap. 4
(Verträge über die Erstellung geistiger Werke); Kap. 5 (Softwareerstellungsverträge).
174 Vgl. dazu Kap. 3, B).
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gen typischerweise175 der normierte Vertragstyp (z.B. Kaufvertrag) vorliegt und
regeln zum anderen, dass auf solche Verträge grundsätzlich ein bestimmtes Typenvertragsrecht (z.B. Kaufrecht) Anwendung findet.176 Die §§ 433, 611, 631 usw.
sind daher eigentlich wie folgt zu lesen:
(1) Verpflichten sich die Parteien vertraglich zu dem hier beschriebenen Verhalten (z.B. Übergabe und Übereignung einer Sache im Austausch gegen einen
bestimmten Geldbetrag), so liegt, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten (z.B.
anderstypische Elemente, die zur Anwendung der Lehre von den typengemischten
Verträgen führen) ein Vertrag des hier bezeichneten Typus (z.B. Kaufvertrag) vor.
(2) Wenn ein Vertrag des hier bezeichneten Typus vorliegt, dann finden grundsätzlich die folgenden Vorschriften Anwendung (z.B. Kaufrecht).
Der Wortlaut des § 651 S. 1 weicht zwar von dem typischen Wortlaut der Normstrukturtypen ab, insbesondere folgt kein »eigenes« Typenvertragsrecht. Die Norm
besagt aber, dass bei der Verpflichtung zu einem bestimmten Verhalten ein
bestimmtes Typenvertragsrecht Anwendung findet. Damit erfüllt die Vorschrift alle
Merkmale eines Normstrukturtypus. Dass § 651 S. 1 dabei nicht auf ein eigenes
Typenvertragsrecht verweist, sondern auf das des Kaufs, kann letztlich keine Rolle
spielen.177
Eine Besonderheit ergibt sich aber aus der Verknüpfung mit dem Kaufrecht und
dem Werkvertragsrecht. § 651 S. 1 bildet keine Kategorie, die wie beispielsweise
der Mietvertrag neben den Kauf- und Werkverträgen steht. Vielmehr gehören die
erfassten Verträge gleichzeitig dem breiten Spektrum der Kauf- und Werkverträge
an.
Dieses Spektrum kann man als »Obertypus« der Kauf- und Werkverträge
bezeichnen. § 651 erfasst also mit anderen Worten eine Teilmenge aus dem Bereich
der diesem Obertypus unterfallenden Verträge, wobei die typischen Merkmale dieser Teilmenge die Tatbestandsmerkmale des § 651 S. 1 sind.
Ausgeschlossen sind damit alle Dienstverträge, obwohl der Wortlaut des § 651 S. 1 z.B.
bei Arbeitnehmern im produzierenden Handwerk auch »passt«. Auf Einzelheiten der
Abgrenzung kann hier nicht eingegangen werden. Es geht hier letztlich um die Fortsetzung der aus dem bisherigen Recht bekannten Abgrenzungsproblematik zwischen Werkund Dienstverträgen in neuem Gewande.
Obwohl § 651 S. 1 einen Ausschnitt aus dem Bereich des Obertypus der Kaufund Werkverträge erfasst, normiert er aber dennoch einen eigenständigen Typus.
Dies ergibt sich daraus, dass eben nur eine Teilmenge aus dem Obertypus der Kaufund Werkverträge erfasst wird, welche von den übrigen Sachverhalten, die dem
Obertypus unterfallen, zu unterscheiden ist.
175 Zur Unterscheidung zwischen Typus und Begriff vgl. Oechsler SchR BT Rn. 15.
176 Larenz SchR II/1, S. 3 f.
177 So i. Erg. auch Vorwerk BauR 2003, 1; Schuhmann JZ 2008, 115, 117.
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Insbesondere dies bedingt, dass für diese Unterscheidung Regeln gelten müssen.
Da § 651 S. 1 einen eigenen Typus normiert, ist davon auszugehen, dass es sich bei
diesen Regeln um die allgemeinen Lehren der Typenzuordnung und damit auch der
Einordnung von gemischten Verträgen handelt.
Ohne diese Regeln im Grundsatz zu modifizieren, überlagert allerdings die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie im Wege der richtlinienkonformen Auslegung und der
einheitlichen Auslegung178 die Zuordnung zum Anwendungsbereich des § 651 S. 1.
Dies äußert sich dadurch, dass der Anwendungsbereich des Art. 1 Abs. 4 VerbrG-
KRL autonom zu bestimmen ist. Praktisch bleiben die Auswirkungen insoweit aber
gering: Von Art. 1 Abs. 4 VerbrGKRL werden Verträge »über« die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender Verbrauchsgüter erfasst, was nichts anderes
bedeutet, dass sich der Vertrag auf entsprechende Pflichten richten muss. Wann dies
i.S. der Richtlinie der Fall ist, richtet sich zwar nicht nach den in Deutschland geltenden Einordnungsregeln. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass die entsprechenden Grundsätze den deutschen Grundsätzen im Wesentlichen entsprechen.
Im UN-Kaufrecht, dem Vorbild der Richtlinie, wird der Anwendungsbereich jedenfalls nach ganz ähnlichen Regeln bestimmt.179 Praktisch äußert sich diese Überlagerung dadurch, dass der Anwendungsbereich des § 651 S. 1 im Einzelfall eines
gemischten Vertrages möglicherweise weitergehender sein kann, als man dies bei
einer isolierten Anwendung der nationalen Einordnungsgrundsätze annehmen
würde.
II. Konsequenzen für die Behandlung von gemischten Verträgen mit §-651-BGB-
Elementen und »normalen« Kauf- und Werkvertragselementen
Besondere Relevanz hat die Konzeption des § 651 S. 1 als Normstrukturtypus und
die damit einhergehende grundsätzliche Geltung der allgemeinen Einordnungsgrundsätze für die Abgrenzung des eigenständigen Typus des § 651 S. 1 von der
Restmenge des Obertypus der Werk- und Kaufverträge und für die Beurteilung von
gemischten Verträgen, die aus §-651-Komponenten und »normalen« Kauf- oder
Werkvertragskomponenten zusammengesetzt sind. Hier stellt sich im Gegensatz
zum bisherigen Recht eine neue, nicht unproblematische Aufgabe. Bei einer Berührung zum Kauf ist diese zwar wegen der Rechtsfolge des § 651 S. 1 entschärft – erst
bei der Frage der Anwendbarkeit des § 651 S. 3 kann es hier zu Schwierigkeiten
kommen.180 Gravierende Probleme ergeben sich aber bei der Berührung zum »normalen« Werkvertrag. Dies liegt daran, dass Verträge i.S.d. § 651 S. 1, insbesondere
178 Vgl. dazu Teil 1, A) und B).
179 Vgl. Staudinger/Magnus Art. 3 CISG Rn. 30 m.w.N.
180 Vgl. dazu C) V. (Lieferungsverträge mit Änderungsverpflichtung; Abgrenzung zum Kauf unvertretbarer Sachen).
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wenn sie die Herstellung unvertretbarer Sachen betreffen, den »normalen« Werkverträgen sehr nahe stehen können. Deutlich wird dies sofort, wenn man sich § 651
S. 1 hinweg denkt oder wenn man einen Vergleich mit der bisherigen Rechtslage
zieht; man würde dann auf viele Fälle § 631 anwenden. Ein Vertrag i.S.d. § 651 S. 1
kann mit anderen Worten bereits selbst viele Elemente haben, die werktypisch i.S.d.
§ 631 sind. Tritt nun eine solche Vertragskomponente mit werktypischen Komponenten in Verbindung, die bei isolierter Betrachtung nicht § 651 S. 1 unterfallen, so
müssen die einzelnen Komponenten voneinander abgegrenzt werden und verhalten
sich dann untereinander trotz ihrer typologischen Gleichartigkeit wie verschiedentypische Elemente. Das verkompliziert insbesondere die Einordnung von Montagelieferungsverträgen.181
B) Der Begriff der beweglichen Sache
Herstellungs- bzw. Erzeugungsergebnis und Lieferungsgegenstand muss eine
bewegliche Sache sein.
Der Begriff der beweglichen Sache stellt eine Umsetzung des Begriffs des Verbrauchsguts in Art. 1 Abs. 4 VerbrGKRL dar. Dieser Begriff wird in Art. 1 Abs. 2
lit. b) VerbrGKRL legaldefiniert. Demnach sind Verbrauchsgüter bewegliche körperliche Gegenstände (objet mobilier corporel, tangible movable item) mit Ausnahme von fließendem Gas, Wasser und Strom sowie mit Ausnahme von Gegenständen, die aufgrund von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen oder anderen gerichtlichen Maßnahmen verkauft werden. Anstatt diese Definition in § 651 S. 1 zu übernehmen, setzte der Gesetzgeber den Begriffsteil »körperlicher Gegenstand« durch
einen Rückgriff auf den Begriff »Sache« und damit auf die Legaldefinition des § 90
um.
Der Begriff der beweglichen Sache ist ein zusammengesetzter Rechtsbegriff für
die Prüfung der tatbestandlichen Erfassung eines Rechtsobjekts. Dies macht es notwendig, den Begriff der beweglichen Sache zunächst in seiner Eigenschaft als
zusammengesetzter Rechtsbegriff zu beleuchten. Daraufhin können die beiden
Begriffsbestandteile hinsichtlich ihrer weiteren Merkmale untersucht werden.
Abschließend wird zur Erfassung unvertretbarer Sachen Stellung zu nehmen sein.
181 Dazu Kap. 3.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
§ 651 BGB ist durch die Schuldrechtsreform grundlegend verändert worden. Während zuvor für die Anwendbarkeit des Kaufrechts letztlich entscheidend war, ob der Vertrag im Schwerpunkt kauftypisch ist, scheint nunmehr nur maßgeblich zu sein, ob eine bewegliche Sache zu liefern ist, selbst wenn sie nach individuellen Vorgaben herzustellen ist. Diese Abgrenzung wird vielfach als unbefriedigend empfunden, gerade weil sie nicht typologisch, sondern nur anhand von (nur scheinbar einfach zu bestimmenden) Äußerlichkeiten erfolgt. Der Autor untersucht zum einen den Anwendungsbereich der neuen Norm. Die Probleme liegen hier u.a. im Baurecht, bei komplexen Maschinen (Anlagenbau) und bei der Abgrenzung zu geistigen Leistungen. Problematisch sind wegen Bezügen zum Sachenrecht auch Fälle, bei denen der maßgebliche Stoffanteil vom Besteller gestellt wird. Zum anderen untersucht der Autor die z.T. praktisch sehr gravierenden Rechtsfolgen und inwiefern vertragliche Abweichungen möglich sind. Dabei legt er vor dem europäischen Hintergrund (Verbrauchsgüterkaufrichtlinie) dar, welche methodischen Grenzen einer restriktiven Auslegung gesetzt sind. Das Werk ist damit zugleich ein wichtiger Beitrag zur Dogmatik der (überschießenden) Richtlinienumsetzung.