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Instrumentarien insofern eine ausreichende Schutzwirkung gewährleisten. Die Gläubiger haben kein schützenwertes Interesse daran, dass die Gesellschaft ungebundenes Vermögen, das aus erwirtschafteten Gewinnen herrührt und das sie in Form
einer Dividende an die Aktionäre ausschütten könnte, nicht auch als Kaufpreis für
einen Aktienrückerwerb aufbringen dürfte, selbst wenn hierdurch das Volumen an
eigenen Aktien 10 oder auch 20 oder 25 % überschreitet. Und auch aus Sicht der
Aktionäre erscheint eine Überschreitung der 10 %-Bestandsgrenze für eigene Aktien
unbedenklich1184, denn auf Basis des geltenden Rechts haben alle Aktionäre die
gleiche Möglichkeit, an dem (prämierten oder nicht prämierten) Rückkauf teilzunehmen und hierdurch ihre mitgliedschaftliche Vermögensposition zu wahren.
4.) (Zwischen-) Ergebnis
Aus den dargelegten Gründen spricht aus Sicht des Gläubiger- und individuellen
Aktionärsschutzes nichts gegen eine Ausnutzung der Freiräume, die die Richtlinie
2006/68/EG in Bezug auf die 10 %-Bestandsgrenze für eigene Aktien (§ 71 II 1
AktG) und die Ermächtigungshöchstdauer von 18 Monaten (§ 71 I Nr. 8 AktG)
gewährt. Die aktuellen Beschränkungen erscheinen unnötig restriktiv, da die Interessen von Aktionären und Gläubigern durch andere Schutzmechanismen des Aktienrechts angemessen geschützt werden.
D) Rechtspolitische Bewertung: Erwerb eigener Aktien und Funktionsfähigkeit des
Kapitalmarktes
I.) Exkurs: Verhältnis des Kapitalmarktrechts zum Gesellschaftsrecht
Da der Kapitalmarkt kein von anderen Märkten abgeschotteter Markt ist und zudem
diverse Rechtsbestimmungen, die nicht unmittelbar auf den Kapitalmarkt abzielen,
dessen Rahmenbedingungen beeinflussen1185, ist das Kapitalmarktrecht als ein dynamisches Rechtsgebiet zu begreifen. Regelungszweck ist die Gewährleistung der
Funktionsfähigkeit und Effizienz der Kapitalmärkte (sog. Funktionenschutz) sowie
des Anlegerschutzes1186, wobei heutzutage der Funktionenschutz als Hauptaufgabe
betrachtet wird1187. Dabei gilt es insbesondere, das Vertrauen der Anleger in die gute
und manipulationsfreie Ordnung der Kapitalmärkte zu gewährleisten1188.
1184 Gleiches gilt für die 10 %-Erwerbsgrenze in § 71 I Nr. 8 AktG.
1185 Vgl. dazu etwa Assmann, in: Assmann/Schütze, § 1 Rn. 3; Lenenbach, Rn. 1.3. Insoweit sind
beispielsweise das allgemeine Zivil-, das Handels- und das Wettbewerbsrecht zu nennen.
1186 Merkt/Rossbach, JuS 2003, 217, 220; Hopt, ZHR 141 (1977), 389, 429, 431; Lenenbach, Rn.
1.3.; Kümpel, Bank- und Kapitalmarktrecht, Rn. 8.388.
1187 Lenenbach, Rn. 1.38; Kümpel, Rn. 8.389. Der Anlegerschutz wird dabei verbreitet lediglich
i.S.e. Individualschutzes verstanden, der insbesondere die Gewährung von Informations- und
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Das Kapitalmarktrecht nimmt somit zumindest im Ausgangspunkt eine grundlegend andere Perspektive ein als das Gesellschaftsrecht: Während das Gesellschaftsrecht traditionell als Verbandsrecht verstanden wird, das jeweils rechtsformbezogen
die Individualinteressen in der privaten Vereinigungen regelt1189, bezweckt das Kapitalmarktrecht das Funktionieren des Marktes1190 und ist angesichts dieser Funktionsbezogenheit in seiner Grundausrichtung rechtsformübergreifend1191.
Und dennoch bestehen trotz dieser grundsystematischen Unterschiede (tatsächliche) Überschneidungen zwischen beiden Rechtsgebieten. Auf der einen Seite unterliegt die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes dem Einfluss der institutionellen
Rahmenbedingungen, die durch das Verbandsrecht vorgegeben werden. So stellt erst
das Gesellschaftsrecht das Produkt her, das auf dem Kapitalmarkt gehandelt wird,
indem es der Gesellschaftsbeteiligung seine rechtliche Gestalt verleiht1192. Zudem
dienen eine Reihe verbandsorganisationsrechtlicher Normen faktisch auch dem
Anlegerschutz und verwirklichen somit in der innergesellschaftlichen Sphäre kapitalmarktrechtliche Ziele. Auf der anderen Seite haben auch kapitalmarktrechtliche
Verhaltenspflichten vielfach Einfluss auf gesellschaftsinterne Strukturen und Abläufe1193. Der vom Aktienrecht ausgehende Schutz von Individualinteressen innerhalb
der Vereinigung wird auf diese Weise von kapitalmarktrechtlichen Vorschriften
flankiert1194.
Angesichts dieser Verflechtungen leuchtet ein, dass die oben genannte traditionelle verbandsrechtliche Betrachtungsweise des Gesellschaftsrechts in einer Zeit wachsender Kapitalmärkte der Komplexität der Aktienrechtswirklichkeit nicht mehr gerecht wird1195. Wenn auch hieraus im Detail nicht ganz einheitliche Konsequenzen
im Hinblick auf die (Rang-) Stellung des Gesellschafts- zum Kapitalmarktrecht
Schadensersatzansprüchen Einzelner umfasst. Damit handelt es sich um einen bloßen Rechtsreflex, wenn sich der Funktionenschutz im Sinne eines überindividuellen Schutzes der Anlegerschaft auch auf Individualinteressen der Anleger erstreckt, vgl. dazu eingehend Kümpel,
Rn. 8.420 ff.; Kümpel, in: Kapitalmarktrecht, Rn. 59 ff., jeweils m.w.N.
1188 Schwark, FS Stimpel 1985, 1087, 1092; Caspari, ZGR 1994, 530, 533. Zur Aufteilung des
Funktionenschutzes in die Gewährleistung allokativer, operationaler und institutioneller Effizienz der Kapitalmärkte, vgl. etwa Kümpel, Kapitalmarktrecht, Rn. 29 ff.; Lenenbach, Rn.
1.39 ff; Assmann, in: Assmann/Schütze, § 1 Rn. 24 ff.
1189 Schwark, FS Stimpel 1985, 1087, 1090; Hopt, ZHR 141 (1977), 389, 390.
1190 Schwark, FS Stimpel 1985, 1087, 1091.
1191 Berding, WM 2002, 1149, 1150; Kümpel, Rn. 8.392.
1192 Claussen, AG 1991, 10, 14.
1193 Wymeersch, ZGR 2001, 294, 299; Hommelhoff, FS Lutter, 95, 99; Lutter, FS Zöllner, 363,
363.
1194 Grunewald, Gesellschaftsrecht, S. 230. Exemplarisch für die Überlagerung gesellschaftsrechtlicher Prozesse durch das Kapitalmarktrecht seien nur die Regeln zur Ad hoc-Publizität gem.
§ 15 WpHG genannt, vgl. dazu eingehend Lutter, FS Zöllner, 363, 364 ff.
1195 Martens, AG 1996, 337, 338.
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gezogen werden1196, so dürfte jedenfalls feststehen, dass verbandsinterne Prozesse
nicht (mehr) von einem isoliert gesellschaftsrechtlichen Standpunkt aus betrachtet
werden können, soweit ihre Wirkung auch in den Kapitalmarkt ausstrahlt1197. Das
Gesellschaftsrecht muss sich angesichts des steigenden kapitalmarktpolitischen
Bewusstseins und dadurch motivierter gesetzgeberischer Maßnahmen zunehmend
kapitalmarktrechtlichen Wertungen öffnen und sich kapitalmarkt-funktionsgerecht
ausrichten1198.
II.) Erwerb eigener Aktien im Blickwinkel des Kapitalmarktrechts
Wie dies insbesondere die Ausführungen in Teil 4 dieser Arbeit gezeigt haben, weist
auch der Erwerb eigener Aktien in Ansehung der stetig fortschreitenden Globalisierung und Europäisierung des Wirtschaftsrechts in der heutigen Rechts- und Wirtschaftspraxis nicht mehr allein gesellschaftsrechtliche, sondern in zunehmendem
Maße auch kapitalmarktpolitische Relevanz auf. Er stellt als Instrument der Unternehmensführung nahezu ein Paradebeispiel für die oben beschriebene Schnittstelle
zwischen beiden Rechtsgebieten dar und gerät insofern in ein Spannungsverhältnis.
Erwirbt die Gesellschaft eigene Aktien zurück, so sind die Aktionäre auf der einen Seite Verbandsindividuen, denen gegenüber die Gesellschaft nach dem Aktienrecht einer mitgliedschaftlichen Pflichtenbindung unterliegt. Das Aktienrecht sichert
zudem das Verhältnis der Gesellschaft im Außenverhältnis und schützt die Interessen der Gläubiger. Auf der anderen Seite sind die Anteilsinhaber beim Rückerwerb
aber auch (in der Außenbeziehung betroffene1199) Anleger. Sie sind damit insofern
Schutzobjekt des Kapitalmarktrechts, als dieses erreichen will, dass durch die Schaffung von Vertrauen und Transparenz die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes
gewährleistet wird und die Anleger auf dieser Basis dem Kapitalmarkt ihre Mittel
zur Verfügung stellen. Vor diesem Hintergrund regelt das Kapitalmarktrecht den
Erwerb eigener Aktien aus einem unterschiedlichen rechtspolitischen Blickwinkel
als das Aktienrecht und schafft insofern einen eigenständigen Schutzstandard1200.
1196 Nach einer Meinung wandelt sich, dem Leitbild des US-amerikanischen Rechts folgend, das
Gesellschaftsrecht zum Kapitalmarktrecht fort, vgl. Großfeld, AG 1997, 433, 435; Assmann/Buck, EWS 1990, 110, 119. Nach anderer Auffassung findet eine Verzahnung beider
Rechtsgebiete im Sinne einer maßgeblichen Wechselwirkung statt, vgl. Schmidt, S. 13 f.;
Hommelhoff, ZGR 2000, 746, 762; Hopt, ZHR 141 (1977), 389, 400 ff.; Berding, WM 2002,
1149, 1150.
1197 Vgl. hierzu auch Fleischer, ZIP 2006, 451, 456 ff.
1198 Assmann, 40 Jahre BRD - 40 Jahre Rechtsentwicklung, S. 251, 267; Wastl, Kreditwesen
1997, 1217, 1222, 1217.
1199 Vgl. Escher-Weingart, S. 199.
1200 Vgl. hierzu auch Escher-Weingart, S. 199, die zwischen Anteilseignerschutz und Anlegerschutz differenziert und insofern von zwei unterschiedlichen Interessenkomplexen spricht, die
(demzufolge) auch unterschiedlichen Regelungen unterworfen werden könnten. Vgl. auch
Mülbert, S. 55 ff., 152.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Öffentliche Angebote zum Erwerb eigener Aktien erfreuen sich – dem US-amerikanischen Vorbild folgend – auch in Deutschland zunehmender Beliebtheit. Basierend auf der fortschreitenden Modernisierung des europäischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland in dieser Hinsicht in den letzten Jahren stetig weiterentwickelt.
Mit einem vergleichenden Blick in die USA, und angelehnt an die Erscheinungsformen und Hintergründe öffentlicher Rückkaufverfahren in der Wirtschaftspraxis, analysiert und hinterfragt die vorliegende Arbeit den geltenden Rechtsrahmen sowie die einschlägige Verwaltungspraxis. Einen Schwerpunkt stellt die vom Autor geforderte Anwendung des WpÜG auf öffentliche Rückerwerbsangebote dar. Zudem spricht sich der Autor unter Verweis auf Missbrauchspotentiale im Zusammenhang mit dem Erwerb eigener Aktien gegen eine Liberalisierung nach US-amerikanischem Vorbild, und dabei insbesondere gegen die An- bzw. Aufhebung der derzeit geltenden 10%-Bestandgrenze für eigene Aktien, aus.
Der Autor ist als Rechtsanwalt im Bereich M&A und Gesellschaftsrecht in einer international ausgerichteten Wirtschaftskanzlei in Stockholm tätig.