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Hoheitsgewalt des jeweils anderen Staates vorgenommen werden, ist deshalb zunächst einmal schwer vorstellbar – Rechtshilfe wird grundsätzlich nach der lex fori
des ersuchten Gerichts vorgenommen.684
Die folgende nähere Untersuchung der Sachaufklärung mit Auslandsbezug soll
sich in Fortsetzung des ersten Teils der Untersuchung auf den europäischen Rechtsraum beschränken – ausgehend vom deutschen, französischen und englischen Recht.
Auf dem Gebeit der Europäischen Union sind die völkerrechtlichen Grundsätze
der zwischenstaatlichen Interaktionen in weiten Bereichen nicht mehr maßgeblich
und kommen nur in Zweifelsfällen als Auslegungsmaßstab und bei Regelungslücken
als Entscheidungsgrundlage zur Anwendung. Nachdem die Mitgliedstaaten die entsprechenden Hoheitsrechte übertragen hatten, entwickelte sich eine von ihrer völkerrechtlichen Grundlage verselbständigte europäische Rechtsordnung. Mittlerweile
weist sie auch im Bereich der Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen eine
beträchtliche, wenn auch nicht umfassende Regelungsdichte auf.
Kapitel 2 – Der europäische Rechtsraum für Vollstreckungsverfahren mit
Auslandsbezug
A. Justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen in der Europäischen
Union
Im europäischen Rechtsraum wurden originär europarechtliche Regelwerke geschaffen, die eine Zusammenarbeit zwischen den justiziellen Institutionen der einzelnen
Mitgliedstaaten in Zivil- und Handelssachen ermöglichen und erleichtern sollen.
Auch wenn die Zwangsvollstreckung nicht im Fokus der Rechtsetzung nach
Art. 65 EG steht, so scheint sie allmählich doch ins nähere Blickfeld der Kommission zu rücken.685 Die Natur der Sachaufklärung liegt aber nicht nur in ihrer Eigenschaft als Teil des Zwangsvollstreckungsverfahrens begründet. Ziel der Sachaufklä-
684 Vgl. Nagel/Gottwald, § 6 Rn. 21.
685 Neben der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom
22.12.2000 ist hier in neuerer Zeit vor allem die Verordnung (EG) Nr. 805/2004 zur Einführung eines Europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen vom 21. April
2004 zu nennen. Die in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen werden danach im Gegensatz zum Verfahren nach der erstgenannten Verordnung ohne Exequaturverfahren anerkannt und vollstreckt. Das jüngste Vorhaben zur Effektivierung der Vollstreckung
von Urteilen in der Europäischen Union ist im Grünbuch zur vorläufigen Kontenpfändung
vom 24.10.2006 niedergelegt (KOM(2006) 618 endgültig). Darin wird angedacht, den
Schuldner durch eine vorläufige Pfändung schon während des Erkenntnisverfahrens daran zu
hindern, Vollstreckungsmasse von seinem Konto aus zu verschieben und damit zu verschleiern. Seiner Konzeption nach handelt es sich um ein Instrument des einstweiligen Rechtsschutzes.
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rungsmaßnahmen ist es ganz allgemein, Daten zum Vermögen des Schuldners durch
Ermittlung oder Weitergabe zu erhalten. Daraus ergibt sich die Frage, ob nicht allgemeinere europarechtliche Grundlagen – insbesondere auch zur Rechtshilfe – existieren, die einen Rahmen für die Sachaufklärung mit Auslandsbezug bilden können.
I. Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung
Das Vollstreckungsverfahren als solches wird vom Anwendungsbereich der so genannten Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung (EuGVVO)686
nicht erfasst, dort wird lediglich das vorgelagerte Vollstreckbarerklärungsverfahren
als Bindeglied zwischen den nationalen Rechtsordnungen geregelt.687
In einem Fall mit Auslandsberührung findet das Erkenntnisverfahren im Urteilsstaat nach dessen Recht statt, während das Vollstreckungsverfahren als Ganzes im
Vollstreckungsstaat ebenfalls nach eigenem Recht durchgeführt wird. Auch wenn
die Sachaufklärung in den verschiedenen Rechtsordnungen der Zwangsvollstreckung teils vorgelagert, teils vollständig in das Vollstreckungsverfahren eingebettet
ist,688 werden die Maßnahmen zur Erforschung des Schuldnervermögens doch als
Teil der Zwangsvollstreckung verstanden und nicht etwa als eine Art eigenständiges
Zwischenverfahren. Die Sachaufklärung wird deshalb nach dem Konzept der Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung stets im Rahmen des einheitlichen Vollstreckungsverfahrens durchgeführt – der Auslandsbezug wirkt sich
darauf letztlich gar nicht aus. Die Sachaufklärung entzieht sich dem Regelungsgegenstand der Verordnung, die für die Zwangsvollstreckung nur die Freizügigkeit
von Vollstreckungstiteln anstrebt.
Davon zu unterscheiden ist der seltene Fall einer grenzüberschreitenden Vollstreckung. Ein anschauliches Beispiel und gleichzeitig der Regelfall der grenzüberschreitenden Vollstreckung ist eine bestimmte Konstellation der Vollstreckung in
Forderungen. Wenn Schuldner und Drittschuldner ihren Sitz in verschiedenen Staaten haben, müssen bestimmte Verfahrensschritte zwangsläufig über die Staatsgrenzen hinweg vorgenommen werden. Denkbar ist beispielsweise, dass der Gläubiger
die Forderung im Urteilsstaat am Sitz des Schuldners pfänden lässt und danach die
Anerkennung des Pfändungsbeschlusses im Drittschuldnerstaat begehrt.
Als zweite Möglichkeit, die Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung anzuwenden, ist zu prüfen, ob eine Sachaufklärung mit Auslandsbezug im
Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes durchgeführt werden kann. Die Verordnung regelt allerdings nur die Zuständigkeit für entsprechende Maßnahmen.689 Ein
autonomes Verfahren, das die Auslandsberührung eines Falles besonders berück-
686 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und
Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 22.12.2000.
687 Art. 32 ff. EuGVVO. Vgl. dazu Geimer/Schütze/Geimer, A.1 Einl. Rn. 232 f.
688 Siehe oben S. 139.
689 Art. 2 ff., Art. 31 EuGVVO.
196
sichtigen könnte, ist nicht vorgesehen. Die auf Grundlage der Verordnung bestehende Zuständigkeit eines ausländischen Gerichts für Maßnahmen des einstweiligen
Rechtsschutzes böte aber die Option, nach dem Verfahrensrecht des anderen Mitgliedstaates vorzugehen und auf diese Weise eventuell dort vorgesehene Aufklärungsmaßnahmen zu nutzen. Von den drei untersuchten Rechtsordnungen erscheint
in dieser Hinsicht aber ausschließlich das englische Recht vielversprechend. Das
französische Recht sieht keinerlei Möglichkeiten vor, Vermögen des Schuldners
ausfindig zu machen, während das deutsche Recht hohe Voraussetzungen statuiert.690 Jedenfalls sind diese Instrumente aber nicht substantiell in der Europäischen
Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung verankert, sondern Teil des nationalen und Internationalen Zivilprozessrechts des jeweiligen Mitgliedstaats. Sie sollen
deshalb eingehender erst im Zusammenhang mit dem mitgliedstaatlichen Recht an
späterer Stelle untersucht werden. Dabei wird vor allem das Instrument der so genannten worldwide freezing order des englischen Rechts Bedeutung erlangen.
II. Europäische Beweisverordnung
Eine weitere europäische Regelung, die auf die Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung mit Auslandsbezug Anwendung finden könnte, ist die Verordnung über
die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der
Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen, die so genannte Europäische Beweisverordnung von 2001 (EuBVO).691
Sie führt die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten nach
Maßgabe des Haager Beweisübereinkommens von 1970 fort. Während das völkerrechtliche Übereinkommen lediglich zwischen elf Mitgliedstaaten der Europäischen
Union galt, ist die Europäische Beweisverordnung in allen Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks unmittelbar geltendendes Recht. Als vorrangiges Mittel der Zusammenarbeit sieht die Verordnung das Ersuchen um Beweisaufnahme vor.692 Das
zuständige Gericht eines anderen Mitgliedstaats kann durch das Prozessgericht unmittelbar ersucht werden, eine bestimmte Beweisaufnahme durchzuführen. Die
Beweisaufnahme wird in diesen Fällen nach der lex fori des ersuchten Gerichts
ausgeführt.693 Darüber hinaus ermöglicht die Verordnung sogar eine direkte Beweisaufnahme durch das Prozessgericht in anderen Mitgliedstaaten, allerdings nur auf
freiwilliger Grundlage.694
690 Vgl. oben S. 83.
691 Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 vom 28.5.2001 über die Zusammenarbeit zwischen den
Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen. Die Verordnung gilt seit dem 1.1.2004.
692 Art. 4, 10 ff. EuBVO.
693 Art. 10 Abs.2 EuBVO.
694 Art. 17 EuBVO.
197
Verstünde man die verschiedenen Maßnahmen zur Suche nach Vollstreckungsobjekten als Beweisaufnahme und wendete die Verordnung auf die Sachaufklärung in
der Zwangsvollstreckung an, könnten die einzelnen Vollstreckungsorgane auf dieser
Grundlage Rechtshilfe bei der Suche nach Vollstreckungsobjekten im jeweiligen
Ausland erlangen.
Es ist jedoch sehr fraglich, ob es sich bei der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung um eine solche Beweisaufnahme handelt und die Informationen über das
Schuldnervermögen als Beweismittel im Sinne der Verordnung angesehen werden
können. Anders als im Haager Beweisübereinkommen wird eine Anwendung auf
zwangsvollstreckungsrechtliche Maßnahmen zunächst einmal nicht ausdrücklich
durch den Regelungstext ausgeschlossen.695 Für die Auslegung der Verordnung als
sekundäres Gemeinschaftsrecht ist die Ansicht des Europäischen Gerichtshofs maßgeblich. Bislang liegen jedoch keine Stellungnahmen vor, welche Maßnahmen des
Zivilprozesses als Beweisaufnahme zu verstehen sind.696
Grundsätzlich sei der Begriff weit auszulegen, so Schlosser in seiner Kommentierung der Beweisverordnung. Jede justizielle Beschaffung von Informationen sei
Beweisaufnahme in diesem Sinne.697 Diese Umschreibung umfasst zunächst einmal
nicht nur die Erhebung von Informationen im Rahmen des Erkenntnisverfahrens,
sondern auch die Sachaufklärung im Stadium der Zwangsvollstreckung. Mindestens
in Deutschland wird die Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung durch das so
genannte Offenbarungsverfahren auch in den meisten Fällen als Beweisaufnahme im
allgemein zivilprozessualen Sinne angesehen.698
Allerdings sollen die Regelungen der Verordnung, das lässt sich aus deren
Art. 1 Abs. 2 schließen, nur auf gerichtliche Verfahren Anwendung finden. Diese
Vorgabe lässt es zweifelhaft erscheinen, ob die Verfahrensvereinfachung der Verordnung auf einen zwangsvollstreckungsrechtlichen Vorgang, insbesondere auf die
Sachaufklärungsmaßnahmen in der Zwangsvollstreckung Anwendung finden soll.
Keine der drei im ersten Teil untersuchten Rechtsordnungen weist eine bei einem
(Vollstreckungs-) Gericht zentralisierte Vollstreckungsorganisation auf. In Deutschland und England sind die Zuständigkeiten für einzelne Vollstreckungsverfahren
zwischen Gerichtsvollzieher und Vollstreckungsgericht dezentral aufgeteilt. In
Frankreich hat der Gesetzgeber dem Vollstreckungsgericht sogar nur einen minimalen Ausschnitt der Vollstreckungstätigkeit zugewiesen, so dass sie fast als zentralisiertes Vollstreckungssystem in der Hand des huissier, des Gerichtsvollziehers,
bezeichnet werden kann.699 Eine weitere gerichtliche Zuständigkeit ergibt sich in
695 Das Haager Beweisübereinkommen gilt nach seinem Art. 1 Abs.1 für Beweisaufnahme oder
andere gerichtliche Handlung. Eine andere gerichtliche Handlung umfasst jedoch nach
Art. 1 Abs.3 ausdrücklich keine Maßnahmen der Sicherung oder Vollstreckung.
696 Zur Auslegung des Begriffs Beweisaufnahme im Sinne der Europäischen Beweisverordnung
ist lediglich ein Vorlageverfahren vom 24.3.06 (Rechtssache C-175/06) anhängig, eingereicht
durch das Tribunale Civile Genua (Italien).
697 Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, Art. 1 EuBVO Rn. 6.
698 Vgl. Schnigula, S. 87, mit umfassenden weiteren Nachweisen.
699 Näher dazu oben auf S.146.
198
den drei Rechtsordnungen nur im Bereich der zwangsvollstreckungsrechtlichen
Rechtsbehelfe.
Die Sachaufklärung selbst liegt nur nach englischem Recht in gerichtlicher Hand.
Das bedeutet jedoch im Regelfall nicht, dass ein Richter beteiligt sein muss. Die
Vernehmung des Schuldners, also der einer Beweiserhebung im Erkenntnisverfahren entsprechende Vorgang, wird im Rahmen der so genannten cross examination
ohnehin durch den Vollstreckungsgläubiger und dessen Anwalt selbst durchgeführt.700 Vielfach wird sogar der hoheitliche Charakter dieser Art von Sachaufklärung angezweifelt.701 Während die Sachaufklärung in Frankreich überwiegend in der
Hand der Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsorgan liegt,702 ist in Deutschland für
das Offenbarungsverfahren, die tragende Säule der Sachaufklärung, der Gerichtsvollzieher zuständig.703
Die Anwendung der Beweisverordnung läge näher, wenn das Vollstreckungsverfahren und damit auch die Sachaufklärung – wie beispielsweise in der österreichischen Exekutionsordnung704 – in den Mitgliedstaaten einheitlich zentral durch ein
Vollstreckungsgericht geleitet würde.
Denkbar wäre aber auch, dass die Beschränkung auf gerichtliche Verfahren lediglich eine institutionelle Vorgabe ist, die eine besondere Gewähr für die Richtigkeit
und Sorgfalt einer Maßnahme bieten soll. Dann wäre jede gerichtliche Tatsachenerhebung unabhängig vom Verfahrensstadium erfasst. Unter dieser Prämisse wäre
nicht entscheidend, ob die Vollstreckung insgesamt zentral bei einem Gericht organisiert ist. Es wäre ausreichend, dass eine konkrete Maßnahme der Sachaufklärung
in richterlicher Hand liegt.
Selbst dann bliebe allerdings noch fraglich, ob ein gerichtliches Verfahren im
Sinne der Verordnung nicht lediglich das Erkenntnisverfahren mit seiner Beweisaufnahme umfassen soll. Die zwangsvollstreckungsrechtliche Sachaufklärung steht
der Beweiserhebung im Erkenntnisverfahren zwar ihrem Wesen nach näher als den
allermeisten sonstigen Vollstreckungsmaßnahmen. Dennoch ergeben sich sowohl in
der Struktur des Sachaufklärungsprozesses als auch in der institutionellen Organisation des Verfahrens wesentliche Unterschiede.
Im Erkenntnisverfahren wird in aller Regel über Tatsachen Beweis erhoben, die
zuvor von den Parteien behauptet wurden. Beispielsweise besteht in Deutschland
sogar ein Verbot der Ausforschung.705 Im Unterschied dazu gilt es im Zwangsvollstreckungsverfahren, im jeweils gesetzlich vorgegebenen Umfang möglichst viele
Informationen über das vollstreckbare Vermögen des Schuldners zu erheben. Damit
gleicht die Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung – in den Kategorien des
Erkenntnisverfahrens gedacht – einem materiellrechtlichen Informationsanspruch,
700 Siehe oben S. 87.
701 Vgl. Ewald Geimer, Internationale Beweisaufnahme, S. 256.
702 Siehe oben S. 110.
703 Siehe oben S. 93.
704 Vgl. Holzhammer, S. 9.
705 Vgl. Reinhold Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 2294.
199
der in einer Konstellation mit Auslandsbezug nach seiner Titulierung über den Weg
der Anerkennung und Vollstreckung durchgesetzt wird.
Das Verfahren nach der Europäischen Beweisverordnung hingegen ist grundsätzlich auf Beweisaufnahmen zu spezifischen Fragen mit spezifischen Beweismitteln
zugeschnitten.706 Zwar soll ein Ersuchen nicht unmittelbar abgelehnt werden, wenn
ein Beweisthema Raum für die Ausforschung lässt – immerhin soll auch das englische Verfahren der pre-action disclosure einbezogen werden, eine gewisse Bestimmtheit des zu Grunde liegenden Sachverhalt ist jedoch erforderlich.707 So wäre
beispielsweise die Befragung eines Schuldners nach den Vorgaben des deutschen
Offenbarungsverfahrens oder der englischen oral examination zu unbestimmt und
deshalb nicht von den Vorgaben der Beweisverordnung umfasst. Gegenstand einer
solchen Vernehmung ist das gesamte vollstreckbare Vermögen des Schuldners,
Anhaltspunkte auf einzelne Vermögensgegenstände sollen auf diesem Wege in aller
Regel erst gewonnen werden.708
Hinzu kommt, dass die Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung in weiten Bereichen als indirektes Zwangsmittel verstanden werden kann.709 Dieser (vielfach
bewusst eingesetzte) sekundäre Vollstreckungseffekt kann in vielen Fällen dazu
führen, dass die Hoheitsrechte des anderen Mitgliedstaates größerer Beeinträchtigung ausgesetzt sind als es im Erkenntnisverfahren der Fall ist. Dies steht einer
weiten Auslegung vor allem vor dem Hintergrund entgegen, dass die Hoheit über
das Zwangsvollstreckungsverfahren selbst innerhalb der Europäischen Union nach
wie vor grundsätzlich bei den einzelnen Mitgliedstaaten liegt und nur allmählich und
sehr punktuell autonome europarechtliche Regelungen entstehen.710
Letztlich sind auch die Sachaufklärungsmaßnahmen bereits in den drei untersuchten mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen so unterschiedlich ausgestaltet, dass eine
verfahrensmäßige Zusammenführung nach der Europäischen Beweisverordnung aus
praktischer Sicht in vielen Fällen nahezu unmöglich erscheint.
Die Verordnung sieht die Anwendung der lex fori, des jeweiligen mitgliedstaatlichen Prozessrechts, vor. Die Pflichten, die den meisten Sachaufklärungsmaßnahmen
des nationalen Zwangsvollstreckungsrechts zu Grunde liegen, sind als eigene prozessuale Instrumente ausgestaltet. Bei dem englischen Verfahren der oral examination, dem deutschen Offenbarungsverfahren und der französischen recherche des
informations handelt es sich nicht um materielle Informationsansprüche, die mit
allgemeinem prozessualen Instrumentarium durchzusetzen sind.711 Folglich würden
die Maßnahmen über die Anwendung der Beweisverordnung in vielen Fällen ihrer
Eigenheit beraubt und damit vom ursprünglichen gesetzgeberischen Willen weit
entfernt. Man stelle sich nur beispielsweise vor, dass ein französisches Gericht den
706 Vgl. Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, Art. 4 EuBVO Rn. 1.
707 Vgl. Art. 4 I EuBVO.
708 Vgl. dazu oben S. 94 (Offenbarungsverfahren), S. 87 (oral examination).
709 Vgl. dazu oben S. 143.
710 Siehe oben FN 685.
711 Vgl. oben S. 141.
200
Schuldner eines englischen Zwangsvollstreckungsverfahrens einer oral examination
nach französischem allgemeinem Verfahrensrecht unterziehen soll. Sollte das französische Recht über die Zeugenvernehmung entsprechende Anwendung finden?
Dem Vollstreckungsgläubiger würden in keinem Fall die nach englischem Recht
vorgesehenen tragenden Mitwirkungsmöglichkeiten eingeräumt werden können, die
Befragung stünde für den Schuldner auch nicht unter dem Druck eines drohenden
contempt of court-Verfahrens. Ein Zugriff auf die Person des Auskunftspflichtigen
im Sinne einer Personalexekution kennt die französische lex fori nur in Form einer
astreinte, eines Zwangsgelds. Allgemein steht sie der Anwendung unmittelbar wirkender Zwangsmaßnahmen ablehnend gegenüber.712 Neben der inhaltlichen Entfremdung steht auch das Problem, dass sich die Adressaten der Sachaufklärungsmaßnahmen bei Anwendung der jeweiligen lex fori grundsätzlich auch auf deren
Zeugnis- beziehungsweise Auskunftsverweigerungsrechte berufen können.713 Im
dargelegten Beispielsfall könnte sich der Vollstreckungsschuldner des englischem
Zwangsvollstreckungsverfahrens unter Berufung auf sein droit à la vie privée auf
die sehr weiten französischen Verweigerungsrechte714 stützen und damit die englische Rechtsprechung übergehen, die dem Vollstreckungsschuldner bis auf das so
genannte privilege against self-incrimination eine umfassende Auskunftspflicht
auferlegt715. Die sehr unterschiedliche Gewichtung der Verschwiegenheitsrechte des
Auskunftspflichtigen, meist des Schuldners, im Vergleich zum Vollstreckungsinteresse des Gläubigers würde durch die Anwendung der Europäischen Beweisverordnung mittelbar über das Verfahrensrecht nivelliert werden.
Die Europäische Beweisverordnung könnte für bestimmte Sachaufklärungsmaßnahmen wie die Drittschuldnererklärung, die einen eng umrissenen und in den untersuchten Rechtsordnungen vergleichbaren Aufklärungsumfang aufweist,716 einen
geeigneten Rahmen bieten. Dies allein rechtfertigt jedoch nicht, den Begriff der
Beweisaufnahme im Sinne der Verordnung auf die zwangsvollstreckungsrechtliche
Sachaufklärung auszudehnen. Die tragenden Säulen der mitgliedstaatlichen Regelungen bieten dafür keinen Raum.
III. Grünbuch zur vorläufigen Kontenpfändung
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften legte im Oktober 2006 ein
Grünbuch717 vor, in dem sie ein Instrument zur vorläufigen Kontenpfändung zur
712 Vgl. oben S. 141.
713 Vgl. Nagel/Gottwald, § 8 Rn. 20.
714 Vgl. oben S. 113.
715 Vgl. oben S. 78.
716 Vgl. oben S. 126.
717 Grünbuch der Kommission der Euopäischen Gemeinschaften zur vorläufigen Kontenpfändung vom 24.10.2006 (KOM(2006) 618 endgültig). Das Dokument ist online abrufbar unter
http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:52006DC0618:DE:NOT
[15.7.08].
201
Diskussion stellt. Mit dem neuen Verfahren wird angestrebt, der vollstreckungsvereitelnden Vermögensverschleierung innerhalb der EU entgegenzutreten. Guthaben
können heute nämlich binnen Minuten auf andere Konten im selben oder in einem
anderen Mitgliedstaat transferiert werden. Selbst wenn dem Gläubiger ein Konto
seines Schuldners bekannt ist, kann die Vollstreckung auf diesem Wege vereitelt
werden. Die vorläufige Kontenpfändung tritt an, diesen Missstand zu überwinden
und der Vollstreckung von Urteilen in der Europäischen Union damit zu höherer
Effizienz zu verhelfen.
Nach dem Grünbuch kann eine vorläufige Pfändung im summarischen Verfahren
gerichtlich angeordnet werden. Unter bestimmten Voraussetzungen könnte einem
Schuldner so die Verfügungsgewalt über sein Guthaben entzogen werden, das sich
auf einem oder mehreren Bankkonten innerhalb der Europäischen Union befindet.
Die Bank wäre daraufhin lediglich gehalten, Guthaben zu sperren, nicht aber berechtigt, dessen Herausgabe an Dritte zu veranlassen.
Die Pläne der Kommission dienen – ganz allgemein gesprochen – der Verfolgung
von Vollstreckungsgütern. Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit die geplante
Maßnahme die Sachaufklärung mit Auslandsbezug berührt; oder ob sie sogar eine
grenzüberschreitende Sachaufklärung ermöglicht. Aus den folgenden Gründen ist
davon nicht auszugehen:
Bei der geplanten vorläufigen Pfändung wird es sich aller Wahrscheinlichkeit
nach um ein originär europarechtliches Instrument handeln. Es geht nicht wie bei
den beiden in Teil I. und Teil II. behandelten Verordnungen darum, die Zusammenarbeit zwischen mitgliedstaatlichen Institutionen zu verbessern, indem die jeweiligen nationalen Verfahren koordiniert werden. Der Pfändungsbeschluss beansprucht
nach dem Konzept des Grünbuchs unmittelbare Geltung in allen Mitgliedstaaten der
Europäischen Union und stellt damit ein unabhängiges Verfahren sui generis dar.
Nach der Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung – so die
Begründung für die geplante Maßnahme – sei nicht gewährleistet, dass eine im einseitigen Verfahren erwirkte Sperrung von Bankkonten in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem diese Maßnahme angeordnet wurde, anerkannt und vollstreckt
wird. Auf der Grundlage dieses autonom-europarechtlich konzipierten Ausgangspunkts ist nicht zu erwarten, dass Teil des Maßnahmenpakets auch eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung
sein soll. Eine Harmonisierung des Zwangsvollstreckungsverfahrens mittels einer
Richtlinie ist gerade nicht geplant.
Ziel des im Grünbuch angedachten vorläufigen Pfändungsbeschlusses ist es au-
ßerdem nur, die Vollstreckungsmasse für ein späteres Vollstreckungsverfahren zu
sichern. Es geht nicht darum, Vollstreckungsobjekte, in diesem Fall Vermögen, auf
einem Konto in einem der Mitgliedstaaten überhaupt erst ausfindig zu machen.
Vielmehr soll eine Sachaufklärung, die den Verschleierungsweg einzelner Vermögensgegenstände aufdecken soll, von vornherein überflüssig gemacht werden.
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Der einzige aus dem Grünbuch ersichtliche Weg, das neue Instrument zur Sachaufklärung einzusetzen, bestünde darin, die vorläufige Pfändung auf Verdacht zu
beantragen. Angedacht ist nämlich eine Pflicht der Banken, den Gläubiger oder die
Vollstreckungsbehörden darüber in Kenntnis zu setzen, ob und in welcher Höhe die
fälligen Beträge durch die Sperrung einbehalten werden konnten. Darin läge gleichzeitig die Bestätigung, dass dort tatsächlich Vermögensmasse des (zukünftigen)
Vollstreckungsschuldners vorhanden ist. Da die vorläufige Pfändung eine Eilmaßnahme ist, wird es im Grünbuch als ausreichend angesehen, dass der Antragsteller
seinen Anspruch und die Kontoinhaberschaft des Schuldners glaubhaft macht. Im
internationalen Zusammenhang – immerhin kommen Banken im gesamten Gebiet
aller EU-Mitgliedstaaten in Betracht – ist die Hürde der Glaubhaftmachung allerdings nur mit einem gewissen Vorwissen zu bewerkstelligen. Außerdem muss das
Risiko abgewogen werden, das aus einer Sicherheitsleistung für die vorläufige Pfändung als einstweilige Maßnahme resultiert. Wie jede Verdachtspfändung ist auch die
vorläufige Pfändung im Sinne des Grünbuchs lediglich ein sekundäres Sachaufklärungsmittel und kann nur der Verifizierung beziehungsweise Realisierung eines
bereits vorhandenen Vorwissens dienen.
B. Bedeutung völkerrechtlicher Regelungen
Mangels gemeinschaftsrechtlicher Regelungen für die Sachaufklärung in der
Zwangsvollstreckung mit Auslandsbezug kommen zwischen den Mitgliedstaaten die
allgemeinen völkerrechtlichen Rechtssätze zur Anwendung.
Im Bereich der Zwangsvollstreckung gibt es allerdings nur sehr wenige Abkommen über Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen.718 Das Verfahren
der Vollstreckung wird dabei in den meisten Fällen gar nicht berührt. Die Sachaufklärung als Teilaspekt des Vollstreckungsverfahrens wurde von den Staaten nirgends gesondert bedacht.
Es liegt daher zunächst einmal der Gedanke nahe, das so genannte Haager Beweisübereinkommen von 1970719 zur Anwendung zu bringen. Es dient nach der
Definition des Anwendungsbereichs in seinem Art. 1 Abs. 1 der Beweisaufnahme
oder anderen gerichtlichen Handlungen. Schon an dieser Stelle können Zweifel
daran aufkeimen, ob die Sachaufklärung eine andere gerichtliche Handlung im Sinne des Übereinkommens sein kann. Der dritte Absatz deselben Artikels bestimmt
dann aber ausdrücklich, dass keine Maßnahmen der Sicherung und Vollstreckung
718 Neben den allgemeinen und besonderen (vor allem zum Unterhalts- und Sorgerecht, aber
auch Straßenverkehr und Kernenergie) multilateralen Übereinkommen der Haager Konferenz
gibt es auch einige, vor allem allgemeine bilaterale Übereinkommen im Bereich der Zwangsvollstreckung. Vgl. dazu Nagel/Gottwald, § 13 Rn. 2 ff.
719 Haager Übereinkommen über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- oder Handelssachen
vom 18.3.1970
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Ein vollstreckbarer Titel in der Tasche und doch kein Erfolg – oft scheitert die Vollstreckung daran, dass der Schuldner Vermögen ins Ausland verschoben oder sonst verschleiert hat. Aus rechtsvergleichender Sicht zeigt die Autorin, wie die Suche nach Vollstreckungsgütern, die Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung, gestaltet werden kann. Wie weit reichen staatliche Pflichten und wie weit die Eigenverantwortung der Gläubiger, sich präventiv abzusichern? Gerade über die Grenzen zu anderen europäischen Staaten hinweg ergeben sich Schwierigkeiten.
Das Werk zeigt auf, welche Wege im Zusammenspiel des internationalen, europäischen und nationalen Rechts in Deutschland, Frankreich und England beschritten werden können.