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keine Differenzierung zwischen eigenen Staatsangehörigen und anderen Bürgern
anderer EU-Mitgliedstaaten – besteht, sind auf Grund des hier ermittelten Gehaltes
des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit insoweit folgende Ausgestaltungen
erwogen werden:
"Hat die dem Europäischen Haftbefehl zu Grunde liegende Handlung keinen erkennbaren Bezug zum Ausstellungsstaat, so verweigert der Vollstreckungsmitgliedstaat die Vollstreckung
des Europäischen Haftbefehls, sofern der Europäische Haftbefehl wegen einer Handlung erlassen wurde, die nach seinem Recht keinen Straftatbestand darstellt. Ein erkennbarer Bezug zum
Vollstreckungsstaat besteht, wenn der Verfolgte im Ausstellungsstaat gehandelt hat, dessen
Staatsangehörigkeit besitzt oder der Taterfolg einen im Zeitpunkt der Handlung für den Täter
ersichtlichen Bezug zum Ausstellungsstaat aufweist."
Abgesehen von dem Vorzug, rechtsstaatlichen Einwänden zu begegnen, hätte diese Lösung den Vorteil, von der unpraktikablen Listentechnik des Art. 2 Abs. 2
RbEuHb abzusehen.
C) Zusammenfassung
Kapitel 1: Grundlagen – Überblick zu herkömmlichem Auslieferungsrecht und Europäischem Haftbefehl, Rechtsnatur des Rahmenbeschlusses, Grundsatz
gegenseitiger Anerkennung
Der mit dem Europäischen Haftbefehl einhergehende Abbau traditioneller materieller Auslieferungsgrenzen – insbesondere des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit und der Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger – hat Anlass zu der Befürchtung gegeben, Vorgaben des Rahmenbeschluss könnten hinter individualschützend-rechtsstaatlichen Anforderungen des Grundgesetzes zurückbleiben. Gleiches
gilt für den im Europäischen Haftbefehl betonten Grundsatz gegenseitiger Anerkennung, der die Frage aufwirft, inwieweit Auslieferungen wegen entgegenstehender
deutscher Grundrechte verweigert werden dürfen. Ob die Befürchtungen begründet
sind, untersucht die vorliegende Arbeit.
Der Europäische Haftbefehl tritt an die Stelle eines auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen von 1957 als „Mutterkonvention“ aufbauenden, abgestuften
Systems multilateral-europäischen Auslieferungsrechts. Auch wenn die Hürden, die
Auslieferungen im traditionellen Recht entgegenstanden, innerhalb der EU in den
vergangenen Jahren bereits abgebaut wurden, nehmen sich die mit dem Europäischen Haftbefehl einhergehenden Veränderungen gleichwohl erheblich aus.
Zentrale Neuerungen sind im materiellen Recht die Einschränkung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit und die zum Regelfall gewordene Auslieferung eigener Staatsangehöriger, im Verfahrensrecht der Wegfall des politischadministrativen Bewilligungsverfahrens. Die Veränderungen spiegeln sich auch in
einer modifizierten Terminologie wider. Im Schrifttum wird die Reichweite der mit
dem Rahmenbeschluss einhergehenden Veränderungen – „Revolution oder Evoluti-
277
on“ – uneinheitlich und der Europäische Haftbefehl insgesamt eher kritisch beurteilt.
Zahlreich waren die verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten, vor die seine Umsetzung eine Reihe von Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, gestellt hat.
Mit dem Rahmbeschluss ist der Europäische Haftbefehl in Form eines Rechtsaktes ergangen, der trotz anders lautender Andeutungen des EuGH („Pupino“) als ein
Akt des Völkerrechts zu qualifizieren ist. Damit kommt ihm, wie auch dem übrigen
Unionsrecht, insbesondere keine Vorrangwirkung gegenüber dem deutschen Verfassungsrecht zu.
Der Europäische Haftbefehl wird allgemein als Ausdruck des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung im Unionsrecht gesehen, dessen Ursprünge wiederum in den
Regelungen des freien Warenverkehrs im Gemeinschaftsrecht ausgemacht werden.
Dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung mag als Leitmotiv der derzeitigen polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit innerhalb der EU politisch eine erhebliche Bedeutung zukommen. Die rechtliche Bedeutung bleibt de lege lata allerdings
deutlich dahinter zurück. Denn zu Subjekt, Gegenstand und damit Richtung der Anerkennungspflicht gestattet das Unionsrecht keine einheitliche Aussage. Darin liegt
einer der wesentlichen Unterschiede zu den Regelungen des freien Warenverkehrs,
die gemeinhin als Vorbild des Anerkennungsgrundsatzes im Unionsrecht gesehen
werden. Im Unterschied zu den Art. 28 ff. EG stellt weder die PJZS insgesamt noch
der Europäische Haftbefehl für sich genommen ein der Warenverkehrsfreiheit vergleichbares, unmittelbar anwendbares und in sich geschlossenes Regel-Ausnahme-
System dar, innerhalb dessen dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung stets die
gleiche, ihm seine eigentliche Strahlkraft gebende Wirkungsrichtung zukommt: pro
Markteinführungsentscheidung des Herkunftsstaates, contra Zugangsbeschränkung
des Bestimmungsstaates. Dass das in hohem Maße ausfüllungsbedürftige Konzept
eines ‚Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts’ eines vergleichbar geschlossenen Systems entbehrt, ist offenbar. Aber auch innerhalb des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl selbst weist der Anerkennungsgedanke
nicht stets die gleiche Aussagerichtung auf. Insoweit genügt der Verweis auf Art. 3
Nr. 2 RbEuHb. Mit dieser Regelung greift der Rahmenbeschluss das europäische
Doppelbestrafungsverbot auf. Zugleich läuft mit ihr die Anerkennungsrichtung
„umgekehrt“ vom Vollstreckungs- zum Ausstellungsstaat: Der Ausstellungsstaat
wird verpflichtet, die vorangehende justitielle Entscheidung des Vollstreckungsstaates anzuerkennen.Damit einher geht hier der Vorrang einer für den Verfolgten günstigen Regelung gegenüber einer repressiven Wirkung des Anerkennungsgedankens.
Gegenseitige Anerkennung in der PJZS ist damit – zumindest ihrem theoretischen
Ausghangspunkt nach – nicht per se verfolgtenfreundlich oder -unfreundlich. Vielmehr als Prämisse sind ihr Umfang und ihre Wirkungsrichtung Folge der Auslegung
solcher Rechtsakte, die sich auf sie berufen. Ganz ohne verallgemeinerungsfähige
Aussage dürfte der Anerkennungsgedanke aber auch im Unionsrecht de lege lata
nicht sein. Denn immerhin dürfte ihm im Grundsatz die Auslegungsregel zu entnehmen sein, dass die Justizbehörden eines der am Verfahren beteiligten Staates davon absehen müssen zu überprüfen, ob die von den Behörden des anderen Staates
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hinsichtlich bestimmter Übergabevoraussetzungen getroffene Entscheidung zutrifft
(Verbot der Doppelprüfung). Welcher Staat jedoch entscheidungsbefugt ist, verraten
wiederum allein die einzelnen Regelungen des Rahmenbeschlusses, nicht der Anerkennungsgedanke.
Insgesamt aber ist Vorsicht geboten, wenn im Unionsrecht der Grundsatz zu Auslegung und Argumentation herangezogen wird. Stets besteht die Gefahr, dass derjenige, der sich auf den Grundsatz beruft, ihn einer „Wundertüte“ gleich mit beliebigen Inhalten füllt, für die der in Frage stehende Rechtsakt unmittelbar keine Grundlage bietet.
Kapitel 2: Grundrechte als Auslieferungshindernisse
Die beschränkte Reichweite des Anerkennungsgedankens hat Konsequenzen für die
Frage, inwieweit die Justizbehörden eines Mitgliedstaates die Vollstreckung eines
Europäischen Haftbefehls dann ablehnen dürfen, wenn sie Grundrechte des Verfolgten im Ausstellungsstaat für gefährdet halten.
Das europäische Auslieferungsübereinkommen von 1957 gewährt den Unterzeichnerstaaten nicht das Recht, Auslieferungen wegen entgegenstehender nationaler Grundrechte zu verweigern. Ob – und in welchem Umfang – auf seiner Basis
deutsche Grundrechte gleichwohl einer Auslieferung entgegenstehen können, ob
dem Übereinkommen insbesondere durch eine pauschale Absenkung des Grundrechtsstandards Rechnung getragen werden muss, ist umstritten. Letztlich kann eine
a priori wirkende, generelle Absenkung des Grundrechtsschutzes, wie sie vor allem
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu Grunde zu liegen scheint,
das ein Auslieferungshindernis erst bejaht, wenn ein Verstoß gegen völkerrechtlich
verbindliche Mindeststandards oder unabdingbare verfassungsgerichtliche Grundsätze der deutschen öffentlichen Ordnung vorliegt, nicht begründet werden. Insbesondere kann eine solche Absenkung der Grundrechtsstandards nicht auf die Prinzipien der Offenheit oder Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes gestützt werden. Denn jedes dieser Prinzipien ist dem Einwand ausgesetzt, grundgesetzliche
Wertungen zu überspielen.
Auch ohne pauschale Zurücknahme des Grundrechtsschutzes fehlt es jedoch an
einem auslieferungsbedingten Eingriff, wenn dem Verfolgten im ersuchenden Staat
vergleichbare rechtsstaatliche Gewährleistungen konkret zugute kommen (Kompensations- und Kombinationsgedanke). Nicht aber darf der Verfolgte kraft einer sich
für ihn negativ auswirkenden Verklammerung unterschiedlicher Verfahrensstadien
durch die „Maschen“ der Verfahrensteilung einer international arbeitsteiligen Strafverfolgung fallen, wie dies insbesondere auf Grundlage des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung denkbar erscheint.
Allerdings können die mit Auslieferungen einhergehenden Eingriffe – auch in
vorbehaltlos gewährte Grundrechte – in weitem Umfang gerechtfertigt werden.
279
Denn zum einen erscheint die Teilnahme am Auslieferungsverkehr generell als
ein wesentlicher Baustein rechtsstaatlich gebotener (mittelbarer)Strafverfolgung,
wobei insoweit an die ersuchenden Staaten nicht derart überspitzte rechtsstaatliche
Anforderungen gestellt werden dürfen, dass der Auslieferungsverkehr letztlich zum
Erliegen käme. Zum anderen vermögen Auslieferungen – mit je nach zu Grunde liegendem Delikt variierendem Gewicht – einen Beitrag zur Wiederherstellung materieller Gerechtigkeit sowie dazu zu leisten, dass international-generalpräventiv der
Schutz grundgesetzlich ableitbarer Rechtsgüter konturiert wird.
Entgegen der „statischen“ Einheits- und Mischformel des Bundesverfassungsgerichts verschaffen sich die Grundrechte des Verfolgten in Konsequenz der hier vertretenen Abwägung zwischen dem verfassungsrechtlichen Interesse an der Bewilligung einer Auslieferung im konkreten Fall und den vom Verfolgten zu tragenden
Belastungen einzelfallabhängig – „elastisch“ – Geltung. Wenn auch die Rechtsprechung letztlich entgegen der „Einheits- und Mischformel“ zu einer stärker einzelfallbezogenen Sichtweise gelangt, so deswegen, weil sie auf verfahrensrechtlicher
Ebene bei der Frage der Anforderungen an die Annahme drohender Grundrechtsverletzungen im ersuchenden Staat flexibel agiert.
Gelten einerseits die deutschen Grundrechtsstandards auch bei Auslieferungen
auf Grundlage von Verträgen ohne Grundrechtsvorbehalt uneingeschränkt, ist andererseits der Rahmenbeschluss umgekehrt als ein Akt des gegenüber dem Grundgesetz nachrangigen Völkerrechts zu qualifizieren, so müssen die deutschen Auslieferungsbehörden kraft Grundgesetzes von der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls bei einer vorhersehbar drohenden Grundrechtsverletzung des Verfolgten im
Ausstellungsstaat absehen. Unionsrechtlich verweigert werden darf die Vollstreckung des Haftbefehls aber nur, wenn der Rahmenbeschluss überhaupt einen Grundrechtsvorbehalt enthält, und dieser mitgliedstaatliche und nicht europäische Grundrechte zum Maßstab erhebt. An der letzten der beiden Voraussetzungen fehlt es.
Zwar ist die unklare Regelung des Art. 1 Abs. 3 RbEuHb trotz des dem Europäischen Haftbefehl zu Grunde liegenden Anerkennungsgedankens als umfassender
Grundrechtsvorbehalt zu verstehen. Doch nimmt der lediglich europäische und nicht
mitgliedstaatliche Grundrechte in Bezug. Praktisch dürften die Fälle, in denen deutsche und europäische Grundrechtsstandards in einem auslieferungsrechtlichen Kontext auseinander fallen, gering sein, zu leugnen sind sie jedoch nicht. Insoweit genügt ein Hinweis auf eine im Ausstellungsstaat drohende verschuldensunabhängige
Verurteilung, die im Widerspruch zu einem deutschen Schuldprinzip steht, dem auf
europäischer Ebene zumindest kein vergleichbar klar konturiertes Pendant gegenübersteht.
Kapitel 3: Das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit
Mit dem Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit schränkt der Europäische Haftbefehl
eine zentrale Voraussetzung des traditionellen Auslieferungsrechts ein. Eine Beur-
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teilung dieser Neuerung setzte voraus, sich die Funktion des Erfordernisses zu vergegenwärtigen.
Traditionell wurde die Bedeutung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit in
erster Linie in der Absicherung von Gegenseitigkeitsgrundsatz und Souveränitätsinteressen des ersuchten Staates gesehen. Erst später wurde begonnen, dessen rechtsstaatliche Funktion zu diskutieren. Insoweit lassen sich drei Gruppen unterscheiden:
diejenigen, die das Erfordernis aus rechstaatlichen Gründen in seiner gegenwärtigen
Form für unverzichtbar halten, sei es aus Gründen des Nullum-Crimen-Grundsatzes,
sei es wegen eines verfassungsrechtlichen Verbotes widersprüchlichen Verhaltens
oder des Demokratieprinzips; andere, die das Erfordernis grundsätzlich für berechtigt halten, aber für dessen differenzierte Weiterentwicklung plädieren; und schließlich eine dritte Gruppe, die das Erfordernis in einer rechtsstaatlich-individualschützenden Perspektive für überflüssig halten.
Da jede Auslieferung prinzipiell unter einem umfassenden Grundrechtsvorbehalt
steht, kann die Frage richtiger Weise nicht lauten, ob das Erfordernis beiderseitiger
Strafbarkeit aus Gründen des Grundrechtsschutzes unverzichtbar ist, sondern nur,
wie zielgenau es einfachrechtlich der Wahrung individualschützender Verfassungsgrundsätze dient., insbesondere solcher, die das materielle Strafrecht prägen: Nullum-Crimen-Grundsatz, allgemeiner Bestimmtheitsgrundsatz, Schuldprinzip, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Eine Antwort auf diese Frage kann nur finden, wer das
Fehlen des Erfordernisses unterstellt und die Konsequenzen für die genannten Verfassungsgrundsätze betrachtet.
Die Anwendung des Nullum-Crimen-Grundsatzes gem. Art. 103 Abs. 2 GG setzt
das Vorliegen einer Strafe voraus. Nicht muss diese von deutschen Gerichten ausgesprochen worden sein. Isoliert betrachtet kann die Auslieferungsentscheidung mangels Strafcharakters Art. 103 Abs. 2 GG damit nicht verletzen. Anderes gilt aber,
sofern das Urteil im ersuchenden Staat in die Betrachtung einbezogen wird. Eine auf
Grund der Bewilligung der Auslieferung den deutschen Behörden zurechenbare
Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG droht insoweit dann, wenn das ausländische Urteil in einer auch den deutschen Behörden offensichtlichen Weise die Anforderungen des Nullum-Crimen-Grundsatz missachtet (z.B. weil der dortige Straftatbestand
erst tatnachfolgend geschaffen wird). Problematischer ist der Fall, in denen der dem
Ersuchen zu Grunde liegende Tatbestand für sich betrachtet zwar den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügen würde, seine Anwendung auf das dem Auslieferungsersuchen zu Grunde liegende Geschehen aber überraschend und für den Verfolgten im Zeitpunkt des Handelns nicht erkennbar erscheint. Diese Gefahr besteht
insbesondere dann, wenn der ersuchende Staat über ein konturenlos weites Strafanwendungsrecht verfügt. Insoweit ist die von Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistete Orientierungsfunktion auch auf das Strafanwendungsrecht zu erstrecken. Diese Orientierungsfunktion liefe leer, wenn die Strafnorm des verurteilenden Staates für sich
genommen zwar eindeutig wäre, die Norm den Handelnden aber gleichsam überfiele. Die Erkennbarkeit der maßgeblich anwendbaren Strafrechtsnorm und die Ver-
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lässlichkeit deren Inhalts – der Blick ‚zum’ und ‚in’ das Gesetz – stellen so zwei
gleichwertige Elemente der von Art. 103 Abs. 2 GG gewährten Orientierungsmöglichkeit.
Im Zeitpunkt seines Handelns kann dem Verfolgten die Anwendbarkeit der maßgeblichen Strafnorm des ersuchenden Staates aus verschiedenen Gründen erkennbar
sein: Wer Angehöriger des ersuchenden Staates ist, wird regelmäßig dessen Strafnormen in Rechnung stellen; Gleiches gilt, wenn die Tat in sonstiger Weise einen
erkennbaren Bezug zum ersuchenden Staat aufweist, sei es, weil der Verfolgte dort
gehandelt hat, sei es, weil der Erfolg erkennbar auf den ersuchenden Staat bezogen
gewesen ist. Anders ist es hingegen, wenn keiner dieser Gesichtspunkte eingreift. In
diesem Fall ist für den Verfolgten im Zeitpunkt der Tat der strafbewährte Normbefehl des ersuchenden Staates nur dann erkennbar, wenn am Tatort eine entsprechende Strafnorm gilt. Die Existenz einer solchen, zur Wahrung des Nullum-Crimen-
Grundsatzes erforderlichen Tatortstrafbarkeit vermag – zumindest für ein Geschehen
in Deutschland und auf auslieferungsrechtlicher Ebene – ein Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit im deutschen Auslieferungsrecht abzusichern.
Eindeutiger noch als aus Perspektive des Nullum-Crimen-Grundsatzes ist die Tatortstrafbarkeit und damit das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit geboten, um in
Fällen ohne erkennbaren Bezug zum ersuchenden Staat aus Perspektive des verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatzes zu gewährleisten, dass den Verfolgten im Zeitpunkt seines Handelns die Appellfunktion der Strafnorm erreicht. Soweit das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit dies gewährleistet, ist es auch aus Perspektive des
Schuldprinzips verfassungsrechtlich geboten.
Auch vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kann eine verfassungsrechtliche Relevanz des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit bejaht
werden. Ausgehend von der Auslieferungsentscheidung als Abwägung zwischen
den mit ihr verfolgten Zwecken und Eingriffen in die Grundrechte des Verfolgten
konturiert das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit auf Seiten der verfassungsrechtlichen Zwecke international-generalpräventiv die von der deutschen Rechtsordnung gezogene Grenze zwischen strafrechtlich und nicht strafrechtlich geschützten
Rechtsgütern. Auf Seiten der vom Verfolgten betroffenen Grundrechte wirkt das Erfordernis als Indikator dafür, wie schutzwürdig die Belange des Verfolgten im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind. So dokumentiert eine (sinngemäße)
Strafbarkeit in Deutschland als ersuchtem Staat, dass dem Verfolgten aus dem Gesichtspunkt der Ingerenz höhere individuelle Lasten zuzumuten sind. Ebenfalls in
weiterem Umfang können dem Verfolgten die mit einer Auslieferung einhergehenden Lasten auferlegt werden, wenn er im Fall eines erkennbaren Bezugs seines Handelns zum ersuchenden Staat insoweit bewusst die Unwägbarkeiten des internationalen Rechtsverkehrs in Kauf genommen hat. Greift jedoch keiner der genannten Lastenzurechnungsgesichtspunkte ein, so stellt eine Auslieferung für ihn eine unzumutbare Belastung dar. Diesen Fall zu eliminieren vermag das Erfordernis beiderseitiger
Strafbarkeit.
282
Nicht kommt hingegen dem allgemeinen rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz oder einem etwaigen rechtsstaatlichen Verbot widersprüchlichen Verhaltens eine selbstständige Bedeutung zur verfassungsrechtlichen Begründung des auslieferungsrechtlichen Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit gegenüber Art. 103 Abs.
2 GG eine zu.
Zusammenfassend ergibt sich ein differenziertes Bild: Das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit erweist sich zur Vermeidung verfassungsrechtlicher Konflikte
dann als besonders treffsicher, wenn die Auslieferung wegen des zu Grunde liegenden Handelns des Verfolgten mangels erkennbaren Bezugs zum ersuchenden Staat
verfassungsrechtlich besonders konfliktträchtig ist. Anderes gilt, wenn Konflikte mit
individualschützenden Gewährleistungen des Grundgesetzes wegen eines solchen
erkennbaren Bezugs zum ersuchenden Staat weniger wahrscheinlich sind. Diese Differenzierung ähnelt derjenigen des Bundesverfassungsgerichts aus der Entscheidung
zum Europäischen Haftbefehl, unterscheidet sich aber in dreierlei Hinsicht: Erstens
kommt es nicht auf irgendeinen Auslandsbezug an, sondern auf einen solchen zum
ersuchenden Staat; Präziser als auf einen maßgeblichen Bezug ist zweitens auf einen
erkennbaren abzustellen; Drittens gelten die Überlegungen gleichermaßen für Ausländer wie für Deutsche.
Insgesamt erscheint das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit in seiner herkömmlichen, maßgeblich durch das europäische Auslieferungsübereinkommen von
1957 geprägten Gestalt damit zwar grundsätzlich geeignet, verfassungsrechtliche
Konflikte auszuschalten. Doch erweist es sich insoweit als wenig zielgenau. Daher
wird de lege ferenda für eine differenzierte Anwendung plädiert: In Fällen ohne erkennbaren Bezug zum ersuchenden Staat sollte grundsätzlich an ihm festgehalten
werden. Besteht ein erkennbarer Bezug zum ersuchenden Staat, hängt eine rechtspolitische Berechtigung des Erfordernisses davon ab, in welchem Umfang die Strafrechtsordnung des ersuchenden Staates bzw. das System der Strafrechtsordnungen in
einem multilateralen Auslieferungsverband mit derjenigen Deutschlands übereinstimmt. Volle rechtspolitische Berechtigung kann das Erfordernis schließlich nur
dann beanspruchen, wenn es rechtsaktspezifisch justiert, also auf den Schutz solcher
Verfassungsprinzipien zugeschnitten wird, die in einem bestimmten Bereich der
Rechtshilfe ihren Niederschlag finden.
Mit der Bestimmung der verfassungsrechtlichen Funktion des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit ist bereits die Grundlage für ein Urteil darüber gelegt, wie
kritikwürdig die Einschränkung des Erfordernisses im Rahmenbeschluss über den
Europäischen Haftbefehl ist. Notwendiger Zwischenschritt für eine abschließende ist
allerdings noch, im Wege der Auslegung des Rahmenbeschlusses die genaue
Reichweite der Einschränkung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit näher
zu bestimmen.
Eine genauere Betrachtung von Art. 2 RbEuHB als Zentralnorm des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit im Europäischen Haftbefehl vermag die verbliebene
Reichweite des Erfordernisses wie folgt zu präzisieren:
283
Der Vollstreckungsstaat ist befugt, die Entscheidung des Ausstellungsstaates, die
dem Haftbefehl zu Grunde liegende Tat einer der Kategorien des Art. 2 Abs. 2
RbEuHb zuzuordnen, zu überprüfen und die Vollstreckung bei abweichender Einschätzung und sofern das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit nicht gewahrt ist, zu
verweigern. Allerdings müssen sich die Justizbehörden des Vollstreckungsstaates
insoweit auf eine Plausibilitätskontrolle beschränken.
Die Kategorien des Art. 2 Abs. 2 RbEuHb sind einer Präzisierung nur sehr eingeschränkt zugänglich. Weder lässt sich ein ihnen übereinstimmend zu Grunde liegender Normzweck ermitteln, noch gestatten mitgliedstaatliche Definitionen mehr als
eine nur grobe Orientierung, da zwischen den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Kategorien keine hinreichende Übereinstimmung – Manacorda spricht von „Präharmonisierung“ – besteht. Nicht dürfen die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Umsetzungsgesetze die Kategorien des Art. 2 Abs. 2 RbEuHb ausfüllen, wie dies etwa in Italien
geschehen ist, und der EuGH in seiner Entscheidung zum Europäischen Haftbefehl
zu billigen scheint. Denn in dem Bemühen, die Kategorien in subsumtionstaugliche
Tatbestände umzuformen, verengen die Mitgliedstaaten sie zwangsläufig. Zugleich
gehen derartig handelnde Mitgliedstaaten damit an der Tatsache vorbei, dass die Kategorien nicht auf eine trennscharfe Subsumtion, sondern von vornherein nur auf eine lose Zuordnung angelegt sind.
In den EuGH sollten hinsichtlich der Präzisierung der Kategorien des Art. 2 Abs.
2 RbEuHb keine übermäßigen Hoffnungen gesetzt werden, weil angesichts der
durchschnittlichen Verfahrensdauer von Vorabentscheidungsverfahren (Art. 35 EU)
einerseits und dem auch für Auslieferungsverfahren geltenden Beschleunigungsgrundsatz andererseits davon auszugehen ist, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte
von Vorlagen im Kontext des Europäischen Haftbefehls nur sehr zurückhaltend
Gebrauch machen werden.
Auch Art. 4 RbEuHb können Hinweise für die verbliebene Reichweite des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit im Rahmenbeschluss entnommen werden:
Art. 4 Nrn. 2 und 3 RbEuHb – fakultative Vollstreckungsverweigerung, sofern
der Verfolgte bereits im Vollstreckungsmitgliedstaat wegen derselben Handlung
verfolgt wird oder dort beschlossen wurde, wegen derselben Tat kein Verfahren einzuleiten bzw. das Verfahren einzustellen – versagt den Justizbehörden des Vollstreckungsstaates nicht, den eingehenden Europäischen Haftbefehl erst zum Anlass für
eigene Ermittlungen zu nehmen und dann eine Übergabe unter Hinweis auf die Art.
4 Nrn. 2 und 3 RbEuHb zu verweigern. Insoweit kann den Regelungen kein „Prioritätsprinzip“ – der zuerst ermittelnde Staat genießt Vorrang – entnommen werden.
Denn eine solche Regelung griffe über das Auslieferungsrecht hinaus und in das
vom Europäischen Haftbefehl nicht erfasste Strafverfahrensrecht der Mitgliedstaaten
ein. Nicht mehr auf die Art. 4 Nrn. 2 und 3 RbEuHb berufen können sich die Mitgliedstaaten erst, wenn ihr Handeln allein den Zweck verfolgt, das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit entgegen Art. 2 Abs. 2 RbEuHb zu reaktivieren.
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In Ausnahme zu Art. 2 Abs. 2 RbEuHb kommen die Justizbehörden des Vollstreckungsstaates nicht an einer Prüfung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit
vorbei, sofern der Vollstreckungsstaat von Art. 4 Nr. 4 RbEuHb – Verweigerungsvorbehalt bei Verjährung und Anwendbarkeit des eigenen Strafrechts – Gebrauch
gemacht hat, und Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein Fall der Verjährung vorliegt.
Der Vollstreckungsstaat kann sich auf Art. 4 Nr. 6 RbEuHb – Übergabeverweigerung bei Vollstreckungsübernahme des Vollstreckungsstaates – nur berufen, wenn
nach seinem Recht auch die Voraussetzungen der Vollstreckungsübernahme gewahrt sind. Nicht kann er damit Art. 4 Nr. 6 RbEuHb einer Übergabe in Anwendung
von Art. 2 Abs. 2 RbEuHb entgegensetzen, sofern das Erfordernis beiderseitiger
Strafbarkeit nicht gewahrt ist, sein Vollstreckungsübernahmerecht dies aber verlangt.
Der Vollstreckungsverweigerungsgrund des Art. 4 Nr. 7 lit. a und b RbEuHb –
die in Frage stehenden Taten sind auf dem Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaates
oder außerhalb des Ausstellungsstaates verübt worden, ohne dass das Strafanwendungsrecht des Vollstreckungsstaates umgekehrt entsprechende Sachverhalte erfassen würde – ist Ausdruck eines für das Strafanwendungsrecht beibehaltenen Beiderseitigkeitsgedankens. Nicht gestatten sie allerdings den Schluss, der Vollstreckungsstaat könne die Übergabe erst recht verweigern, wenn sich die Frage nach der
Reichweite des Strafanwendungsrechts deswegen nicht stellt, weil das Verhalten
nach seinen Regelungen schon nicht strafbar ist. Denn diese Ausdehnung der Vorschrift ist von dem primär in ihm zum Ausdruck kommenden Gegenseitigkeitsgedanken nicht gedeckt.
Da Art. 4 Nr. 7 lit. a RbEuHb all die Fälle erfasst, in denen der Verfolgte im Anwendungsbereich des Strafrechts des Vollstreckungsstaates handelt, schaltet die Regelung diejenigen Problemfälle aus der Fallgruppe des nicht erkennbaren Bezugs
zum ersuchenden Staat aus, die sich aus dem Fehlen einer Tatortstrafbarkeit im
Vollstreckungsstaat selbst ergeben. Nicht beseitigt wird damit aber die Problemkonstellation des dem Haftbefehl zu Grunde liegenden Handelns in einem Drittstaat,
das dort und im Vollstreckungsstaat nicht strafbar ist. Eine Lösung für diese Fälle
bietet demgegenüber Art. 4 Nr. 7 lit. b RbEuHb, doch gilt dies nur, wenn der Vollstreckungsstaat selbst über ein Strafanwendungsrecht verfügt, dessen Reichweite
hinter derjenigen des Strafanwendungsrechts im ersuchenden Staat signifikant zurückbleibt. Anderenfalls verlängert das in der Regelung zum Ausdruck kommende
völkerrechtliche Gegenseitigkeitsprinzip die rechtsstaatlichen Einwände gegen ein
weites Strafanwendungsrecht auf eine auslieferungsrechtliche Ebene. Insgesamt
vermag Art. 4 Nr. 7 RbEuHb somit zwar einen erheblichen Teil, nicht aber sämtliche der rechtsstaatlich problematischen Fallkonstellationen bei Verzicht auf ein Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit auszuschalten.
Da auch die Annahme einer das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit entbehrlich machenden hinreichenden Präharmonisierung unbegründet ist, können verbleibende, mit der Einschränkung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit einhergehende Problemfälle allein unter Rückgriff auf den Grundrechtsvorbehalt des Art.
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1 Abs. 3 RbEuHb in Verbindung mit Europäischen Grundrechten beseitigt werden.
Damit spitzt sich die Frage nach der rechtsstaatlichen Bilanz des Europäischen
Haftbefehls aus einer deutschen Perspektive darauf zu, inwieweit sich der europäische Standard hinsichtlich der das materielle Strafrecht prägenden Prinzipien mit
demjenigen Deutschlands deckt.
Ebenso wie gegen Art. 103 Abs. 2 GG dürfte der Problemfall einer Bestrafung im
Fall eines Handels ohne erkennbaren Bezug zum Urteilsstaat und ohne Tatortstrafbarkeit gegen die Anforderungen des europäischen Nullum-Crimen-Grundsatzes
gem. Art. 7 EMRK verstoßen. Denn dieser entspricht weitgehend den Vorraussetzungen des Art. 103 Abs. 2 GG. Dabei misst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der insoweit besonders relevanten Erkennbarkeit der maßgeblichen
Norm sogar in noch eindeutigerer Weise Bedeutung zu als das Bundesverfassungsgericht.
Während sich Auslieferungen ohne erkennbaren Bezug zum ersuchenden Staat
für ein in Deutschland nicht strafbares Verhalten aus deutscher Perspektive ferner
als unverhältnismäßige Aufopferung des Verfolgten zu Gunsten der Funktionsfähigkeit der internationalen Strafverfolgung dargestellt haben, dürfte sich insoweit allerdings anderes aus einer unionsrechtlichen Perspektive ergeben. Denn derjenige, der
sich in irgendeinem Mitgliedstaat strafbar gemacht hat, erscheint zugleich als Störer
eines sich aus den Einzelrechtsordnungen konstituierenden Gemeinsamen Raumes
der Freiheit, Sicherheit und des Rechts gem. Art. 29 EU. Was aus grundgesetzlicher
Perspektive somit noch schonungswürdiger Nichtstörer ist, wird aus Unionsperspektive gewissermaßen zu einem „Europäischen Störer“, dem in sehr viel weiterem
Umfang die Zumutungen einer unionsinternen Auslieferung auferlegt werden können.
Die Betrachtung der Veränderungen im Bereich des Erfordernisses beiderseitiger
Strafbarkeit bestätigt Vorbehalte gegen den Anerkennungsgedanken, so wenig dieser auch im Rahmenbeschluss seinen Niederschlag gefunden hat. Als zentraler konstruktiver Mangel erweist es sich, das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit einzuschränken, ohne zugleich das Strafanwendungsrecht der Mitgliedstaaten aufeinander
abzustimmen. Diese Verklammerung von verschiedenen Strafrechtsordnungen führt
so zu Verwerfungen mit potentiell rechtsstaatswidrigen Konsequenzen. Mit Sorge
betrachtet wurden derartige, durch den Anerkennungsgedanken bedingten Verwerfungen bisher vor allem in einer als vertikal zu bezeichnenden Richtung. Gemeint ist
damit das Phänomen derartiger Lücken in den Verfolgtenrechten, die ihren Grund in
einer Verklammerkung unterschiedlicher Verfahrensstadien haben. Demgegenüber
droht der Verfolgte mit dem Europäischen Haftbefehl durch die „Maschen eines unabgestimmten Verhältnisses von Strafanwendungs- und Auslieferungsrecht zu fallen“, ohne dass es hierfür einer Kombination unterschiedlicher Verfahrensstadien
bedürfte. Diese Verwerfung lässt sich daher als horizontal bezeichnen.
Zwar dürfte – als letzter Filter – der Grundrechtsvorbebalt des Art. 1 Abs. 3
RbEuHb letztlich geeignet sein, rechtsstaatswidrige Ergebnisse in weitem Umfang
zu vermeiden. Doch stellt dieser Rückgriff auf einen Ordre Public-Vorbehalt gerade
das Gegenteil gegenseitiger Anerkennung dar.
286
Zu relativieren ist insbesondere angesichts Art. 4 Nr. 7 RbEuHb demgegenüber
die Befürchtung, mit der im Rahmenbeschluss angelegten Einschränkung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit setze sich stets die punitivere der von einem
Auslieferungsverfahren berührten Strafrechtsordnungen gleichsam automatisch
durch. Denn macht der Vollstreckungsstaat von Art. 4 Nr. 7 lit. a RbEuHb
Gebrauch, so kann er verhindern, dass der Ausstellungsstaat hinsichtlich eines Handelns im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaates dessen Entscheidung unterminiert,
das Handeln nicht zu kriminalisieren. Gleiches gilt nach Art. 4 Nr. 7 lit. b RbEuHb:
Hat sich der Vollstreckungsstaat insoweit gegen ein scharfes Strafrecht entschieden,
als er es nur zurückhaltend auf Auslandssachverhalte anwendet, so ermöglicht ihm
der in der Regelung verkörperte Gegenseitigkeitsgedanke, eine entsprechende Zurückhaltung vom Ausstellungsmitgliedstaat einzufordern.
Auch die Sorge vor einem „Forum Shopping“ – so angezeigt sie auch bei anderen
Projekten zur Verwirklichung des Anerkennungsgedankens sein mag (Europäischer
Staatsanwalt), erscheint im Fall des Europäischen Haftbefehls nicht berechtigt.
Kapitel 4: Die Auslieferung eigener Staatsangehöriger
Nach Art. 16 Abs. 2 GG darf kein Deutscher an das Ausland ausgeliefert werden,
doch kann durch Gesetz eine abweichende Regelung u.a. für Auslieferungen an einen EU-Mitgliedsstaat getroffen werden, „soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind“. Auch sofern Deutsche nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ausgeliefert werden können, geht ihr Schutz vor Auslieferung strukturell deswegen über denjenigen
von Ausländern hinaus, weil – abgesehen von den regelmäßig, aber nicht zwangsläufig größeren mit der Auslieferung einhergehenden Belastungen – das besondere
Gewicht des eingeschränkten Auslieferungsverbotes nach Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG
im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung stets und exklusiv bei der Auslieferung Deutscher zu beachten ist. Insoweit lässt sich auch nach Einschränkung von
Art. 16 Abs. 2 GG von einem staatsangehörigkeits-akzessorisch abgestuften Schutz
vor Auslieferung sprechen. Allerdings dürften die Unterschiede im Schutz vor Auslieferung von Ausländern und Deutschen nur quantitativer und nicht qualitativer Art
sein und nicht ausschließen, dass Ausländern in Einzelfällen ein vergleichbarer
Schutz vor Auslieferung zu teil wird. Denn was Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG für Deutsche mit den Worten des Bundesverfassungsgerichtes als „Erwartung einer Strukturentsprechung“ klarstellt, folgt bei Ausländern aus den allgemeinen Grundrechten.
Nicht kann ein erweiterter Schutz Deutscher vor Auslieferung aus dem Schutz der
Staatsangehörigkeit nach Art. 16 Abs. 1 GG abgeleitet werden, weil letztere durch
Auslieferungen schon nicht in Frage gestellt wird.
Trotz eines grundsätzlich abgestuften Schutzes vor Auslieferung kann Art. 16
Abs. 2 GG damit ein prinzipielles „auslieferungsrechtliches Abstandsgebot“ – bezogen auf die Differenz zwischen dem Schutz von Deutschen und Ausländern vor
Auslieferung – nicht entnommen werden.
287
Ein prinzipiell gesteigerter Schutz eigener Staatsangehöriger vor Auslieferung
wäre auch nicht mit europarechtlichen Vorgaben vereinbar. Eine solche Abstufung
findet – abgesehen von dem Spezialfall der Übergabe zur Strafvollstreckung – im
Rahmenbeschluss selbst keine Grundlage. Ferner steht er im Widerspruch zu dem
gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbot (Art. 12 EG), das in Auslieferungsfällen kraft des regelmäßig einschlägigen Freizügigkeitsrechts (Art. 18 EG)
anwendbar ist: Insoweit liegt die Privilegierung eigener Staatsangehöriger hinsichtlich des Schutzes vor Auslieferung nicht als Ausdruck einer besonderen Beziehung
von Mitgliedstaat zu eigenen Staatsangehörigen außerhalb der tatbestandlichen
Grenzen des gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbotes; Auch lässt sich
ein prinzipiell ungleicher Auslieferungsschutz gemeinschaftsrechtlich nicht rechtfertigen. Denn ausnahmslos einschlägige, objektive und von der Staatsangehörigkeit
der Betroffenen unabhängige sowie mit einem derart differenzierten Auslieferungsschutz in verhältnismäßiger Weise verfolgte Erwägungen sind nicht ersichtlich.
Da allerdings Art. 16 Abs. 2 GG nach hier befürwortetem Verständnis trotz einer
grundsätzlich fortbestehenden staatsangehörigkeitsbedingten Abstufung im Auslieferungsschutz einer Angleichung des Schutzes vor Auslieferung von Deutschen und
EU-Bürgern im Einzelfall nicht entgegensteht, erscheint auch eine gemeinschaftsrechtskonforme, den Anforderungen von Art. 12, 18 EG Rechnung tragende Auslegung der Regelung möglich.
Kapitel 5: „Benachbarte“ Rechtsakte: Deutsches Umsetzungsgesetz und
Reformvertrag
Das zweite deutsche Umsetzungsgesetz vermag im Spannungsfeld von grundgesetzlichen und europarechtlichen Vorgaben nur teilweise zu überzeugen:
§ 73 S. 2 IRG hätte wegen des Vorrang des Grundgesetzes vor dem Unionsrecht
statt auf einen europäischen ordre public auf einen deutschen abstellen müssen.
§ 40 Abs. 2 Nr. 1 IRG dokumentiert durch die Hinzuziehung eines Beistandes bei
Zweifeln, ob die Voraussetzungen der §§ 80 und 81 Nr. 4 IRG (Zuordnung zu einer
der „Listentaten“ des Art. 2 Abs. 2 RbEuHb) vorliegen, dass der Bundesgesetzgeber
insoweit von einer Prüfungsdichte ausgeht, die über die in Art. 2 Abs. 2 RbEuHb
angelegte Schlüssigkeitskontrolle hinausgeht.
Der die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtes zur Auslieferung Deutscher umsetzende § 80 IRG kann nicht überzeugen. Generell leidet § 80 IRG darunter, dass er den besonderen Schutz vor Auslieferung in Fällen ohne maßgeblichen
Bezug zum ersuchenden Staat auf Deutsche beschränkt, und ihn nicht auch auf EU-
Ausländer aus einem anderen als dem ersuchenden Staat erstreckt.
Zutreffend differenziert der Gesetzgeber nach § 80 Abs. 1 IRG hinsichtlich der
Schutzwürdigkeit des Verfolgten danach, ob dessen Handeln einen Bezug zum ersuchenden, und nicht nur pauschal – wie vom Bundesverfassungsgericht nahe gelegt –
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zu irgendeinem anderen Staat aufweist. Allerdings hätte der Gesetzgeber durch das
Abstellen auf einen erkennbaren statt auf einen maßgeblichen Bezug den entscheidenden Gesichtspunkt deutlicher machen und das komplizierte Regel-Ausnahme-
Verhältnis nach § 80 IRG vermeiden können.
Ungerechtfertigt schutzintensiv und nicht mit den Art. 2 Abs. 2, 4 Nr. 7 RbEuHb
vereinbar erscheint § 80 Abs. 2 Nr. 2 IRG, sofern er Deutsche für Inlandstaten prinzipiell vor Auslieferung schützt. Den schutzwürdigen Belangen Deutscher hätte
vielmehr durch eine Beibehaltung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit und
die Gewähr der Achtung rechtsstaatlicher Grundsätze im Ausstellungsstaat hinreichend Rechnung getragen werden können.
Insgesamt befriedigend gelöst erscheint demgegenüber die Synchronisierung von
Auslieferung und Vollstreckungsübernahme, indem § 80 Abs. 4 IRG europarechtskonform und verfassungsrechtlich unbedenklich ausnahmsweise einen Verzicht auf
das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit bei der Vollstreckungsübernahme vorsieht.
Bei einer Deutschen vergleichbaren Schutzwürdigkeit von EU-Ausländern vor
Auslieferung müssen die Auslieferungsbehörden in europarechtskonformer Auslegung kraft Ermessensreduzierung auf Null von der nach § 83 lit. b Abs. 2 IRG eigentlich fakultativen Gleichstellung von Ausländern und Deutschen hinsichtlich des
nach § 80 IRG gewährten Schutzes vor Auslieferung Gebrauch machen.
Weitreichende Konsequenzen für das Spannungsfeld des Europäischen Haftbefehls zwischen Grundgesetz und Europäischem Primärrecht wird der Ende 2007 unterzeichnete sog. Reformvertrag haben. Insbesondere werden nach Ablauf einer
fünfjährigen Übergangsfrist dem Rahmenbeschluss die Rechtswirkungen supranationalen Gemeinschaftsrechts zukommen. Fortan werden seine Regelungen somit
Vorrang vor dem Grundgesetz genießen. Die beobachteten Verwerfungen zwischen
Grundgesetz und Europarecht (Unionsrecht) sind fortan also nicht mehr zu Gunsten
des Grundgesetzes, sondern zu Gunsten der europarechtlichen Vorgaben aufzulösen.
Eine signifikante Änderung bedeutet auch die explizite Aufnahme des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung in die Regelungen über die Strafrechtszusammenarbeit. Nicht behoben ist damit aber das Grundproblem des Grundsatzes gegenseitiger
Anerkennung, keine verallgemeinerungsfähige Aussage zu Subjekt, Gegenstand und
damit Richtung der Anerkennungspflicht zu treffen.
Kapitel 6: Zusammenführende Überlegungen
Insgesamt hat die Untersuchung rechtsstaatlich-individualschützend motivierte Vorbehalte gegen den Europäischen Haftbefehl bestätigt: grundgesetzliches „Dürfen“
und europarechtliches „Müssen“ stehen einander insoweit nicht konfliktfrei gegen-
über. Insbesondere in Fällen ohne erkennbaren Bezug zum ersuchenden Staat sind
Europäische Haftbefehle denkbar, die auf Grundlage des Rahmenbeschlusses vollstreckt werden müssten, nicht aber vollstreckt werden dürften, sofern man die Anforderungen des Grundgesetzes ernst nimmt.
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Ebenfalls bestätigt wurden Vorbehalte gegen den Grundsatz gegenseitiger Anerkennung. So begrenzt der Anerkennungsgedanke im Rahmenbeschluss zur Anwendung kam, als so problematisch hat er sich insbesondere dort erwiesen, wo mit ihm
eine Einschränkung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit einhergeht. Die
bedenkliche Einschränkung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit, die der
Rahmenbeschluss mit sich gebracht hat, ist deswegen um so ärgerlicher, weil damit
eine gute Gelegenheit verpasst wurde, es zum Schutze von Grundrechten zielgenauer zu justieren.
Insgesamt findet die von Grenzkontrollen befreite Freizügigkeit innerhalb des
Schengenraums in dem weitgehend ungehinderten transnationalen „Verkehr der
Strafverfolgten“ auf Grundlage des Europäischen Haftbefehls ihr repressives Gegenstück. Die mit der Auslieferung eigener Staatsangehöriger und der Einschränkung
des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit bei unverändert weitem Strafanwendungsrecht einhergehende parallele Öffnung zentraler Stellschrauben des europäischen Strafrechts zieht Verwerfungen nach sich, die in Einzelfällen die Gefahr
grundgesetzwidriger Ergebnisse bergen. Zugleich geht mit ihr eine neue Dimension
individueller Lastentragung im Rahmen der transnationalen-europäischen Strafverfolgung einher. Insoweit zahlen Deutsche und Unionsbürger insgesamt mit dem Europäischen Haftbefehl einen erheblichen Preis für die Freiheitsgewinne in einem
gemeinsamen, binnengrenzenfreien Raum.
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Zusammenfassung
Trotz seiner Eingriffsintensität hat die Europäische Kommission den Europäischen Haftbefehl zum Symbol einer EU-Strafrechtszusammenarbeit erhoben, die auf dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung beruht. Der Preis für den Anerkennungsgedanken ist der Abbau traditioneller Auslieferungsgrenzen wie des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit und der Nicht-Auslieferung eigener Staatsangehöriger. Stehen damit die Anforderungen des Europäischen Haftbefehls und der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes in Widerspruch zueinander? Um diese Frage zu beantworten, präzisiert der Autor die Reichweite der Einschränkungen traditioneller Auslieferungsgrenzen sowie deren grundrechtsschützenden Gehalt. So gelangt er zu einem differenzierten Befund: Das traditionelle Auslieferungsrecht mit seinen grundrechtsdogmatischen Ungereimtheiten war nicht so gut, der neue Anerkennungsmechanismus umgekehrt nicht so weit reichend, wie es in der Diskussion weithin den Anschein hat. Gleichwohl: Der unabgestimmte, kumulative Abbau von Auslieferungsgrenzen bestätigt letztlich die Sorge vor grundrechtswidrigen Verwerfungen in Folge des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung.