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barkeit beibehält.1258 Vor allem aber beschränken sich diese gegenüber dem herkömmlichen multilateral europäischen Auslieferungsrecht durchlässigeren Subsysteme auf rechtlich und vor allem sprachlich-kulturell nahe stehende Staaten. Für das
Verhältnis zwischen Irland und Großbritannien ist das offenbar, die nordischen Staaten kennzeichnet zumindest eine kulturelle Homogenität, die deutlich über diejenige
einer Litauen und Portugal, England und Rumänien bzw. Bulgarien umfassenden
EU hinausgeht.
Diese Überlegungen zu einer neuen Dimension individueller Lastentragung im
Rahmen der transnationalen-europäischen Strafverfolgung verdeutlichen, dass die
Unionsbürger mit dem Europäischen Haftbefehl einen hohen Preis für die Freiheitsgewinne in einem gemeinsamen, binnengrenzenfreien Raum zahlen.
B) Überlegungen de lege ferenda
Der Preis, den die Bürger Europas mit dem Europäischen Haftbefehl für den Freiheitszuwachs zahlen, der mit einer binnengrenzenfreien Union einhergeht, ist deswegen unverhältnismäßig hoch, weil der Europäische Haftbefehl einen Großteil der
Gewinne zu Gunsten einer effektiven Kriminalitätsbekämpfung auch dann erzielt
hätte, wenn die materiell-rechtlichen Auslieferungsgrenzen nicht in dem Umfang
abgebaut worden wären. Denn den deutlichsten Praktikabilitätszuwachs erzielt der
Haftbefehl auf verfahrensrechtlichem Terrain: bei der Verwendung eines einheitlichen Formulars, dem strengen Fristenregime und vor allem der Beseitigung des Bewilligungsverfahrens.
Vorschläge für eine alternative Gestaltung des europäischen Strafrechts im Allgemeinen und des Europäischen Haftbefehls im Besonderen gibt es von erheblicher
Reichweite und Ambition.1259 Die vorliegende Untersuchung vermag demgegenüber
eine Aussage zu möglichen Justierungen de lege ferenda nur nach Maßgabe dieser
Untersuchung zu geben, also aus deutscher Perspektive, bezogen auf den Rahmenbeschluss, begrenzt auf Grundrechtsgeltung, Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit
und Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger. Daraus ergibt sich Folgendes:
Zunächst sollten entgegenstehende Grundrechte des Vollstreckungsmitgliedstaates explizit als Vollstreckungsverweigerungsgrund vorgesehen werden:
"Die zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaates verweigern die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, wenn dem Verfolgten aufgrund der Übergabe eine Verletzung in den
Grundrechten des Vollstreckungsmitgliedstaates droht."
Während hinsichtlich der Auslieferung eigener Staatsangehöriger auf Ebene des
Rahmenbeschluss unter Zugrundelegung des hiesigen Untersuchungsergebnisses –
1258 Zum Verfahren in England im Fall eines irischen Haftbefehls s. Sections 1, 2 and 5 Backing
of Warrants (Republic of Ireland) Act 1965, Stone's Justices' Manual, 8-9920; gute Übersicht
auf den Seiten des Crown Prosecution Services, online abrufbar unter www.cps.gov.uk
/legal/section2/chapter_d.html (5.9.2008).
1259 Schünemann (Hrsg.), Gesamtkonzept; ders. (Hrsg.), Alternativentwurf.
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keine Differenzierung zwischen eigenen Staatsangehörigen und anderen Bürgern
anderer EU-Mitgliedstaaten – besteht, sind auf Grund des hier ermittelten Gehaltes
des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit insoweit folgende Ausgestaltungen
erwogen werden:
"Hat die dem Europäischen Haftbefehl zu Grunde liegende Handlung keinen erkennbaren Bezug zum Ausstellungsstaat, so verweigert der Vollstreckungsmitgliedstaat die Vollstreckung
des Europäischen Haftbefehls, sofern der Europäische Haftbefehl wegen einer Handlung erlassen wurde, die nach seinem Recht keinen Straftatbestand darstellt. Ein erkennbarer Bezug zum
Vollstreckungsstaat besteht, wenn der Verfolgte im Ausstellungsstaat gehandelt hat, dessen
Staatsangehörigkeit besitzt oder der Taterfolg einen im Zeitpunkt der Handlung für den Täter
ersichtlichen Bezug zum Ausstellungsstaat aufweist."
Abgesehen von dem Vorzug, rechtsstaatlichen Einwänden zu begegnen, hätte diese Lösung den Vorteil, von der unpraktikablen Listentechnik des Art. 2 Abs. 2
RbEuHb abzusehen.
C) Zusammenfassung
Kapitel 1: Grundlagen – Überblick zu herkömmlichem Auslieferungsrecht und Europäischem Haftbefehl, Rechtsnatur des Rahmenbeschlusses, Grundsatz
gegenseitiger Anerkennung
Der mit dem Europäischen Haftbefehl einhergehende Abbau traditioneller materieller Auslieferungsgrenzen – insbesondere des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit und der Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger – hat Anlass zu der Befürchtung gegeben, Vorgaben des Rahmenbeschluss könnten hinter individualschützend-rechtsstaatlichen Anforderungen des Grundgesetzes zurückbleiben. Gleiches
gilt für den im Europäischen Haftbefehl betonten Grundsatz gegenseitiger Anerkennung, der die Frage aufwirft, inwieweit Auslieferungen wegen entgegenstehender
deutscher Grundrechte verweigert werden dürfen. Ob die Befürchtungen begründet
sind, untersucht die vorliegende Arbeit.
Der Europäische Haftbefehl tritt an die Stelle eines auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen von 1957 als „Mutterkonvention“ aufbauenden, abgestuften
Systems multilateral-europäischen Auslieferungsrechts. Auch wenn die Hürden, die
Auslieferungen im traditionellen Recht entgegenstanden, innerhalb der EU in den
vergangenen Jahren bereits abgebaut wurden, nehmen sich die mit dem Europäischen Haftbefehl einhergehenden Veränderungen gleichwohl erheblich aus.
Zentrale Neuerungen sind im materiellen Recht die Einschränkung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit und die zum Regelfall gewordene Auslieferung eigener Staatsangehöriger, im Verfahrensrecht der Wegfall des politischadministrativen Bewilligungsverfahrens. Die Veränderungen spiegeln sich auch in
einer modifizierten Terminologie wider. Im Schrifttum wird die Reichweite der mit
dem Rahmenbeschluss einhergehenden Veränderungen – „Revolution oder Evoluti-
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References
Zusammenfassung
Trotz seiner Eingriffsintensität hat die Europäische Kommission den Europäischen Haftbefehl zum Symbol einer EU-Strafrechtszusammenarbeit erhoben, die auf dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung beruht. Der Preis für den Anerkennungsgedanken ist der Abbau traditioneller Auslieferungsgrenzen wie des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit und der Nicht-Auslieferung eigener Staatsangehöriger. Stehen damit die Anforderungen des Europäischen Haftbefehls und der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes in Widerspruch zueinander? Um diese Frage zu beantworten, präzisiert der Autor die Reichweite der Einschränkungen traditioneller Auslieferungsgrenzen sowie deren grundrechtsschützenden Gehalt. So gelangt er zu einem differenzierten Befund: Das traditionelle Auslieferungsrecht mit seinen grundrechtsdogmatischen Ungereimtheiten war nicht so gut, der neue Anerkennungsmechanismus umgekehrt nicht so weit reichend, wie es in der Diskussion weithin den Anschein hat. Gleichwohl: Der unabgestimmte, kumulative Abbau von Auslieferungsgrenzen bestätigt letztlich die Sorge vor grundrechtswidrigen Verwerfungen in Folge des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung.