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III. Das Privileg der Nichtauslieferung Deutscher und die fakultative
Gleichstellungsklausel des § 83 lit. b Abs. 2 IRG
Die neue Fassung des § 83 lit. b Abs. 2 IRG blickt auf eine lebendige Gesetzgebungsgeschichte zurück. Während nach § 80 Abs. 3 IRG a.F. das erste Haftbefehlsgesetz bestimmte Ausländer mit dauerndem Aufenthalt zwingend Deutschen hinsichtlich des Schutzes vor Auslieferung gleichstellte, sah der Referenten- und der
Regierungsentwurf – abgesehen von dem Fall der mit Deutschen verheirateten Ausländer – nicht einmal die Möglichkeit vor, die § 80 Abs. 2 IRG n.F. auch auf Ausländer zu erstrecken, und wich insoweit deutlich von der Umsetzung der meisten
anderen Mitgliedstaaten ab, die die Regelung Art. 5 Nr. 3 RbEuHb entsprechend auf
die in ihrem Hoheitsgebiet dauerhaft wohnhaften Ausländer erstreckten.1238
Nach Kritik an diesem gegenüber Ausländern zurückgenommenen Auslieferungsschutz und Zweifeln an dessen Vereinbarkeit mit dem gemeinschaftsrechtlichen
Diskriminierungsverbot,1239 wurde § 83 lit. b Abs. 2 IRG geschaffen. Somit kann
eine Auslieferung nun auch im Fall von Ausländern unter den Voraussetzungen des
§ 81 Abs. 1 und 2 IRG abgelehnt werden, sofern diese in Deutschland ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Maßgeblich hierfür sind die ausländerrechtlichen Bestimmungen und daher ein auf Dauer angelegter, rechtmäßiger Aufenthalt.1240 Damit
stellt nun das für Deutsche zwingende Auslieferungshindernis des maßgeblichen Inlandsbezugs für Ausländer einen fakultativen Verweigerungsgrund dar. Auch erstreckt sich das Postulat der Rücküberstellung (§ 80 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IRG) auf
den betroffenen Ausländer, so dass die Bewilligungsbehörde auch insoweit stets
wird abwägen müssen, ob dieser angesichts seiner familiären und sozialen Einbindung ein berechtigtes Interesse an der Rücküberstellung zur Strafvollstreckung in
Deutschland hat.1241
Somit hat der Gesetzgeber verglichen mit den verschiedenen Entwurfstadien des
zweiten Anlaufs zur Umsetzung des Haftbefehls die Abstufung im Auslieferungsschutz deutlich abgeschwächt. Noch immer spiegelt zwar die Unterscheidung zwischen der zwingenden Regelung des § 80 Abs. 1 IRG und der fakultativen des § 83
lit. b Abs. 2 IRG die vom Grundgesetz beibehaltene und vom Bundesverfassungsgericht zu einem „Abstandsgebot“ ausgebaute staatsangehörigkeits-akzessorische Abstufung des Schutzes vor Auslieferung wider.1242 Dem Vorwurf einer Verletzung des
gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbotes vermag das Umsetzungsgesetz
in seiner neuen Gestalt aber im Wege europarechtskonformer Auslegung dadurch zu
entgehen, dass im Fall einer Auslieferung von EU-Bürgern kraft Ermessensreduzie-
1238 Hierauf verweist auch Böse, Stellungnahme S. 10.
1239 Hufeld, JuS 2005, 865, 867; Reinhardt/Düsterhaus, NVwZ 2006, 432, 433 ff.; Satzger/Pohl,
JICJ 2006, 686, 699 f.; Vogel, JZ 2005, 801, 805; ohne Bedenken insoweit Weigend, Stellungnahme S. 4 f.
1240 Böhm, NJW 2006, 2596.
1241 Böhm, NJW 2006, 2596.
1242 Vgl. auch Böhm, NJW 2006, S. 2592.
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rung auf Null die Anwendung des § 83 lit. b Abs. 2 IRG an die Voraussetzungen des
§ 80 n.F. geknüpft wird,1243 die Auslieferung von EU-Bügern also der gleichen Anforderungen bedarf, wie diejenige Deutscher.
B) Die Auswirkungen des Reformvertrags auf das Spannungsfeld von Grundgesetz
und Europarecht im Bereich des Europäischen Haftbefehls
I. Überblick über die mit dem Reformvertrag einhergehenden Veränderungen
Auf dem Europäischen Rat in Lissabon am 18. und 19. Oktober 2007 einigten sich
die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedschaften auf den endgültigen Vertragstext des sog. Reformvertrags.1244 Am 13.12.2007 wurde der Vertrag unterzeichnet. Vorausgegangen war der letztlich erfolglose Prozess zur Ratifizierung des EU-
Verfassungsvertrags. Wenn auch keineswegs unproblematisch dürfte eine Ratifizierung des Reformvertrags schon deshalb geringeren Schwierigkeiten begegnen, weil
sie in weniger EU-Mitgliedstaaten eines Referendums bedarf.1245 Gleichwohl wird
der Ratifizierungsprozess – und damit ein Inkrafttreten des Vertrags – aller Voraussicht nach bis Mitte 2009 dauern.1246
Rein formal bleiben die Veränderungen, die mit dem Reformvertrag einhergehen,
deutlich hinter denjenigen zurück, die der Verfassungsvertrag vorsah: Während der
Verfassungsvertrag den EU- und EG-Vertrag in einer Kodifikation mit der Bezeichnung „Verfassung“ vereinte, bleibt es nach dem Reformvertrag bei dem Nebeneinander der beiden Verträge – eines auch weiterhin völkerrechtlich zu qualifizierenden
EU-Vertrags (EU n.F.) und eines supranationalen Gemeinschaftsvertrags, der fortan
„Vertrag über die Arbeitsweise der Union“ (AEU) heißt. Das Wort „Verfassung“
erwähnt der Reformvertrag nicht mehr. Auch wird der Text der Europäischen
Grundrechtecharta nicht in den Reformvertrag einbezogen, wohl aber deren Geltung
für rechtsverbindlich erklärt (Art. 6 EU n.F.),1247 und die Beitrittsfähigkeit der EU
zur EMRK festgestellt. Im Gegensatz zum Verfassungsvertrag verzichtet der Reformvertrag auf staatstypische Symbole wie Flagge oder Hymne. Auch bleibt es –
im Wesentlichen –1248 bei den Rechtsakten von Gemeinschaft und Union. Insbesondere treten entgegen dem Verfassungsvertrag nicht verschiedene Kategorien von
Gesetzen an die Stelle von Richtlinien und Verordnungen.
1243 Allgemein zur Ermessensreduzierung auf Null Maurer, § 7 Rdn. 24 f.
1244 ABl. 2007 C-206/1.
1245 Skeptischer demgegenüber Richter, EuZW 2007, 631, 633.
1246 Gemäß Art. 313 AEU tritt der Reformvertrag in Kraft, wenn er von sämtlichen Mitgliedstaaten ratifiziert wurde.
1247 Eine Ausnahme sieht Art. 1 des Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte
der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich, ABl. 2007 C-306/156,
vor..
1248 Zu einer wichtigen Ausnahme für den Fall des Rahmenbeschlusses sogleich unten B.
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References
Zusammenfassung
Trotz seiner Eingriffsintensität hat die Europäische Kommission den Europäischen Haftbefehl zum Symbol einer EU-Strafrechtszusammenarbeit erhoben, die auf dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung beruht. Der Preis für den Anerkennungsgedanken ist der Abbau traditioneller Auslieferungsgrenzen wie des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit und der Nicht-Auslieferung eigener Staatsangehöriger. Stehen damit die Anforderungen des Europäischen Haftbefehls und der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes in Widerspruch zueinander? Um diese Frage zu beantworten, präzisiert der Autor die Reichweite der Einschränkungen traditioneller Auslieferungsgrenzen sowie deren grundrechtsschützenden Gehalt. So gelangt er zu einem differenzierten Befund: Das traditionelle Auslieferungsrecht mit seinen grundrechtsdogmatischen Ungereimtheiten war nicht so gut, der neue Anerkennungsmechanismus umgekehrt nicht so weit reichend, wie es in der Diskussion weithin den Anschein hat. Gleichwohl: Der unabgestimmte, kumulative Abbau von Auslieferungsgrenzen bestätigt letztlich die Sorge vor grundrechtswidrigen Verwerfungen in Folge des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung.