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Fünftes Kapitel: Die Familienzusammenführungsrichtlinie im Lichte
der Grund- und Menschenrechte
Die Familiennachzugsrichtlinie rückte bereits kurz nach ihrem Inkrafttreten in den
grund- und menschenrechtlichlichen Blickwinkel des EuGH. Das Europäische Parlament reichte am 22. Dezember 2003 durch erstmalige Nutzung seiner im Vertrag
von Nizza eingeräumten Befugnis eine Klage gegen den Rat der Europäischen Union auf partielle Nichtigkeitserklärung der Richtlinie ein.1214 Es hielt einzelne Bestimmungen der Richtlinie, welche seiner Ansicht nach eine menschenrechtswidrige
Umsetzung durch die Mitgliedstaaten erlaubten, vor allem im Hinblick auf das in
Artikel 8 EMRK verbürgte Recht auf ein normales Familienleben für problematisch,
da diese Bestimmungen aufgrund des hohen Trennungspotenzials ein solches gerade
verhindern können: Dazu zählen die Öffnungsklauseln zu den Altersgrenzen von
zwölf und 15 Jahren für Kinder sowie zu den Wartezeiten zwischen der Antragstellung und der Einreise der Familienangehörigen.1215 Neben der Bedeutung für das
Parlament kam der Klage angesichts des zum Klagezeitpunkt (noch) eingeschränkten Zugangs zum EuGH1216 sowie aufgrund des Erfordernisses der innerstaatlichen
1214 Vgl. Art. 230 EG. Klage des Europäischen Parlaments gegen den Rat der Europäischen
Union, Rs. C-540/03, ABl. C 47 vom 21. Feb. 2004, S. 21. Zuvor hatte der Ausschuss für
Bürgerfreiheiten (LIBE) eine Klageeinreichung befürwortet. Dok. PE 319.245 vom 24. März
2003, A5 0086/2003 endg., S. 16 sowie Protokoll der außerordentlichen Sitzung des Ausschusses am 21. Okt. 2003. Zu der Vorgeschichte und Rolle des Parlaments in den Verhandlungen ausführlicher in Kapitel 4, S. 209 f. Der Rat wurde von der Bundesregierung als
Streithelfer unterstützt. Die Kommission trat ebenfalls – wenngleich nur formal auf Seiten
des Rates – dem Verfahren als Streithelfer bei. Auch Kommissar Vitorino war in seinem
Antwortbrief an die Meijers Commission (Standing Committee of Experts on International
Immigration, Refugee and Criminal law), die die Richtlinie in Bezug auf Art. 8 EMRK kritisierte, der Meinung, dass die Richtlinie Art. 8 EMRK nicht verletze. Auch wenn der Text den
Mitgliedstaaten einigen Spielraum lasse (Ziel, Verfahren), seien sie verpflichtet, Art. 8
EMRK einzuhalten, wenn sie Gemeinschaftsrecht anwenden.
1215 Art. 4 Abs. 1 letzter UA, Abs. 6 und Art. 8 RL 2003/86/EG (Familiennachzug).
1216 Art. 68 Abs. 1 EG setzt für den Bereich des Titels IV die Erschöpfung des innerstaatlichen
Rechtsweges für ein Vorabentscheidungsverfahren voraus. Diese Einschränkung des gerichtlichen Rechtsschutzes sollte jedoch nicht unbegrenzt gelten. Art. 67 Abs. 2 EG gibt dem Rat
auf, nach Ablauf der Übergangszeit von fünf Jahren nach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages, d. h. ab dem 1. Mai 2004 einen Beschluss zu fassen, wonach “die Bestimmungen über
die Zuständigkeit des Gerichtshofs angepasst werden.“ Mit Beschluss vom 22. Dez. 2004 erweiterte der Rat zwar den Anwendungsbereich des Mitentscheidungsverfahrens auf die meisten der unter Titel IV fallenden Bereiche (vgl. dazu Kapitel 4, S. 280 ff., insb. Fn. 1211), der
Zugang zum Gerichtshof blieb indes unverändert eingeschränkt. Die Kommission legte daher
am 28. Juni 2006 einen Entwurf eines Ratsbeschlusses zur Anpassung der die Zuständigkeit
des Gerichtshofs betreffenden Bestimmungen des Titels IV EGV vor, der vorsieht, diese Zuständigkeiten in die allgemeine Regelung des Vertrags einzubeziehen, KOM (2006) 346.
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Rechtswegerschöpfung und der somit in naher Zukunft nicht zu erwartenden Befassung des EGMR besondere Bedeutung zu.
Ob es eine inhaltliche Entscheidung geben würde, schien nach den Schlussanträgen der Generalanwältin Juliane Kokott vom 8. September 2005 insofern offen, als
sie die Klage des Parlaments bereits für unzulässig erachtete. Eine isolierte Anfechtung der vom Parlament beanstandeten Regelungen sei objektiv nicht möglich. Bei
Nichtigkeit der beklagten Klauseln ergäbe sich ein Nachzug bis 18 Jahre und unabhängig von einer Wartefrist. Damit würde im Fall einer Aufhebung der Bestimmungen die „Substanz der Richtlinie verändert und der Gerichtshof in die Befugnisse des
Gemeinschaftsgesetzgebers eingreifen.“1217 Zwingend ist diese Argumentation indes
nicht. Die Aufhebung von drei Ausnahmeregelungen, deren ursprünglich gedachter
Anwendungsbereich sich zudem lediglich auf zwei Mitgliedstaaten beschränkte,
betrifft die Richtlinie nicht in ihrer ‚Substanz’.1218 Das besondere Gewicht dieser
Klauseln – insbesondere für die Bundesrepublik1219 – erschließt sich daher nur im
Zusammenhang mit der schwierigen politischen Verhandlungsgeschichte dieser
Ausnahmebestimmungen.1220
Der EuGH hielt die Klage entgegen den Schlussanträgen für zulässig. Knapp
zweieinhalb Jahre nach Einreichung erging seine Entscheidung.1221 Es handelte sich
bei dem im Folgenden zu analysierenden Urteil zur Familiennachzugsrichtlinie – die
selbst als erster Rechtsakt des neuen Migrationsrechts der Gemeinschaft verabschiedet worden war – nicht nur um die erste und besonders erwartungsbeladene Entscheidung des EuGH auf diesem Rechtsgebiet. Ungewiss war insbesondere, inwiefern sich die gemeinschaftsrechtliche (‚Staatenverbund-’)Perspektive des EuGH von
der menschenrechtlichen (‚Staaten-’)Perspektive des EGMR unterscheiden würde.
Die Analyse der Entscheidungsgründe geht darüber hinaus der Frage nach, ob einige
der Argumentationen über den Klagegegenstand hinaus auf weitere Öffnungsklauseln übertragen werden können. Die Koexistenz der Menschenrechtsschutzsysteme in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft wirft für die Familiennachzugsrichtlinie zudem die Frage nach der Kohärenz der gemeinschaftlichen Familiennachzugsbestimmungen und dem auf Verträgen beruhenden Menschenrechtsschutz durch
das Instrumentarium der UN und des Europarats auf.1222
1217 Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 8. Sept. 2005, Rs. C-540/03,
Slg. 2006, I-5769, Rn. 46 ff. Sie folgte damit dem Vortrag des Rates und der deutschen Regierung, gestützt auf ein Gutachten von Christiane Langenfeld. A. A. des Europäischen Parlaments und der Kommission.
1218 Rodier, C., A propos de la directive regroupement familial, Pkt. I-3.
1219 EuGH, Slg. 2006, I-5769, Rn. 25.
1220 S. dazu in Kapitel 4, S. 222 ff.
1221 Urteil des EuGH vom 27. Juni 2006, Rs. C-540/03, Europäisches Parlament/Rat der Europäischen Union, Slg. 2006, I-5769, sowie EuZW 2006, 566 ff.; NVwZ 2006, 1033 ff.; ZAR
2006, 366-370; NJW 2006, 3266L; JZ 2007, 39 ff.
1222 Der EuGH tritt insofern neben ein bestehendes menschenrechtliches Kontrollsystem. Neben
dem EGMR als speziellem Gericht für Menschenrechte sind es sieben unabhängige Expertenausschüsse (Menschenrechtsausschuss des IPbpR, Sozialausschuss zum IPwirtR, UN-Aus-
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Im Ergebnis stellt das Urteil eine in mehrerlei Hinsicht überraschende und richtungweisende Entscheidung dar.
A. Völkerrechtliche Vereinbarkeit der Familienzusammenführungsrichtlinie
Die Familiennachzugsrichtlinie ist in unterschiedlicher Weise an die universellen
und regionalen menschenrechtlichen Maßstäbe und Verpflichtungen gebunden, wie
sie im ersten Teil untersucht wurden. Das Europäische Parlament führte in seiner
Klage zunächst den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte
(IPbpR), die UN-Kinderrechtskonvention (KRK) und die Konvention der Vereinten
Nationen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (UNWAK) als Maßstab für die strittigen Bestimmungen der Familiennachzugsrichtlinie an.1223 Als gemeinschaftlicher Rechtsakt unterliegt die Familiennachzugsrichtlinie zwar keiner unmittelbaren völkerrechtlichen Bindung, da die Gemeinschaft nicht selbst diesen Abkommen beigetreten ist. Dies schließt jedoch keine
mittelbare Bindung aus.1224 Entsprechend heißt es in Erwägungsgrund 2 der Präambel der Richtlinie,
„Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in
zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist.“ (eigene Hervorhebung).
Gemäß bisheriger Rechtsprechung erachtet der Gerichtshof den IPbpR, dem alle
27 EU-Mitgliedstaaten beigetreten sind, im Rahmen der allgemeinen Grundsätze des
Gemeinschaftsrechts für anwendbar.1225 Vor dem Hintergrund dieser Argumentation
kommt – auch wenn sich der EuGH dazu nicht direkt äußert – aufgrund des fehlenden Beitritts aller EU-Mitgliedstaaten eine Anwendung der UNWAK als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts nicht in Betracht. Hingegen ist es
konsequent und ein Novum, dass der Gerichtshof nunmehr auch die KRK als Gemeinschaftsprinzip im Rahmen des Artikel 6 Abs. 2 EUV einstuft mit der Begründung, dass „das Übereinkommen […] jeden der Mitgliedstaaten bindet.“1226 Der
Gerichtshof zieht die Konvention damit erstmals als Rechtsquelle für den europäischen Grundrechtsschutz heran. Daraus folgt, dass sich das Vorrangprinzip des Geschuss zur KRK, Ausschuss zur UNWAK, Ausschuss zur ILO-Konvention, ESC-Sachverständigenausschuss, Ausschuss zur EWAK – nicht gerechnet das UNHCR-Exekutivkomitee),
die insoweit Staatenberichte, z. T. Staaten- und Individualbeschwerden prüfen.
1223 EuGH, Slg. 2006, I-5769, Rn. 33.
1224 Die Nennung in der Begründung dieses Rechtsakts ist Ausdruck für eine Selbstbindung der
Gemeinschaft für den Bereich der Familienzusammenführung (so auch der EuGH zur Grundrechtscharta, s. dazu im Weiteren S. 295 f.) wie sie im Übrigen auch Art. 63 Nr. 1 EG für den
Bereich des Asylrechts festlegt.
1225 EuGH, Slg. 2006, I-5769, Rn. 37, m.w.N.
1226 EuGH, Slg. 2006, I-5769, Rn. 37.
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meinschaftsrechts auch auf diese Konvention erstreckt1227 und die nationalen Gerichte bei Anwendung der Richtlinie zur Beachtung dieser internationalen Texte
verpflichtet sind.1228 Dies hat insbesondere Konsequenzen für die Bundesrepublik
Deutschland, dessen als ‚Vorbehalt’ diskutierte ‚Erklärung’ zu der Konvention, die
gerade deren Wirkungen für den Bereich des Ausländerrechts ausschließen sollte,
jedenfalls im Anwendungsbereich der EU-Grundrechte keine Wirkung mehr entfalten kann.1229 Auch die von der bundesdeutschen Delegation mit hoher Priorität
durchgesetzte Streichung der direkten Referenz auf die KRK in der Familiennachzugsrichtlinie läuft damit ins Leere.1230
Vor allem die KRK1231 und die EuGRCH (Artt. 7 und 24) sind es, auf deren normative Vorgaben der Gerichtshof inhaltlich rekurriert. Insoweit ist es aber zumindest missverständlich ausgedrückt, wenn das in der KRK betonte besondere (doppelte) Schutzbedürfnis ausländischer Kinder nur zu einer empfohlenen Berücksichtigung des Kindeswohls führen soll.1232 Richtig ist vielmehr eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung zur vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls, wie es vom
Gerichtshof auch im weiteren Verlauf gemäß Artikel 5 Abs. 5 der Richtlinie, die er
als Querschnittsklausel auf die gesamte Richtlinie anwendet, deutlich gemacht wird.
Wenn auch formal die KRK keinen völkerrechtlichen Anspruch gewährt, führt das
gemeinschaftsrechtlich verankerte Leitmotiv der KRK des Vorranges des Wohls
minderjähriger Kinder (d. h. bis 18 Jahre!) dazu, dass das Zurückstehen des Kindeswohls auf absolute Ausnahmefälle zu beschränken und Nachzug in der Regel zu
gewähren ist. Auch Wartezeiten von zwei oder drei Jahren für nachziehende Kinder
sind mit dem in Artikel 10 KRK konkretisierten Gebot der wohlwollenden, humanen
und beschleunigten Bearbeitung der Anträge nicht vereinbar.1233
Zum IPbpR trifft der EuGH inhaltlich keine konkrete Aussage, sondern kommt zu
dem allgemeinen Schluss, dass dieses Instrument keine Bestimmungen enthalte, die
die Rechte des Kindes umfassender schützten als die in der KRK oder Charta bereits
genannten.1234 Dem ist insoweit zuzustimmen, als sich dem Pakt kein subjektives
Recht auf Nachzug entnehmen lässt. Ebenso trifft der Pakt inhaltlich eine klare über
die Richtlinie hinausgehende Aussage, als er in Fragen des Nachzugs keine Altersgrenzen beim Familienbegriff kennt.
1227 Thym, D., NJW 2006, 3250.
1228 EuGH, Slg. 2006, I-5769, Rn. 105; Osteroom-Staples, H., The Family Reunification Directive, in: Baldaccini/Guild/Toner (Hg.), Whose Freedom, Security and Justice? EU Immigration
and Asylum Law and Policy, S. 453.
1229 Dazu ausführlich, Kapitel 7, insb. S. 380 f.
1230 Vgl. zur Verhandlungsgeschichte Kapitel 4, S. 229, Punkt 19.
1231 Insb. Erwägung 6 und Artt. 9 und 10 KRK. Ausführlich zur KRK in Kapitel 1, insb. S. 41 f.
1232 EuGH, Slg. 2006, I-5769, Rn. 57.
1233 Auch Osteroom-Staples, H. geht davon aus, dass der Gerichtshof das mitgliedstaatliche Ermessen erheblich beschränken wird, wenn Kinder betroffen sind, dies., The Family Reunification Directive, in: Baldaccini/Guild/Toner (Hg.), Whose Freedom, Security and Justice?
EU Immigration and Asylum Law and Policy, S. 488.
1234 EuGH, Slg. 2006, I-5769, Rn. 39.
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Neuer gemeinschaftsrechtlicher Schwung für das ‚ältere’ europäische Recht zum
Familiennachzug dürfte daraus resultieren, dass der EuGH sich zu dem Verhältnis
der neuen gemeinschaftlichen Regelung gegenüber den älteren Bestimmungen des
Europarats geäußert hat.1235 Er verweist gemäß dem Wortlaut der Richtlinie darauf,
dass die Mitgliedstaaten, die die Europäische Sozialcharta (ESC) und das Europäische Übereinkommen über die Rechtsstellung der Wanderarbeitnehmer (EWAK)
unterzeichnet haben, diese, soweit sie günstiger sind, zu beachten haben.1236
Hinsichtlich der EWAK betrifft diese gemeinschaftsgerichtliche Verpflichtung
die sechs EU-Mitgliedstaaten Frankreich, Italien, die Niederlande, Portugal, Spanien
und Schweden insoweit, als sie gegenüber abhängig beschäftigten Migranten aus
Nicht-EU-Mitgliedstaaten wie Moldawien und der Türkei verpflichtet sind.1237 Denn
das Abkommen enthält in mehreren Punkten günstigere Bestimmungen als die der
Familiennachzugsrichtlinie: Artikel 12 Abs. 1 EWAK verpflichtet zur Gewährung
des Nachzugs für den Ehegatten und minderjährige unterhaltspflichtige Kinder. Dies
schließt im Anwendungsbereich des Abkommens die klagegegenständlichen Altersgrenzen von zwölf oder 15 Jahren für Kinder und darüber hinaus auch für Ehegatten
(wie die niederländische 21-Jahresgrenze) aus. Auch die nach der Richtlinie möglichen Kopplungen des Nachzugs an Integrationstests oder niederländische Kriterien
wie das ‚tatsächliche Familienband’ zwischen Eltern und Kindern sind nach der
EWAK unzulässig.1238 Das Abkommen verbietet des Weiteren die Anwendung der
streitigen Wartezeitklausel der Richtlinie in dem Maße, als sie die Dauer von zwölf
Monaten überschreitet. Ein weiteres Beispiel ist die Unzulässigkeit der niederländischen Einkommenserfordernisse für den Nachzug soweit sie über dem als ausreichend geltenden Bestandsminimum für Familien liegen.1239
Hinsichtlich der ESC bzw. ESC rev.1240 ist die geografische Reichweite der Verpflichtungen zwar unübersichtlicher, im Vergleich zur EWAK aber weitreichender.
1235 Zwar hat nach dem Hinweis der GAin Kokott der EGMR diese Übereinkommen noch nie für
die Auslegung und Anwendung der EMRK herangezogen, Schlussanträge, Rn. 73 f. Allerdings finden in jüngerer Zeit die Conclusions des ESC-Sachverständigenausschusses (European Committee of Social Rights – ECSR) Eingang in Entscheidungen des EGMR. S. dazu
auch in Kapitel 2, S. 93, Fn. 354.
1236 EuGH, Slg. 2006, I-5769, Rn. 107. Vgl. Art. 3 Abs. 4 RL 2003/86/EG (Familiennachzug).
Dieser sieht vor: „Diese Richtlinie lässt günstigere Bestimmungen unberührt: a) der bilateralen und multilateralen Übereinkünfte zwischen der Gemeinschaft oder zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Drittländern andererseits, b) der Europäischen
Sozialcharta vom 18. Okt. 1961, der geänderten Europäischen Sozialcharta vom 3. Mai 1987
und des Europäischen Übereinkommens über die Rechtsstellung der Wanderarbeitnehmer
vom 24. Nov. 1977.“ Die Richtlinie bezieht sich hinsichtlich der geänderten ESC vom 3. Mai
1996 fälschlicherweise auf das Jahr 1987, s. Kokott, Schlussanträge, Rn. 10, Fn. 5.
1237 Vgl. obige Ausführungen in Kapitel 2 zur EWAK S. 101 ff.
1238 Dieses Kriterium ist infolge einer Entscheidung des niederländischen Staatsrates abgeschafft
worden. S. dazu Kapitel 4, S. 266 f., insb. Fn. 1189.
1239 Vgl. insoweit die Erhöhung auf 120 % des gesetzlichen Mindestlohns in 2004 in den Niederlanden, Groenendijk, K., ZAR 2006, 191, 194 f.
1240 S. die Ausführungen zur ESC (rev.) in Kapitel 2, insb. S. 92 ff.
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So haben alle ‚alten’ und fast alle beigetretenen1241 der 27 Mitgliedstaaten die ESC
und 15 Mitgliedstaaten die ESC rev. ratifiziert. Dabei haben insgesamt 19 Mitgliedstaaten die zentrale Nachzugsnorm des Artikel 19 Abs. 6 ESC anerkannt.1242 Sie sind
nunmehr verpflichtet, für langfristig aufhältige Wanderarbeitnehmer aus Drittländern wie bspw. der Türkei, den Nachzug des Ehepartners und der minderjährigen
ledigen Kinder (d. h. bis 21 bzw. 18 Jahre) zu gestatten. Darunter liegende Altersgrenzen sind unzulässig. Ebenso stellt die Anwendung dreijähriger Wartezeiten, wie
sie in der Familiennachzugsrichtlinie im Hinblick auf Österreich erlaubt sind, nach
der Praxis des Sachverständigenausschusses einen Verstoß gegen Artikel 19 Abs. 6
ESC/ESC rev. dar. Des Weiteren ist eine nach der Richtlinie mögliche Begrenzung
des Kindernachzugs nur zu beiden Elternteilen (wie in Deutschland) ebenso unzulässig wie Altersgrenzen für Ehegatten oder die Kopplung ihres Nachzugs an Integrationstests.
Wie der Gerichtshof bestätigt, sind die betreffenden Mitgliedstaaten zur Einhaltung dieser menschenrechtlichen Standards, die einer Anwendung der klagegegenständlichen Klauseln der Familiennachzugsrichtlinie entgegenstehen, mit Blick auf
Erwägungsgrund 2 der Präambel der Richtlinie verpflichtet.
B. Besondere Bedeutung der EMRK und der EU-Charta der Grundrechte
Das Gemeinschaftsrecht und damit die Familiennachzugsrichtlinie sind neben den
zuvor genannten völkerrechtlichen Instrumenten in besonderer Weise an die Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gebunden.1243 Entsprechend ist diese Konvention in Erwägungsgrund 2 S. 2 der Präambel der Familiennachzugsrichtlinie auch ausdrücklich benannt:
„Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze,
die insbesondere in Artikel 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte
und Grundfreiheiten und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden.“ (eigene Hervorhebung).
1241 Dies sind hinsichtlich der ESC Lettland, Malta, Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn, Zypern. Slowenien hat bislang nur signiert, ebenso Rumänien. Es fehlen Estland, Litauen und
Bulgarien (Stand: 11. Juli 2008). Die ESC rev. haben ratifiziert die ‚alten’ EU-Mitgliedstaaten Belgien, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, die Niederlande, Portugal und Schweden, als ‚neu’ beigetretene EU-Mitgliedstaaten Estland, Litauen, Malta, Slowenien und Zypern sowie die am 1. Jan. 2007 beitretenden Mitgliedstaaten Bulgarien und Rumänien.
1242 Diese Bestimmung wurde bereits im Rahmen der ESC von Belgien, Dänemark, Deutschland,
Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Irland, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Schweden, Spanien, dem Vereinigten Königreich und Zypern anerkannt, nicht
aber von Lettland, Malta, der Slowakei, Tschechien und Ungarn. Estland und Slowenien haben bei der Ratifikation der rev. ESC den Art. 19 Abs. 6 akzeptiert, nicht aber Litauen, Malta,
Bulgarien und Rumänien. http://conventions.coe.int (30. Juli 2008).
1243 Ausführlich zur EMRK s. Kapitel 2, insb. S. 69 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Untersuchung widmet sich einem der umstrittensten und in dieser Komplexität wenig behandelten Felder des modernen Migrationsrechts. Die Autorin begreift Familienzusammenführung als ein europäisches Migrationsphänomen, das einer rechts- und länderübergreifenden sowie interdisziplinären Perspektive bedarf. Die Darstellung besitzt mit ihrer Zusammenführung von Völkerrecht, Europarecht und deutschem Verfassungsrecht mit Elementen der Politikwissenschaft Seltenheitswert.
Im Zentrum stehen die aktuellen Entwicklungen in der EU. Die Entwicklung der Familienzusammenführungsrichtlinie wird vor dem Hintergrund völkerrechtlicher Verpflichtungen und nationaler Veränderungen kritisch untersucht. Dabei werden die Verhandlungspositionen zur Richtlinie vor dem Hintergrund des französischen, niederländischen und deutschen Nachzugsrechts analysiert. Des Weiteren erforscht die Autorin die Auswirkung dieses Europäisierungsprozesses für Unionsbürger einerseits sowie für Drittstaatsangehörige andererseits einschließlich der Gruppe der Asylberechtigten und Flüchtlinge und hinterfragt das Zuwanderungsgesetz 2007 auf Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen und internationalen Verpflichtungen.