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8. Kapitel: Schlussbetrachtung
A. Zusammenfassung in Thesen
1. Die dem Arbeitnehmer nach Eintritt des Versorgungsfalls ausgezahlte Versorgungsrente ist Entgelt für die während des Arbeitsverhältnisses gezeigte Betriebstreue. Versorgungsleistungen haben Entgeltcharakter.
2. Die Regelungsbefugnisbefugnis der Tarifvertragsparteien beruht gegenüber
den beiderseits tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien auf kollektiv ausgeübter
Privatautonomie. Das Verbandsmitglied unterwirft sich mit seinem Beitritt zum
Verband der tariflichen Regelungsbefugnis, der Staat sanktioniert diese, indem er
Tarifverträgen in § 4 Abs. 1 TVG den erforderlichen Geltungsbefehl erteilt.
3. Versorgungstarifverträge finden im Arbeitsverhältnis kraft beiderseitiger Tarifbindung der Arbeitsvertragsparteien, arbeitsvertraglicher Bezugnahme oder kraft
staatlicher Allgemeinverbindlicherklärung Anwendung.
4. Das zwischen Arbeitnehmer und Versorgungseinrichtung bestehende Bezugsverhältnis wird unmittelbar und zwingend durch den Versorgungstarifvertrag gestaltet, wenn die Versorgungseinrichtung eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien ist und beide Arbeitsvertragsparteien tarifgebunden sind oder der Versorgungstarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wurde. In den übrigen Fällen
sind die Tarifvertragsparteien – soweit sie an der Versorgungseinrichtung maßgeblich beteiligt sind – verpflichtet, die Satzung der Versorgungseinrichtung und damit
das Bezugsverhältnis an die tarifliche Lage anzupassen.
5. Der Besitzstand noch aktiver Arbeitnehmer unterteilt sich in den zum Ablösungsstichtag erdienten und in den zu diesem Zeitpunkt noch nicht erdienten Teilbetrag. Die Rechtsprechung des BAG zur erdienten Anwartschaftsdynamik ist abzulehnen. Der Besitzstand bereits verrenteter Arbeitnehmer gliedert sich in den erdienten Versorgungsanspruch und – bei volldynamischen Versorgungszusagen – in die
nicht erdienbare Rentendynamik.
6. Erdiente Versorgungsrechte unterfallen als verfassungsrechtliches Eigentum
dem Schutzbereich des Art. 14 GG, nicht erdiente Versorgungsrechte lediglich dem
des Art. 2 Abs. 1 GG.
7. Der zum Ablösungsstichtag erdiente Teilbetrag der Versorgungsanwartschaft
errechnet sich analog § 2 Abs. 1 BetrAVG.
8. Durch ablösenden Versorgungstarifvertrag kann in Versorgungsrechte eingegriffen werden, wenn diese selbst auf einem Versorgungstarifvertrag beruhen oder
im Arbeitsvertrag auf den jeweils geltenden Versorgungstarifvertrag Bezug genommen wurde.
9. Die Tarifvertragsparteien können in Versorgungsrechte auch dann noch eingreifen, wenn das Arbeitsverhältnis beendet ist und der Arbeitnehmer aus der Gewerkschaft ausgetreten ist. Im seltenen Fall, dass der ablösende Versorgungstarifver-
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trag weder arbeitsvertraglich in Bezug genommen, noch für allgemeinverbindlich
erklärt wurde, ergibt sich die tarifliche Regelungsbefugnis aus § 17 Abs. 3 Satz 1
i.V.m. § 2 Abs. 5 BetrAVG. Sie folgt damit nicht aus dem privatautonomen Verbandsbeitritt, sondern beruht auf der demokratischen Legitimation des Gesetzgebers.
10. Ob ein ablösender Versorgungstarifvertrag in Versorgungsrechte eingreift,
beurteilt sich nach den Verhältnissen zum Ablösungsstichtag. Die vom BAG vorgenommene ergebnisbezogene Betrachtungsweise ist abzulehnen.
11. Die Tarifvertragsparteien können grundsätzlich in den mit Eintritt des Versorgungsfalls entstehenden Versorgungsanspruch sowie in erdiente und noch nicht
erdiente Versorgungsanwartschaften eingreifen.
12. Die Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes haben durch die Altersversorgungstarifverträge ATV und ATV-K vom 1.3.2002 in den Besitzstand der
versorgungsberechtigten Arbeitnehmer eingegriffen, da sie § 18 Abs. 2 BetrAVG als
Maßstab zur Berechnung der im Gesamtversorgungssystem erdienten Versorgungsanwartschaften gewählt haben.
13. Die Grenzen ablösender Versorgungstarifverträge folgen nicht unmittelbar
aus dem verbandsrechtlichen Mitgliedschaftsverhältnis. Tarifverträgen sind aber
durch die Rechtsordnung allgemeine Schranken gesetzt.
14. Greifen ablösende Versorgungstarifverträge in Versorgungsrechte ein, sind
sie nur daraufhin zu kontrollieren, ob sie mit der Verfassung, zwingendem Gesetzesrecht, den guten Sitten oder tragenden Grundsätzen des Arbeitsrechts vereinbar sind.
15. Das vom BAG zum Widerruf von individualvertraglichen Unterstützungskassenzusagen und zur Kontrolle ablösender Betriebsvereinbarungen entwickelte Drei-
Stufen-Modell ist auf ablösende Versorgungstarifverträge nicht übertragbar.
16. Die Tarifvertragsparteien sind weder unmittelbar an Grundrechte noch an das
Rechtsstaatsprinzip gebunden und müssen daher im Verhältnis zu ihren Mitgliedern
auch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht beachten.
17. Aus demselben Grund sind die Tarifvertragsparteien nicht an die vom
BVerfG entwickelte Rückwirkungslehre gebunden.
18. Grundrechte setzen der tariflichen Regelungsbefugnis jedoch insofern Grenzen, als aus ihnen Schutzpflichten folgen, die den Staat verpflichten, die gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer vor ungewöhnlichen Belastungen zu schützen.
19. Die äußersten Grenzen staatlicher Schutzpflichten werden einerseits durch
den Wesensgehalt der Grundrechte, andererseits durch Grundrechte Dritter bestimmt, in die nicht unverhältnismäßig eingegriffen werden darf.
20. Das vom Staat gegenüber den gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern zu
gewährleistende Schutzniveau ist durch eine Interessenabwägung zu ermitteln, in
der die widerstreitenden Interessen in praktische Konkordanz gebracht werden. Auf
Seiten des Arbeitnehmers einzustellen sind vor allem Art und Ranghöhe des bedrohten Rechtsguts sowie das in den Fortbestand der Versorgungsrechte gesetzte Vertrauen, auf Seiten der Tarifvertragsparteien die kollektive Koalitionsfreiheit.
21. Ergebnis der Interessenabwägung ist, dass in Versorgungsansprüche bereits
verrenteter Arbeitnehmer grundsätzlich nicht eingegriffen werden darf. Eine Ausnahme besteht, wenn das Vertrauen des Versorgungsempfängers ausnahmsweise
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nicht schutzwürdig ist, wie z.B. im Fall einer Überversorgung. Bei volldynamischen
Versorgungszusagen darf zudem die zugesagte Rentendynamik beseitigt werden.
22. Bei Eingriffen in erdiente Versorgungsanwartschaften ist zwischen rentennahen und rentenfernen Arbeitnehmern zu differenzieren. Erdiente Versorgungsanwartschaften rentennaher Arbeitnehmer können um bis zu zehn Prozent, die rentenferner Arbeitnehmer um bis zu 25 Prozent gekürzt werden. Bei ausnahmsweise nicht
schutzwürdigem Vertrauen, vor allem bei drohender Überversorgung, sind weitergehende Eingriffe möglich. Die Differenzierung zwischen rentennahen und rentenfernen Arbeitnehmer ist mit dem AGG und dem (über staatliche Schutzpflichten
anwendbaren) allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar.
23. Keine Schranken bestehen hinsichtlich eines Eingriffs in zugesagte, zum Ablösungsstichtag aber noch nicht erdiente Versorgungsrechte.
24. Findet der ablösende Versorgungstarifvertrag nur kraft arbeitsvertraglicher
Bezugnahme Anwendung, gelten im Ergebnis die gleichen Grenzen. Die nichtorganisierten Arbeitnehmer sind der Gewerkschaft zwar nicht beigetreten, sie haben aber
von deren Tätigkeit profitiert und können deswegen billigerweise nicht erwarten, im
Ablösungsfall besser als organisierte Arbeitnehmer zu stehen.
25. Bei der Allgemeinverbindlicherklärung eines ablösenden Versorgungstarifvertrags ist das zuständige Bundesministerium an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und an die vom BVerfG entwickelte Rückwirkungslehre gebunden. Die Allgemeinverbindlicherklärung eines ablösenden Versorgungstarifvertrags, der die gegenüber verbandsangehörigen Arbeitnehmern geltenden Grenzen beachtet, verstößt
gegen keines der beiden Prinzipien. Sie ist weder unangemessen noch mit dem Vertrauensschutz unvereinbar, der den nichtorganisierten Arbeitnehmern aufgrund der
Rückwirkungslehre zukommt. Im Fall der Allgemeinverbindlicherklärung gelten
damit im Ergebnis die für organisierte Arbeitnehmer angeführten Grenzen.
26. Gleiches gilt gegenüber ehemaligen Verbandsmitgliedern.
27. In ablösenden Versorgungstarifverträgen darf nicht nach der Gewerkschaftszugehörigkeit differenziert werden.
28. Die im arbeitsrechtlichen Grundverhältnis maßgebenden Grenzen gelten auch
im Bezugsverhältnis.
29. Verstößt ein ablösender Versorgungstarifvertrag gegen die dargestellten Grenzen, ist er nichtig, kann also, da er nicht an die Stelle des bestehenden Versorgungstarifvertrags tritt, die Versorgungsrechte der gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer nicht herabsetzen. Auch bei einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme verbleibt es
bei den bisherigen Versorgungsregelungen. Da eine Allgemeinverbindlicherklärung
im Fall eines Verstoßes gegen die dargestellten Grenzen ebenfalls unwirksam ist,
bleiben die bisherigen, für allgemeinverbindlich erklärten Versorgungsregelungen
auch insofern bestehen.
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B. Konsequenzen für die behandelten Beispiele
I. Systemumstellung im öffentlichen Dienst durch die Altersversorgungstarifverträge ATV und ATV-K
Mit den Altersversorgungstarifverträgen ATV und ATV-K937 haben die Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes in die im Gesamtversorgungssystem erworbenen Anwartschaften vieler rentenferner Arbeitnehmer eingegriffen. Ursächlich
hierfür war, dass die Versorgungsanwartschaften nach § 33 Abs. 1, Abs. 2
ATV/ATV-K entsprechend § 18 Abs. 2 BetrAVG und nicht, wie eigentlich erforderlich, entsprechend § 2 Abs. 1 BetrAVG berechnet wurden.938 Die gegenteilige Ansicht des BGH, der bereits einen Eingriff in den geschützten Besitzstand verneint,939
ist abzulehnen. Die Berechnung nach § 18 Abs. 2 BetrAVG führte dazu, dass der
Wert der Versorgungsanwartschaften in einigen Fällen um mehr als 25 Prozent
hinter dem bereits erdienten, nach § 2 Abs. 1 BetrAVG berechneten Teilbetrag zurückblieb.940 Folgt man der hier vertretenen Ansicht, verstieß die Berechnung der
Startgutschriften rentenferner Jahrgänge bereits aus diesem Grund gegen höherrangiges Recht941 Zusätzlich führte sie, wie vom BGH zutreffend angenommen, auch zu
einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der
rentenfernen Arbeitnehmer.942 Die in das Versorgungspunktemodell übertragenen
Startgutschriften sind demgemäß unverbindlich.943
937
Tarifvertrag über die betriebliche Altersversorgung des öffentlichen Dienstes (Tarifvertrag
Altersversorgung – ATV) vom 1.3.2002 i.d.F. des 4. Änderungstarifvertrags vom 22.6.2007;
Tarifvertrag über die zusätzliche Altersvorsorge der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes
(Altersvorsorge-TV-Kommunal – ATV-K) vom 1.3.2002 i.d.F. des 4. Änderungstarifvertrags
vom 22.6.2007.
938
Oben Kap. 2 A III 2 b, S. 75 ff. und Kap. 2 C II 2 c, S. 104 ff.
939
BGH 14.11.2007, BetrAV 2008, 203, 208 f.
940
OLG Karlsruhe 24.11.2005, Az. 12 U 102/04, n.v. (B IV 9 b dd); OLG Karlsruhe 22.9.2005,
ZTR 2005, 588, 592.
941
Oben Kap. 4 D III 5 b, S. 203 ff.
942
Oben Kap. 4 E III 2, S. 216 f.
943
Im Ergebnis ebenso BGH 14.11.2007, BetrAV 2008, 203; OLG Karlsruhe 24.11.2005, Az. 12
U 102/04, n.v.; OLG Karlsruhe 22.9.2005, ZTR 2005, 588 m. zust. Anm. Kühn/Ebinger,
VersR 2005, 1713; Preis/Temming, GedS Blomeyer, S. 247, 264 ff.; dies., ZTR 2003, 262,
264 ff.; Rengier, NZA 2004, 817, 820 f.; a.A. LAG Hamm 18.1.2006, ZTR 2006, 320, 323;
Ackermann, BetrAV 2006, 247 ff.; Konrad, ZTR 2006, 356 ff.; Wein, BetrAV 2006, 331,
332 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die gesetzliche Rente ist längst nicht mehr sicher. Schutz gegen drohende Versorgungslücken bieten Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung. Neben betriebsbezogenen Versorgungssystemen gewinnen in der Praxis auch solche auf tariflicher Grundlage zunehmend an Bedeutung. Doch wie verhält sich ein solches System im Krisenfall? In welchem Umfang sind Eingriffe in Versorgungsrechte zur Rettung von Unternehmen möglich?
Diesen in Literatur und Rechtsprechung umstrittenen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit. Untersucht wird, ob die vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Drei-Stufen-Theorie auf ablösende Versorgungstarifverträge übertragbar ist und welche Bedeutung Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vertrauensschutzgesichtspunkte haben. Auf der Grundlage staatlicher Schutzpflichten entwickelt der Autor ein eigenes Lösungsmodell.
Das Werk wurde mit dem Südwestmetall-Föderpreis 2008 ausgezeichnet.