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4. Zwischenergebnis
Entgegen der Ansicht des BAG und der überwiegenden Literatur, beurteilt sich die
Frage, ob ein rückwirkender Versorgungstarifvertrag mit dem Vertrauen der Versorgungsberechtigten vereinbar ist, nicht nach der für rückwirkende Gesetze geltenden
Rückwirkungslehre. Tarifverträge enthalten zwar ebenfalls Rechtsnormen. Anders
als die staatliche Gesetzgebung ist die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien
aber privatautonom begründet. An das Rechtsstaatsprinzip und an die Grundrechte
sind sie deswegen nicht gebunden. Da das BVerfG seine Rückwirkungslehre aber
gerade hiermit begründet, kann sie auf ablösende Versorgungstarifverträge nicht
übertragen werden. Auf die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen ist
die Rückwirkungslehre dagegen grundsätzlich anwendbar. Sie ist aber, da Vertrauensschutz vorrangig Dispositionsschutz ist, zu modifizieren.
Trotz der Unanwendbarkeit der Rückwirkungslehre auf (nicht für allgemeinverbindlich erklärte) Tarifverträge, bleibt das Vertrauen der versorgungsberechtigten
Arbeitnehmer nicht ungeschützt. Der Staat ist jedenfalls im Rahmen seiner grundrechtlichen Schutzpflichten gehalten, auch das Vertrauen der Arbeitnehmer in den
Fortbestand der einmal begründeten Rechtslage zu beachten.
G. Zusammenfassung
Die Grenzen ablösender Versorgungstarifverträge folgen nicht schon aus dem zwischen Tarifvertragspartei und Mitglied bestehendem Mitgliedschaftsverhältnis, sondern ergeben sich aus den Schranken der allgemeinen Rechtsordnung. Dabei unterliegen Tarifverträge einer eingeschränkten Rechtskontrolle. Sie sind nur darauf zu
kontrollieren, ob sie mit der Verfassung, zwingendem Gesetzesrecht, den guten
Sitten sowie den tragenden Grundsätzen des Arbeitsrechts vereinbar sind. Dieser
eingeschränkte Prüfungsmaßstab gilt naturgemäß auch für ablösende Versorgungstarifverträge.
Die engen Grenzen, die das BAG dem Widerruf individualvertraglicher Unterstützungskassen und ablösenden Betriebsvereinbarungen durch das Drei-Stufen-
Modell setzt, können auf ablösende Versorgungstarifverträge nicht übertragen werden. Den Tarifvertragsparteien steht zum einen aus Art. 9 Abs. 3 GG ein gewisser
Einschätzungsspielraum zu, der sich auch im eingeschränkten Prüfungsmaßstab
widerspiegelt. Überdies kommt den im ablösenden Versorgungstarifvertrag vereinbarten Regelungen eine Richtigkeitsgewähr zu. Das ist beim (teilweisen) Widerruf
von Unterstützungskassenzusagen nicht der Fall, da dieser einseitig, ohne Beteiligung der Arbeitnehmerseite erfolgt. Auch ablösenden Betriebsvereinbarungen
kommt keine vergleichbare Richtigkeitsgewähr zu. Darüber hinaus wirken gekündigte Betriebsvereinbarungen auch nicht nach. Die Grenzen ablösender Versorgungstarifverträge sind daher rechtsformspezifisch zu bestimmen. Das Drei-Stufen-
Modell findet keine Anwendung.
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Der Dritte Senat des BAG zieht das Drei-Stufen-Modell ebenfalls nicht heran,
sondern greift für die Bestimmung der Grenzen ablösender Versorgungstarifverträge
auf die hinter diesem stehenden Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes zurück. Zur Konkretisierung des Vertrauensschutzes dient ihm dabei die vom BVerfG entwickelte Rückwirkungslehre. Darüber hinaus erkennt er
offenbar auch einen unentziehbaren Kernbereich von Besitzständen an, den er aber
nicht näher bestimmt; eine Begründung hierfür bleibt der Dritte Senat schuldig.
Auch im Übrigen überzeugt die Ansicht des Dritten Senats nicht. Die Tarifvertragsparteien sind, da sie eine privatautonome Befugnis ausüben, weder an das Rechtsstaatsprinzip noch unmittelbar an die Grundrechte gebunden, was aber Voraussetzung für eine Bindung an Verhältnismäßigkeitsprinzip und Rückwirkungslehre wäre. Eine Bindung besteht somit nur, soweit der ablösende Versorgungstarifvertrag
für allgemeinverbindlich erklärt wurde. Diese trifft aber nicht die Tarifvertragsparteien, sondern das die Allgemeinverbindlichkeit erklärende Bundesministerium. Nur
in diesem Fall sind Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Rückwirkungslehre zu beachten; die Rückwirkungslehre ist dabei allerdings zu modifizieren.
Dass die Tarifvertragsparteien nicht unmittelbar an die Grundrechte gebunden
sind und auch die Rückwirkungslehre nicht zu beachten haben, bedeutet nicht, dass
sie ungehindert in Versorgungsrechte der tarifgebundenen Arbeitnehmer eingreifen
dürfen. Der Staat muss die Geltung der in den Grundrechten getroffenen Wertentscheidungen auch im Tarifrecht sicherstellen; dazu ist er durch die Schutzpflichtfunktion der Grundrechte verpflichtet.
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Zusammenfassung
Die gesetzliche Rente ist längst nicht mehr sicher. Schutz gegen drohende Versorgungslücken bieten Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung. Neben betriebsbezogenen Versorgungssystemen gewinnen in der Praxis auch solche auf tariflicher Grundlage zunehmend an Bedeutung. Doch wie verhält sich ein solches System im Krisenfall? In welchem Umfang sind Eingriffe in Versorgungsrechte zur Rettung von Unternehmen möglich?
Diesen in Literatur und Rechtsprechung umstrittenen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit. Untersucht wird, ob die vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Drei-Stufen-Theorie auf ablösende Versorgungstarifverträge übertragbar ist und welche Bedeutung Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vertrauensschutzgesichtspunkte haben. Auf der Grundlage staatlicher Schutzpflichten entwickelt der Autor ein eigenes Lösungsmodell.
Das Werk wurde mit dem Südwestmetall-Föderpreis 2008 ausgezeichnet.