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2. Kapitel: Eingriff in zugesagte Versorgungsrechte
Nachdem im 1. Kapitel die wesentlichen Grundlagen dargestellt wurden, soll im
Folgenden untersucht werden, unter welchen Voraussetzungen die Tarifvertragsparteien in zugesagte Versorgungsrechte eingreifen können und in welchen Fällen
überhaupt ein Eingriff vorliegt. Erst daran anschließend stellt sich die Frage, an
welche Grenzen die Tarifvertragsparteien beim Eingriff gebunden sind (dazu die
nachfolgenden Kapitel). Denn fehlt es bereits an einem Eingriff in Versorgungsrechte, muss die Frage nach den Eingriffsgrenzen gar nicht erst gestellt werden.
Nachfolgend soll in zwei Schritten vorgegangen werden: Zunächst gilt es, das
Versorgungsrecht, in das durch Tarifvertrag eingegriffen werden soll, näher zu
bestimmen (unten A). Alsdann ist zu untersuchen, ob in diesen Besitzstand durch
Tarifvertrag eingegriffen werden kann und, falls dies zu bejahen ist, in welchen
Fällen eine nachteilige Änderung bereits zugesagter Versorgungsrechte vorliegt
(unten B, C).
A. Bestimmung des geschützten Besitzstands
I. Besitzstand
Als „Besitzstand“ kann allgemein der einer natürlichen oder juristischen Person zu
einem bestimmten Zeitpunkt zustehenden Bestand an vermögenswerten Rechten
bezeichnet werden. Zu ihm zählen auch dem Arbeitnehmer tariflich zugesagte Versorgungsrechte. Dass diese vermögenswert sind, folgt bereits aus dem Entgeltcharakter der betrieblichen Altersversorgung, wird aber auch durch das Betriebsrentengesetz, etwa durch die Regelungen zum Insolvenzschutz in § 7 BetrAVG, bestätigt.
Vermögenswert besitzen die zugesagten Versorgungsrechte – wie § 7 Abs. 2
BetrAVG zeigt – bereits vor Eintritt des Versorgungsfalls, d.h. bevor der eigentliche
Versorgungsanspruch entsteht. Auch Versorgungsanwartschaften zählen folglich als
vermögenswerte Rechte zum geschützten Besitzstand.
Tarifverträge und die aus ihnen erwachsenden (Versorgungs-)Ansprüche tragen
nach mittlerweile ständiger Rechtsprechung des BAG allerdings die Schwäche in
sich, dass sie in den durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes gezogenen Grenzen auch zum Nachteil des Arbeitnehmers rückwirkend geändert werden können;213
dies muss – a maiore ad minus – erst Recht für bereits entstandene Anwartschaftsrechte gelten. Legt man die Rechtsprechung des BAG zugrunde, stellt sich folglich
213
Grundlegend BAG 23.11.1994, AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 12 (II 2 c cc). Bestätigt durch
BAG 15.11.1995, AP TVG § 1 Tarifverträge: Lufthansa Nr. 20 (IV); BAG 13.11.1995, AP
MantelG DDR § 31 Nr. 1 (I 1.2.3).
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die Frage, ob tariflich begründete Versorgungsrechte den begünstigten Arbeitnehmern wirklich zustehen, man also überhaupt von einem geschützten Besitzstand
sprechen kann.
Das BAG begründet die jederzeitige Abänderbarkeit von Tarifverträgen damit,
dass die Tarifvertragsparteien seiner Ansicht nach den zeitlichen Geltungsbereich
eines Tarifvertrages in den verfassungsrechtlich gezogenen Grenzen frei festlegen
und sein Inkrafttreten aufgrund dessen auch in die Vergangenheit datieren können.214 Dabei müsse sich die rückwirkende Vereinbarung eines neuen Tarifvertrages
nicht auf die Zeit eines tariflosen Zustandes beschränken, sondern könne auch auf
die Laufzeit eines früheren Tarifvertrags zurückgreifen.215 Die den Tarifvertragsparteien dadurch grundsätzlich eingeräumte Möglichkeit, entstandene tarifliche Versorgungsrechte dem Arbeitnehmer rückwirkend wieder zu entziehen, ändert jedoch
richtigerweise nichts daran, dass ihm das tariflich eingeräumte Recht bis zur Vereinbarung des ablösenden Tarifvertrags zugeordnet war. Durch die Vorverlegung des
zeitlichen Geltungsbereichs wird das Versorgungsrecht nicht von Anfang an beseitigt. Es wird vielmehr nachträglich in eine dem Arbeitnehmer zugeordnete Rechtsposition eingegriffen und rechtlich fingiert, dass ihm von Anfang an keine oder nur
eine geringere Versorgung zugesagt war. Tarifliche Versorgungsrechte stehen dem
begünstigten Arbeitnehmer folglich zu, bis nachträglich in sie eingegriffen wird,
gehören also zu seinem Besitzstand.216
II. Einteilung des Besitzstandes nach Ansicht des BAG
Mit dem Eintritt des Versorgungsfalls steht dem Arbeitnehmer ein Anspruch auf die
zugesagten Versorgungsleistungen zu. Die ihm vor diesem Zeitpunkt zustehenden
Versorgungsrechte unterteilt das BAG seit seiner Entscheidung vom 17.4.1985217 in
ständiger Rechtsprechung in drei Stufen: den bis zum Ablösungsstichtag erdienten
Teilbetrag der Versorgungsanwartschaft, die sog. erdiente Dynamik und die bis zum
Ablösungsstichtag noch nicht erdienten, dienstzeitabhängigen Steigerungsraten.218
Die Einteilung der Versorgungsbesitzstände noch aktiver Arbeitnehmer in einen
erdienten und einen noch nicht erdienten Teilbetrag begegnet keinen Bedenken. Der
Arbeitnehmer ist, wie gesehen, zur Vorleistung verpflichtet. Aus dem Entgeltcharakter der betrieblichen Altersversorgung folgt zugleich, dass er die Versorgungsleistungen durch seine Betriebstreue bis zum Ablösungsstichtag bereits zeitanteilig
214
BAG 23.11.1994, AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 12 (II 2 c cc).
215
BAG 23.11.1994, AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 12 (II 2 c dd); bestätigt von BAG
15.11.1995, AP TVG § 1 Tarifverträge: Lufthansa Nr. 20 (IV); zustimmend etwa
H/W/K/Henssler, Einleitung TVG Rn. 19, § 1 TVG Rn. 128.
216
Ebenso im Ergebnis Kempen/Zachert/Stein, TVG, § 4 Rn. 115.
217
BAG 17.4.1985, AP BetrAVG § 1 Unterstützungskassen Nr. 4.
218
BAG 19.4.2005, AP BetrAVG § 1 Betriebsvereinbarung Nr. 9 (B II 1); BAG 18.3.2003, AP
BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 41 (B II 2 a); BAG 19.11.2002, AP BetrAVG § 1 Ablösung
Nr. 40 (B I 3).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die gesetzliche Rente ist längst nicht mehr sicher. Schutz gegen drohende Versorgungslücken bieten Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung. Neben betriebsbezogenen Versorgungssystemen gewinnen in der Praxis auch solche auf tariflicher Grundlage zunehmend an Bedeutung. Doch wie verhält sich ein solches System im Krisenfall? In welchem Umfang sind Eingriffe in Versorgungsrechte zur Rettung von Unternehmen möglich?
Diesen in Literatur und Rechtsprechung umstrittenen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit. Untersucht wird, ob die vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Drei-Stufen-Theorie auf ablösende Versorgungstarifverträge übertragbar ist und welche Bedeutung Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Vertrauensschutzgesichtspunkte haben. Auf der Grundlage staatlicher Schutzpflichten entwickelt der Autor ein eigenes Lösungsmodell.
Das Werk wurde mit dem Südwestmetall-Föderpreis 2008 ausgezeichnet.