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300) berührt nach der hier vertretenen Auffassung sogar einen Bereich der Demokratie, in dem das Verfassungsgericht einen besonders intensiven Kontrollauftrag hat, da
bei dieser Frage über die Chancengleichheit der Parteien im demokratischen Kampf
um Wählerstimmen (mit)entschieden wird. Über diese Chancengleichheit zu wachen
(und gegebenenfalls über ihre Verwirklichung autoritativ zu befinden), gehört gerade
zur Kernaufgabe des Bundesverfassungsgerichts. Wie für Schneider sind aber auch
nach der hier vorgetragenen Argumentation die Urteile zur Wehrdienstverweigerung
(BVerfGE 69, 1), zur Abtreibungsfrage (2. Abtreibungsurteil; BVerfGE 88, 203)
sowie die oben schon diskutierten Entscheidungen zur Reform der Universitätsgremien oder der „amtsangemessenen Alimentierung“ von Beamten unter demokratiefunktionalen Gesichtspunkten problematisch. Mit den hier vorgetragenen Maßstäben
lässt sich aber besser begründen, weshalb diese Urteile problematisch sind.
Mit Hilfe der Unterscheidung von demokratiefunktionalem und demokratiedysfunktionalem Agieren des Bundesverfassungsgerichts können die Urteile des Gerichts sehr viel exakter analysiert werden als mit Hilfe der zu Beginn dieser Untersuchung diskutierten prozeduralistischen Position á la Ely oder der stark substantialistischen, aber in ihren Abgrenzungskriterien eher unklaren á la Dworkin. Dabei
ermöglicht auch die Betrachtung der Demokratiefunktionalität natürlich keine mechanistische Kategorisierung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts –
sie gibt aber zumindest eindeutigere Kriterien an die Hand, mit deren Hilfe eine
begründete Zuordnung der untersuchten Urteile getroffen werden kann.
6.3 Fazit: Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zur Qualität der
bundesdeutschen Demokratie
Was bedeutet nun all dies für den Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zur Qualität der bundesdeutschen Demokratie? In Kapitel 3.3 dieser Untersuchung waren fünf
Faktoren herausgearbeitet worden, die Aufschluss darüber geben können, unter
welchen Bedingungen Verfassungsgerichte prima facie die Qualität eines demokratischen Systems erhöhen helfen: die Kompetenzausstattung des Gerichts, die institutionelle Gestaltung des Gerichtszugangs, seine (institutionelle und faktische) Unabhängigkeit, seine Implementierungsstärke und die Art und Weise der faktischen
Kompetenzausübung durch das Verfassungsgericht.
Hinsichtlich der ersten vier (institutionellen) Kriterien kann festgehalten werden,
dass das Bundesverfassungsgericht tatsächlich beste Voraussetzungen dafür mitbringt, einen positiven Beitrag für die bundesdeutsche Demokratie zu leisten: Es ist
erstens – auch im internationalen Vergleich – mit starken institutionellen Kompetenzen ausgestattet und sieht sich damit prinzipiell in die Lage versetzt, seine Kontrollfunktion adäquat zu erfüllen. Der vergleichsweise offen gestaltete Zugang zum
Bundesverfassungsgericht sorgt – zweitens – dafür, dass das Gericht bei perzipierten
Verfassungsverstößen auch tatsächlich von interessierten Akteuren eingeschaltet
werden und so Verstöße auch ahnden kann. Zudem konnte – drittens – gezeigt wer-
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den, dass das Bundesverfassungsgericht aufgrund vielfältiger institutioneller Mechanismen vergleichsweise unabhängig agieren kann. Weder ist es budgetär von der
Politik übermäßig abhängig noch werden seine Richter über Wahl- und Wiederwahlmechanismen dem Wohlwollen politischer Akteure ausgesetzt. Viertens
schließlich konnte gezeigt werden, dass das Bundesverfassungsgericht aufgrund
seiner hohen empirischen Legitimation in der bundesdeutschen Bevölkerung und
seines institutionellen Letztentscheidungsrechts in Fragen der Auslegung der Verfassung über ein hohes Implementationsvermögen verfügt. Die Umsetzung seiner
Urteile kann zwar mitunter verzögert, nicht aber vollends konterkariert werden. All
dies spricht dafür, dass das Bundesverfassungsgericht von der institutionellen Seite
her so ausgestattet ist, dass es positiven Einfluss auf das bundesdeutsche demokratische System nehmen kann.
Ob das Gericht diese günstigen Rahmenbedingungen auch genutzt hat, erweist
sich aber erst in der Analyse der faktischen Ausübung dieser institutionell eröffneten
Kompetenzen und in der Überprüfung seiner Entscheidungen. Nach den in dieser
Untersuchung angestellten demokratietheoretischen Überlegungen zur Rolle von
Verfassungsgerichten in Demokratien lassen sich vor allem zwei Kriterien nennen,
die darüber entscheiden, ob Verfassungsgerichte einen positiven Beitrag für das
demokratische Regierungssystem leisten, in das sie eingebettet sind: Erstens müssen
sie sich politisch neutral in dem Sinne verhalten, dass sie ihre Aufgaben tatsächlich
unabhängig von politischer Einflussnahme und den jeweils herrschenden politischen
Mehrheitsverhältnissen erfüllen. Die Urteile von Verfassungsgerichten können zwar
nie „politisch neutral“ in dem Sinne sein, dass ihre Entscheidungen ohne Auswirkung auf die Politik bleiben oder politisches Handeln nicht beeinflussen könnten.
Wichtig für die Funktion (und die demokratische Legitimation) von Verfassungsgerichten ist aber, dass ihre Entscheidungen als fair angesehen werden können. Und ob
eine Entscheidung als fair wahrgenommen wird oder nicht, hängt letztlich davon ab,
ob die Entscheidungsfindung selbst von der Politik unabhängig erfolgt oder nicht.
Zweitens können Verfassungsgerichte nur dann einen positiven Beitrag für das demokratische System leisten, wenn ihre Urteile demokratiefunktional im hier diskutierten Sinne sind – wenn sie also dann in die Handlungssphäre des Gesetzgebers,
der Exekutive und auch der Judikative eingreifen, wenn diese ihre Kompetenzen und
demokratischen Funktionen überschreiten. Die beiden Kriterien „Neutralität“ und
„Demokratiefunktionalität“ bezeichnen damit zwei unterschiedliche, sich gegenseitig ergänzende Dimensionen „demokratischer Qualität“ verfassungsgerichtlichen
Agierens. Die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts soll abschließend hinsichtlich
beider Kriterien bewertet werden.
Neutralität
Die Neutralität des Bundesverfassungsgerichts lässt sich zunächst (vielleicht sogar in
erster Linie) in den „politischen“ Verfahren ablesen, die das Gericht in den letzten gut
339
55 Jahren zu bewältigen hatte: den Bund-Länder-Streitverfahren, den Organstreitverfahren und den abstrakten Normenkontrollverfahren. Die Analyse dieser drei Verfahrensformen hat gezeigt, dass sich das Gericht hier als überaus „neutraler“ Akteur
erwiesen hat. Weder hat es verschiedenen (politischen) Antragstellern unterschiedliche Erfolgschancen eingeräumt noch hat es dadurch seine Neutralität gefährdet, dass
es diese Verfahren zum Anlass genommen hätte, sich selbst als Konkurrenten der
Politik zu positionieren. Wie die nur moderat ausfallenden Erfolgsquoten der jeweiligen Anträge gezeigt haben, hat das Bundesverfassungsgericht den im politischen
Prozess unterlegenen Akteuren auch nicht nachträglich zu einer Vetomacht verholfen,
die sie ursprünglich nicht hatten. Mit anderen Worten: Das Gericht hat sich insgesamt
betrachtet nicht von politischen Akteuren instrumentalisieren lassen, sondern war
insbesondere im abstrakten Normenkontrollverfahren darauf bedacht, seine Neutralität nicht nur institutionell, sondern auch in der Urteilsfindung zu wahren.
Dies gilt letztlich auch für die von Uwe Wesel so bezeichnete „parteipolitische
Phase des Bundesverfassungsgerichts gegen die sozialliberale Koalition“ in den
1970er Jahren (Wesel 2004: 367). Betrachtet man hier nicht nur die von der damaligen CDU/CSU-Opposition politisierten Verfahren zu Grundlagenvertrag, Hochschulreform, Schwangerschaftsabbruch oder Kriegsdienstverweigerung, sondern
alle in dieser Phase entschiedenen Verfahren (inklusive Verfassungsbeschwerden
und konkreten Normenkontrollverfahren), relativiert sich dieses Bild doch deutlich.
Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen hat sich das Bundesverfassungsgericht
auch in dieser Zeit als eher fairer und neutraler Akteur erwiesen, zumal die verfassungsgerichtliche Verhinderung von Reformpolitik nicht per se parteiisch, unangemessen oder dysfunktional sein muss.
Werden nicht nur die „politischen“ Verfahren, sondern auch die große Anzahl der
Verfassungsbeschwerden und konkreten Normenkontrollverfahren in die Analyse mit
einbezogen, bestätigt sich dieses Bild für den gesamten hier untersuchten Zeitraum.
Anhand der in den 55 Untersuchungsjahren ergangenen Urteile lässt sich keine (parteipolitische) Färbung des Bundesverfassungsgerichts ausmachen. Zwar ist gezeigt
worden, dass sich die Prüfintensität durch das Gericht im Laufe der Zeit leicht erhöht
hat, es kann aber nicht festgestellt werden, dass das Gericht Normen einer bestimmten
parteipolitischen Konstellation kritischer untersucht (und häufiger annulliert) hätte als
die einer anderen. Zwar sind in manchen Fällen durchaus ideologische Differenzen in
den Senaten offenbar geworden (etwa im Verfahren zum rot-grünen Lebenspartnerschaftsgesetz im Jahr 2002, der Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit von Überhangmandaten aus dem Jahr 1997 oder den beiden Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch 1975 und 1993). Wenn solche Differenzen auftraten, waren sie aber in
den allermeisten Fällen weniger parteipolitisch motiviert als vielmehr unterschiedlichen rechtlichen (und mitunter auch gesellschaftspolitischen) Auffassungen geschuldet; klare „parteipolitische Spaltungen“ zwischen SPD- und CDU-nahen Richtern
waren eher die Ausnahme. Das Gericht hat häufiger in die Politik interveniert, es hat
dabei aber seine neutrale Stellung gegenüber einer bestimmten Regierungskonstellation oder gegenüber der Politik insgesamt nicht aufgegeben.
340
Was sind die Ursachen für diese vergleichsweise neutrale Position des Bundesverfassungsgerichts? Ein erster wichtiger Grund ist in den oben beschriebenen institutionellen Mechanismen der Richterauswahl und der institutionellen Isolierung von politischem Druck zu finden. Da für die Ernennung von Richtern am Bundesverfassungsgericht faktisch die Zustimmung beider großer Volksparteien SPD und CDU/CSU
vonnöten ist, lassen sich weder Parteigänger noch rechtswissenschaftliche Außenseiter im Gericht installieren, die das Gericht über Gebühr politisieren könnten. Der
Konsenszwang bei der Auswahl der Verfassungsrichterinnen und -richter hat zumindest in der Vergangenheit im Großen und Ganzen solche Richter an das Bundesverfassungsgericht gebracht, denen mehr an einem politisch neutralen Gericht gelegen
war als an einem politisch klar positionierten. Zudem hat der Auswahlmechanismus
indirekt auch das Selbstverständnis des Gerichts geprägt: Dieses definiert sich bis
heute über die korrekte Durchsetzung der Verfassungsnormen als über die Durchsetzung eigener politischer Agenden (sieht man einmal von der Leidenschaft eines Richters Kirchhof für eine neue Steuersystematik ab).
Hinzu kommt, dass sich das Bundesverfassungsgericht Zeit seines Bestehens immer wieder – unabhängig von seiner parteipolitischen Zusammensetzung – gegenüber
der Politik behaupten musste. Eine erste „Krise“ erlebte es schon zu Beginn der
1950er Jahre, als es, institutionell noch kaum gefestigt, mit der Regierung Adenauer
um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik rang (vgl. Lembcke 2006 und zu dieser „ersten großen Krise“ zwischen Gericht und Politik Wesel 2004: 54 ff.). Eine zweite große Krise erlebte es Mitte der 1990er Jahre, als es nach einer Reihe „liberaler“
Urteile (u. a. Kruzifix, Soldaten-sind-Mörder, Sitzblockaden) öffentlich unter Beschuss geriet (vgl. ebd.: 308 ff. und Lamprecht 1996). Aber auch die öffentlichen Debatten über die Rolle des Gerichts gegenüber der sozialliberalen Reformpolitik der
1970er Jahre (vgl. z. B. Grigoleit 2006) sowie öffentliches Lob und Kritik nach vermeintlich „spektakulären“ Urteilen haben dafür gesorgt, dass das Bundesverfassungsgericht sein Selbstverständnis stetig hinterfragen (und rechtfertigen) musste.
Dass das Gericht dabei sehr deutlich auf ein der Neutralität verpflichtetes öffentliches Image Wert gelegt hat, erklärt sich aber vor allem dadurch, dass es nur über dieses neutrale Image eine Ressource aktualisieren kann, die es zur Durchsetzung seiner
Urteile benötigt: Legitimität. Oben ist beschrieben worden, dass das Bundesverfassungsgericht nur mittels einer hohen Legitimation in der Bevölkerung in die Lage
versetzt wird, seine Urteile auch gegen Widerstand der Politik zu implementieren.
Möglichst neutral zu agieren (oder zumindest so zu erscheinen) liegt also letztlich im
institutionellen Eigeninteresse des Gerichts. Die hohen Zustimmungsraten in der Bevölkerung belegen, dass dies in der Vergangenheit auch weitgehend geglückt ist.
Da das Bundesverfassungsgericht zudem über weitere institutionelle Mechanismen von politischem Druck weitgehend isoliert ist, wird dieses Neutralitätsbestreben
auch von politischer Seite nicht oder nur kaum beeinträchtigt. Mit fest definierten
Amtszeiten der Bundesverfassungsrichter, der Unmöglichkeit ihrer Abwahl und dem
Verbot einer Wiederwahl, der Unmöglichkeit einer Überstimmung des Gerichts
durch die Politik mit einfachen Mehrheiten diesseits der Verfassungsänderung und
341
seiner haushaltsrechtlichen Unabhängigkeit bringt das Bundesverfassungsgericht
beste institutionelle Voraussetzungen dafür mit, tatsächlich als neutraler Akteur zu
fungieren und wahrgenommen zu werden. Beides ist dem Gericht in der Vergangenheit gut gelungen.
Demokratiefunktionalität
Demokratiefunktionalität und -dysfunktionalität von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind in diesem Kapitel schon ausführlich diskutiert worden.
Bislang sind dabei vor allem Normenkontrollverfahren und solche Verfassungsbeschwerdeverfahren Gegenstand der Betrachtung gewesen, in denen direkt oder indirekt Gesetze und Verordnungen geprüft wurden. Es hat sich gezeigt, dass die überwiegende Mehrzahl dieser Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als demokratiefunktional angesehen werden können. Die Ergebnisse dieser Diskussion
sollen hier nicht noch einmal wiederholt werden. Stattdessen soll der Blick abschlie-
ßend auf all jene Verfahren erweitert werden, in denen zwar keine Normprüfung
stattgefunden hat, die aber für die Frage der Demokratiefunktionalität des Agierens
des Bundesverfassungsgerichts von nicht minder wichtiger Bedeutung sind, wie
beispielhafte Fälle aus den Bereichen Urteilsverfassungsbeschwerde, Organklage,
Wahlprüfung und Parteiverbotsverfahren zeigen.
Ein überaus großer Anteil der Verfassungsbeschwerdeverfahren betrifft beispielsweise solche Klagen, die sich direkt gegen fachgerichtliche Urteile richten.
Ausweislich der Jahresstatistik des Bundesverfassungsgerichts machen diese Urteilsverfassungsbeschwerden zwischen 92 und 94 Prozent aller Verfassungsbeschwerden aus (vgl. Bundesverfassungsgericht 2006, aber z. B. auch Gusy 2001).
Obwohl das Gericht selbst nicht müde wird zu betonen, dass es keine „Superrevisionsinstanz“ sei und seine Kernaufgabe nicht darin sehe, gegenüber Fachgerichten
und obersten Bundesgerichten als weitere Kontrollinstanz zu fungieren, hat das
Bundesverfassungsgericht faktisch seine Kontrolltätigkeit gegenüber letztinstanzlichen Urteilen sukzessive ausgebaut. Zwar sollen die mit der Verfassungsbeschwerde
angegriffenen Urteile eigentlich „nur“ unter dem Gesichtspunkt ihrer Verfassungsmäßigkeit (und nicht etwa hinsichtlich einer fehlerhaften Anwendung einfachen
Rechts) geprüft werden, faktisch wirkt Karlsruhe aber auch über diesen Mechanismus wirkmächtig in die Rechtsordnung hinein, weil es auch die fehlerhafte Anwendung einfachen Rechts mitunter als Grundrechtsverstoß wertet (vgl. Schlaich/Korioth 2004: 14). Die bis heute gültige Auffassung des Gerichts manifestiert sich im
berühmten (und folgenreichen) „Lüth-Urteil“ von 1958, das die Drittwirkung der
Grundrechte auf die gesamte Rechtsordnung erstreckt:
„Das Verfassungsgericht hat zu prüfen, ob das ordentliche Gericht die Reichweite und Wirkkraft
der Grundrechte im Gebiet des bürgerlichen Rechts zutreffend beurteilt hat. Daraus ergibt sich
aber zugleich die Begrenzung der Nachprüfung: es ist nicht Sache des Verfassungsgerichts, Urteile des Zivilrichters in vollem Umfange auf Rechtsfehler zu prüfen; das Verfassungsgericht hat
342
lediglich die bezeichnete ‚Ausstrahlungswirkung‘ der Grundrechte auf das bürgerliche Recht zu
beurteilen und den Wertgehalt des Verfassungsrechtssatzes auch hier zur Geltung zu bringen.
Sinn des Instituts der Verfassungsbeschwerde ist es, daß alle Akte der gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Gewalt auf ihre ‚Grundrechtsmäßigkeit‘ nachprüfbar sein sollen (§ 90
BVerfGG). Sowenig das Bundesverfassungsgericht berufen ist, als Revisions- oder gar ‚Superrevisions‘-Instanz gegenüber den Zivilgerichten tätig zu werden, sowenig darf es von der Nachprüfung solcher Urteile allgemein absehen und an einer in ihnen etwa zutage tretenden Verkennung
grundrechtlicher Normen und Maßstäbe vorübergehen“ (BVerfGE 7, 198 (207)).
Diese Ausdehnung des verfassungsgerichtlichen Kontrollbereichs durch das Gericht
selbst mag unter staatsrechtlichen Gesichtspunkten problematisch erscheinen (siehe
etwa Schlaich/Korioth 2004: 14), in demokratietheoretischer Hinsicht ist sie jedoch
grundsätzlich zu begrüßen. Die Bindung aller Staatsgewalt und des bürgerlichen
Rechts an die Grundrechte hat zweifellos die demokratische Qualität der Bundesrepublik erhöht. Die Grundrechte sind „zum Hebel des Bürgers geworden“ (ebd.), der
gegen exekutive, legislative und auch judikative Akte angesetzt werden kann. Nicht
zuletzt durch die Entwicklung der Verfassungsbeschwerde zur „Klagemauer der
Bürger“ (Blankenburg 1998) stieg auch das Vertrauen der Bürger in den demokratischen Rechtsstaat erheblich. Demokratietheoretisch betrachtet gehört die Kontrolle
der Justiz über das Instrument der Urteilsverfassungsbeschwerde auch zu den originären Aufgaben eines Verfassungsgerichtes: Das Gericht schützt damit nicht nur die
Grundrechte der Bürger (die zweifelsfrei den Kern demokratischer Prinzipien bilden),
sondern auch das Funktionieren der horizontalen Gewaltenkontrolle. Wenn Gerichte
durch die verfassungswidrige Auslegung von einfachen Gesetzen Grundrechte verletzen, handelt das Bundesverfassungsgericht demokratiefunktional, wenn es solche
Urteile überprüft und gegebenenfalls zur erneuten Entscheidung zurück verweist.
Urteilsverfassungsbeschwerden werfen aber nicht nur Fragen der korrekten Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien auf. Mit der Entscheidung von Urteilsverfassungsbeschwerden können mitunter auch wichtige politische Fragen (mit)entschieden
werden, wodurch wieder die Abgrenzungsproblematik zwischen Gericht und Gesetzgeber aufscheint. Dies zeigt beispielhaft das Verfahren zum „Kopftuchstreit“: Im
September 2003 hatte das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsbeschwerde einer Lehrerin aus Baden-Württemberg zu entscheiden, deren Einstellung in den
Schuldienst mit dem Argument abgelehnt worden war, dass ihr die Eignung für den
Schuldienst fehle, weil sie sich weigere, ihr Kopftuch im Dienst abzulegen. Die ablehnende Entscheidung des Oberschulamtes Stuttgart wurde durch das Verwaltungsgericht Stuttgart, den Verwaltungsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg und
letztinstanzlich durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigt. Das Bundesverfassungsgericht hingegen entschied, dass das Kopftuchverbot für Lehrkräfte im damals
geltenden Landesrecht keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage gehabt
habe, hob das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auf und verwies die Sache wieder dorthin zurück (BVerfGE 108, 282). Zugleich mahnte das Gericht – in einem eher
vorsichtig formulierten zweiten Leitsatz – den Gesetzgeber, den zunehmenden religi-
ösen Pluralismus der Gesellschaft zum Anlass einer „Neubestimmung des zulässigen
Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule“ zu nehmen (ebd., 2. Leitsatz).
343
Gestützt wurde das Urteil auf Artikel 33 Absatz 2 und 3 in Verbindung mit Artikel
4 Absatz 1 und 2 GG. Artikel 33 postuliert, dass jedem Deutschen nach Eignung und
Fähigkeit der gleiche Zugang zu einem öffentlichen Amt offen stehen muss, dass
dieses Recht unabhängig von einem religiösen Bekenntnis besteht und aus einem
solchen Bekenntnis niemandem ein Nachteil erwachsen darf. Artikel 4 wiederum
konkretisiert die Glaubens- und Religionsfreiheit. Obwohl das Gericht – anders als im
Kruzifixurteil – bezüglich der grundsätzlichen Frage der Zulässigkeit von Kopftüchern im Unterricht sehr umsichtig unterschiedliche Rechtspositionen gegeneinander
abwog, ohne die Frage ex cathedra zu entscheiden, zeigt diese Entscheidung doch,
dass auch im Urteilsverfassungsbeschwerdeverfahren mitunter gewichtige rechtliche
und politische Probleme behandelt werden – und dass auch die Entscheidungen in
diesen Verfahren nicht ohne Auswirkung auf den politischen Prozess bleiben (können). Und unabhängig davon, ob diese Auswirkungen im Einzelfall immer funktional
für die bundesdeutsche Demokratie waren, bleibt insgesamt doch festzuhalten, dass
das Bundesverfassungsgericht durch Annahme und Entscheidung von Urteilsverfassungsbeschwerden die Qualität des bundesdeutschen Rechtsstaates – und damit auch
die der bundesdeutschen Demokratie – eher erhöht als vermindert hat.161
Sehr viel stärker noch als in Urteilsverfassungsbeschwerdeverfahren hat das Bundesverfassungsgericht in Organklage- und Bund-Länder-Streitverfahren über Fragen
der vertikalen und horizontalen Gewaltenkontrolle gewacht und auch damit die
Qualität der bundesdeutschen Demokratie eher erhöht als verringert. Die Lösung der
sich in diesen Verfahren manifestierenden Kompetenzkonflikte gehört zur klassischen „Schiedsrichterfunktion“ des Bundesverfassungsgerichts. Welche Rechte
einem Abgeordneten zukommen, welche Entscheidungen eine Regierung ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung treffen darf oder nach welcher Methode ein
Untersuchungsausschuss eingerichtet werden muss, sind wichtige prozedurale Fragen, die im Streitfall durch Verfassungsgerichtsurteile beantwortet werden müssen.
Auch Streitigkeiten über die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern
muss durch einen unabhängigen Dritten beigelegt werden, wenn Auseinandersetzungen hierüber von den politischen Akteuren nicht autonom zu lösen sind. Beschlüsse dieser Art sind nach dem hier vorgestellten Demokratiemodell fast immer
demokratiefunktional, weil sie unabhängig vom konkreten Inhalt einer Entscheidung
die Funktion erfüllen, Kompetenzen autoritativ zuzuschreiben, ohne zugleich materiell-inhaltliche Fragen zu beeinflussen. Schließlich sind die horizontale und vertikale Gewaltenkontrolle wichtige Teilregime der Demokratie, deren Funktionsfähigkeit
mitunter nur durch Entscheidungen eines Verfassungsgerichts aufrechterhalten werden kann.
Sowohl im Organ- wie auch im Bund-Länder-Streitverfahren werden aber nicht
nur formal Kompetenzbereiche zugewiesen oder eingeengt; mitunter werden auch
161 Am deutlichsten wird dies vielleicht an den unzähligen Urteilsverfassungsbeschwerden, die die
Rechte von Strafgefangenen oder die Rechte von Angeklagten in Strafprozessen zum Gegenstand hatten. Hier hat das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit die Grundrechte Einzelner und den liberalen Rechtsstaat insgesamt deutlich gestärkt.
344
hier gewichtige materielle Entscheidungen getroffen, die ihrerseits hinsichtlich ihrer
Demokratiefunktionalität analysiert werden können. Ein Beispiel für ein solch materiell gehaltvolles Verfahren aus dem Bereich der Organklagen stellt etwa das Verfahren zur Parteienfinanzierung aus dem Jahr 1992 dar (BVerfGE 85, 264). Das
Bundesverfassungsgericht hatte auf Antrag der Partei der Grünen darüber zu befinden, ob Bundestag und Bundesrat deren Rechte durch Änderung des Parteiengesetzes im Jahr 1989 verletzt hatten (die Änderungen betrafen die Berechnung des
Chancenausgleichs, die Einführung eines Sockelbetrags, die Erhöhung der Publizitätsgrenze für die Veröffentlichung von Parteispenden sowie die Erhöhung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Beiträgen und Spenden für politische Parteien). Die
Grünen argumentierten, die Neuerungen beeinträchtigten ihren Status als politische
Partei und ihre Rechte auf Staatsfreiheit und Chancengleichheit. Das Bundesverfassungsgericht schloss sich in seinem Urteil in weiten Teilen der Argumente der Klägerin an und erklärte Teile des Parteiengesetzes und des für die Parteinfinanzierung
relevanten Steuerrechts für verfassungswidrig (vgl. auch Menzel 2000: 489 ff.).
Unter anderem entschied das Gericht, dass der Grundsatz der Staatsfreiheit nur eine
öffentliche Teilfinanzierung der Parteien zulässt. Zudem verschärfte es die Anforderungen an das Prinzip der Chancengleichheit zwischen den Parteien und begrenzte
die steuerliche Begünstigung von Spenden und Beiträgen an Parteien (BVerfGE 85,
264, Leitsätze).
Obwohl im Organstreitverfahren ergangen, stellt dieses Urteil wichtige materielle
Schranken auf, die der Gesetzgeber im Parteienrecht zu beachten hat. Das Gericht
greift damit zwar in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers ein, tut dies aber mit
guten Gründen und letztlich demokratiefunktional: Das Urteil stärkt den demokratischen Wettbewerb in der zentralen Frage der Chancengleichheit der Parteien und
sorgt zudem dafür, dass über die dekretierte Staatsferne der Parteien ein pluraler
politischer Wettbewerb möglich bleibt. So betrachtet war das Gericht nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch demokratietheoretisch befugt, die strittigen Fragen
zu entscheiden. Die Frage der Chancengleichheit zwischen den Parteien zielt direkt
ins „Zentrum der Demokratie“, das demokratische Wahlregime. Die Art und Weise,
in der das Gericht durch seine Entscheidung dieses Kernregime unter Fairness- und
Chancengleichheitsgesichtspunkten stärkte, war für die bundesdeutsche Demokratie
insgesamt von Vorteil und erhöhte damit ebenfalls ihre Qualität.
Das Wahlregime als Kernregime der Demokratie steht zudem bei all jenen Verfahren des Bundesverfassungsgerichts im Mittelpunkt, die sich mit der Wahlprüfung
befassen. Zwar spielen Wahlprüfungen in der Praxis des Gerichts keine so große
Rolle wie ihre statistische Häufung vermuten lassen könnte (die meisten der Verfahren werden durch Kammerentscheid abgewiesen), in Einzelfällen haben diese Verfahren aber durchaus interessante Urteile zu Tage gefördert. So hat das Gericht beispielsweise anlässlich eines solchen Wahlprüfungsantrags im Jahr 1998 festgestellt,
dass Nachfolger für ausgeschiedene Abgeordnete, sofern das Wahlgesetz keine
Nachwahl vorsieht, schon am Wahltag mitgewählt worden sein müssen. Ist dies
nicht vorgesehen, so das Gericht in seiner Entscheidung, darf kein Nachrücker für
345
einen ausgeschiedenen Kandidaten benannt werden, so lange die entsprechende
Partei in dem betreffenden Land über Überhangmandate verfügt (BVerfGE 97, 317).
Andere Verfahren betrafen etwa die Grundmandatsklausel (BVerfGE 95, 408), Fragen der korrekten Kandidatenaufstellung (BVerfGE 89, 243) oder die Zulassung von
Parteien und Listenvereinigungen zur Wahl (BVerfGE 89, 291). All diese Fragen
betrafen das Wahlregime der Demokratie, über das zu wachen das Bundesverfassungsgericht aus demokratietheoretischer Sicht besonders befugt ist. Die Durchsicht
der in der amtlichen Entscheidungssammlung veröffentlichten Wahlprüfungsverfahren legt insgesamt den Schluss nahe, dass das Bundesverfassungsgericht auch in
diesen Verfahren überwiegend demokratiefunktional entschieden und die bundesdeutsche Demokratie damit gestärkt hat.
Um einen besonders schwierigen Fall rechtsstaatlicher wie demokratietheoretischer Art handelt es sich hingegen bei Parteiverbotsverfahren. Unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten stellt das Verbot einer Partei einen tiefen Eingriff in den
politischen Wettbewerb und damit eine Beeinträchtigung des demokratischen Verfahrens dar: Idealerweise sollen Herrschaftspositionen in Demokratien über freie, gleiche
und geheime Wahlen und den politischen Wettbewerb unterschiedlich organisierter
Interessen vergeben werden. Sinnvoll kann dies nur geschehen, wenn der politische
Wettbewerb plural organisiert ist, wenn also unterschiedliche Interessen und Vorstellungen in diesen Wettbewerb eingespeist werden können. Der Ausschluss bestimmter
Interessen, aus welchen Gründen auch immer, verstößt daher prinzipiell gegen demokratische Grundprinzipien. Ebenso verlangt der demokratische Prozess, alle Interessen gleich zu gewichten und gleich zu werten. Gibt der Staat das Neutralitätsprinzip
dadurch auf, dass er bestimmte (organisierte) Meinungen verbietet, verstößt er gegen
das demokratische Gebot staatlicher Neutralität gegenüber bestimmten Meinungen
und Interessen. Letztlich verbirgt sich hinter einem Parteienverbotsverfahren das
demokratische Paradox, dass um der Freiheit willen die Freiheit (bestimmter Personen) eingeschränkt werden soll (vgl. hierzu auch Menzel 2000: 59; „Parteiverbot als
‚verfassungswidriges‘ Verfassungsrecht?“).
Nun hat das bundesdeutsche Grundgesetz in Artikel 21 Absatz 2 aber, gespeist
aus den Erfahrungen der Weimarer Republik, die Möglichkeit geschaffen, Parteien
wegen ihrer Verfassungsfeindlichkeit zu verbieten. Dort heißt es: „Parteien, die nach
ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den
Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.
Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.“ Das Bundesverfassungsgericht kommt damit nicht umhin, bei entsprechendem Antrag durch Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung über die Verfassungsmäßigkeit von Parteien zu entscheiden.
Die Statistik des Bundesverfassungsgerichts weist bis heute acht Anträge auf Parteienverbot aus. Das erste Verfahren wurde bereits im Jahre 1952 entschieden, als
das Gericht die Sozialistische Reichspartei verbot (BVerfGE 2, 1). Vier Jahre später
erklärte das Gericht auch die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) für ver-
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fassungswidrig (BVerfGE 5, 85). Diese beiden Fälle sind bis heute die einzigen
geblieben, in denen das Bundesverfassungsgericht ein Verbot ausgesprochen hat. Im
Jahr 1994 scheiterten zwei Verbotsanträge – der eine beantragt durch den Hamburger Senat gegen die so genannte „Nationale Liste“, der andere beantragt durch Bundesregierung und Bundesrat gegen die „Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei“
(FAP) – aus formalen Gründen. Das Bundesverfassungsgericht verwarf beide Anträge als unzulässig, weil weder die Nationale Liste noch die FAP als „Parteien“ im
Sinne des Artikels 21 GG anzusehen seien (BVerfGE 91, 262 und 91, 276). Beide
Vereinigungen wurden anschließend über den Weg des Vereinsrechts verboten. Die
übrigen vier Verfahren standen alle in Zusammenhang mit dem im Jahr 2001 durch
Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung eingeleiteten Verfahren zum Verbot der
„Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ (NPD). Das Bundesverfassungsgericht entschied im Jahr 2003, dass das Verbotsverfahren einzustellen sei, weil ein
„nichtbehebbares Verfahrenshindernis“ einen Fortgang des Verfahrens unmöglich
mache. Drei der zuständigen Richter waren der Auffassung, dass vor allem die gebotene Staatsferne im Parteiverbotsverfahren durch den fortgesetzten Einsatz von V-
Leuten innerhalb der NPD nicht gegeben sei und das Verbotsverfahren dadurch
nicht rechtsstaatlichen Anforderungen genüge. Mit dem Votum dieser drei Richter
war keine – für Parteiverbotsverfahren notwendige – Zweidrittelmehrheit im Gericht
für ein Verbot zu erreichen und das Verbotsverfahren damit im Ergebnis gescheitert
(BVerfGE 107, 339).
Schließt man sich den oben getroffenen Aussagen über die demokratietheoretische Problematik von Parteienverboten an, sind also vor allem die Verbote der Sozialistischen Reichspartei und der KPD auf ihre Demokratiefunktionalität hin zu untersuchen. Beide Verfahren sind nach dem hier vorgestellten Demokratiemodell als
dysfunktional zu bewerten, weil sie den Grundprinzipien einer freiheitlich-liberalen
demokratischen Ordnung im Ergebnis widersprechen. In beiden Fällen wurde das
oben beschriebene demokratische Paradoxon einseitig zuungunsten der Freiheit
aufgelöst. Insbesondere das KPD-Urteil verdient weitere Beachtung, weil es auch
hinsichtlich seiner Entstehung interessante Einsichten in das Wechselverhältnis
zwischen Politik und Gericht bietet: Die Regierung Adenauer hatte im Jahr 1951
sowohl das Verbot der SRP als auch das der KPD beantragt. Während das Bundesverfassungsgericht schon 1952 das Verbot der SRP aussprach, tat es sich mit einem
Verbot der Kommunistischen Partei deutlich schwerer; das Gericht brauchte ganze
fünf Jahre für eine Entscheidung, was auf interne Zweifel an der rechtsstaatlichen
wie demokratischen Güte des Verfahrens hindeutet. Nachdem 1954 der damalige
Gerichtspräsident Wintrich Bundeskanzler Adenauer sogar zu einer Rücknahme des
Verbotsantrags bewegen wollte und auch ein Jahr nach der mündlichen Verhandlung
in diesem Verfahren noch kein Urteil ergangen war, änderte die Regierung Adenauer das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (unter anderem) mit dem Ziel, Parteienverbotsverfahren vom Ersten auf den Zweiten Senat des Gerichts zu verlagern. Dies
sollte auch für jene Verfahren gelten, die nicht bis zum 31. August 1956 abgeschlossen waren. Der Erste Senat beugte sich dem politischen Druck und verbot die KPD
347
am 17. August 1956 (vgl. zum zeitlichen Ablauf Wesel 2004: 89 ff.; Menzel 2000:
58 f.).
Dass sich die verantwortlichen Richter mit dieser Entscheidung tatsächlich unwohl fühlten, zeigen die einleitenden Worte des Gerichtsvorsitzenden Wintrich zu
Beginn der Urteilsverkündung: „Das Gericht“, so Wintrich, „hat seine Entscheidung
nach rein rechtlichen Gesichtspunkten zu treffen; daher sind ihm politische Zweckmäßigkeitserwägungen versagt“ (zitiert in Wesel 2004: 92). Nun ist nichts dagegen
einzuwenden, dass das Gericht keine politischen, sondern rechtliche Gründe für
seine Entscheidung wählt. Der Umstand der Urteilsfindung macht aber deutlich,
dass sich das Gericht nicht zuletzt dem politischen Druck Adenauers beugte. Sowohl
diese Umstände als auch das Urteil selbst zeigen die grundsätzliche demokratietheoretische Problematik des Parteiverbotsverfahrens.
Jenseits der ersten beiden Parteiverbotsverfahren muss den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts insgesamt aber eine hohe Demokratiefunktionalität attestiert
werden. In der überwiegenden Anzahl der Fälle hat das Gericht auf demokratiefunktionale Art und Weise geurteilt, nur in vergleichsweise wenigen Fällen hat sich ein
demokratiedysfunktionales Agieren belegen lassen. Zudem ist das Gericht meist
glaubhaft als neutraler Akteur aufgetreten, der tatsächlich das Recht und nicht partikulare politische Erwägungen zur Grundlage seiner Entscheidungen gemacht hat.
Das Bundesverfassungsgericht hat auf Basis der Verfassung und weitgehend unabhängig von politischer Einflussnahme Urteile gesprochen, die – in der Summe aller
Verfahren der letzten 55 Jahre – die Kernprinzipien der Demokratie geschützt, dabei
die Autonomie des Gesetzgebers meist gewahrt und damit letztlich die Qualität der
bundesdeutschen Demokratie gestärkt und erhöht haben – ganz so, wie man es sich
von einem „demokratischen Akteur“ erwartet.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Verfassungsgerichte sind machtvolle Akteure und zentrale Mitspieler in fast allen liberalen Demokratien. Gleichwohl wird ihre Demokratiekompatibilität mitunter in Frage gestellt, wenn sie – demokratisch vergleichsweise schwach legitimiert – in demokratische Prozesse intervenieren.
Der vorliegende Band analysiert die spezifischen Funktionen, die Verfassungsgerichte für demokratische Regierungssysteme erbringen und argumentiert, dass Verfassungsgerichte nicht nur keine Gegenspieler demokratischer Politik sind, sondern dass sie für demokratisches Regieren schlichtweg konstitutiv sind. Anhand einer umfassenden Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der letzten 55 Jahre wird empirisch belegt, dass das höchste deutsche Gericht in der Vergangenheit überaus demokratiefunktional agiert und damit wesentlich zur hohen Qualität der bundesdeutschen Demokratie beigetragen hat.
Sascha Kneip ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Demokratieforschung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).