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wäre. Die modernen Rechtsstaatskonzeptionen verweisen vielmehr auf die Einsicht,
dass mit Demokratie weit mehr gemeint sein muss als „lediglich“ Partizipation in
politischen Angelegenheiten, nämlich zugleich auch die rechtsstaatliche Einhegung
und Gewährleistung des Gesamtrahmens des Herrschaftsverbandes, in dem Partizipation ausgeübt wird. „Demokratie“ besteht dann aber aus zwei gleichrangigen
Komponenten: der rechtsstaatlichen und der partizipativen – und meint dann letztlich nichts anderes als „Rechtsstaat plus Partizipation“. Dabei wird nicht übersehen,
dass beide Konzepte von ihrem historischen Ursprung her und in ihrer logischen
Struktur unterschiedlich konzipiert sind und Verschiedenes mein(t)en. Während das
partizipative Element die Frage nach dem Herrschaftsursprung stellt („Wer regiert“?), beantwortet das rechtsstaatliche jene nach der Herrschaftsweise („Wie wird
regiert“?) (Lauth 2004: 150 f.). Ein modernes Demokratieverständnis verbindet beide Konzepte komplementär und untrennbar miteinander.
Auch das dieser Arbeit zugrunde liegende Demokratiemodell der Embedded Democracy folgt ausdrücklich der Annahme, dass Demokratie und Rechtsstaat nicht nur
kein Gegensatz sind, sondern nur als einheitliches Konzept gedacht werden können.
2.1.2 Das Modell der Embedded Democracy
An Demokratiedefinitionen und -konzepten herrscht in der Politikwissenschaft kein
Mangel (vgl. zur Übersicht Schmidt 2000). Die Bandbreite reicht von recht sparsamen prozeduralistischen Modellen (z. B. Schumpeter 1950; Downs 1968; Dahl 1971),
die Demokratie ausschließlich als freie Wahl zwischen verschiedenen Alternativen
konzeptionalisieren, bis hin zu sehr anspruchsvollen Modellen, in denen ein demokratischer Status erst dann erreicht ist, wenn als Ergebnis des politischen Prozesses weitgehende (Ergebnis-)Gleichheit zwischen den Bürgern hergestellt oder doch zumindest umfassende Partizipation auf unterschiedlichsten gesellschaftlichen Ebenen
gewährleistet ist (vgl. Pateman 1970; Barber 1984; Fishkin 1991; Habermas 1992;
Crouch 2004). Das hier zugrunde gelegte Demokratiemodell platziert sich zwischen
diesen extremen Polen, wenngleich deutlich näher am prozeduralistischen. Bevor das
Modell der „eingebetteten Demokratie“ weiter präzisiert wird, sollen zwei Dinge
geschehen: Zunächst soll ein zentraler Begriff der demokratietheoretischen Debatte
diskutiert und konkretisiert werden, der Begriff der Volkssouveränität. Anschließend
wird kurz begründet, weshalb Demokratie als dreidimensionales Konzept verstanden
wird, das „Gleichheit“, „Freiheit“ und „Kontrolle“ miteinander verbindet. Danach
werden diese drei Dimensionen im Modell der Embedded Democracy verortet.
Das Konzept der „Volkssouveränität“
Ein demokratisches System zeichnet sich ganz allgemein als eine Herrschaftsform
aus, die durch das Prinzip der „Volkssouveränität“ gekennzeichnet ist, das sich in
56
allgemeinen, freien, gleichen und fairen Wahlen ausdrückt (Merkel et al. 2003: 39).
Nun ist der Begriff der Volkssouveränität aber nicht so eindeutig, wie es auf den
ersten Blick scheinen mag. Versteht man unter dem Begriff zunächst nur „Selbstgesetzgebung des Volkes“, lässt er sich schnell in Einklang bringen mit der Unterscheidung Hans Kelsens, der „autonome Gesetzgebung“ zum entscheidenden
Merkmal demokratischer Systeme erhoben hat (im Gegensatz zu heteronomer
Normgebung, die für autokratische Systeme charakteristisch ist; vgl. Kelsen 2006:
61). Doch so einfach ist es nicht: Selbstgesetzgebung als individuelle Kategorie ist
unter den Bedingungen moderner Gesellschaften und der Machtausübung im Modus
der Mehrheitsregel faktisch nicht anzutreffen und gerade in heterogenen und pluralistischen Gesellschaften auch in kollektiver Hinsicht für solche Bürger in weiter
Ferne, die sich strukturell fortwährend in einer Minderheitsposition wähnen müssen.
So verwundert es nicht, dass der Souveränitätsbegriff in der modernen demokratietheoretischen Debatte etwas in den Hintergrund getreten ist. Zwar ist „Volkssouveränität“ nicht zu einem „Unwort“ (Abromeit 1999: 17) geworden, gerade in der
politikphilosophischen Debatte zwischen Anhängern der „Volkssouveränität“ und
denen des „Konstitutionalismus“ aber doch hin und wieder als „obsolet“ bezeichnet
worden, wie etwa Ingeborg Maus bedauernd anzumerken nicht müde wird (siehe
z. B. Maus 1992: 20). Auf Seiten der Konstitutionalisten wird spätestens mit dem
Zeitpunkt der Verfassungsgebung Abschied vom Konzept der Volkssouveränität
genommen (so z. B. Kriele 1994: 111 ff.), während die Apologeten der Volkssouveränität diese nicht selten dahingehend überhöhen, dass sie sie im Sinne Kants als
ungeteilt und rechtlich völlig ungebunden ansehen (Maus 1992: 156) – und sie in
einer wie auch immer gearteten Einschränkung gänzlich verschwinden sehen.
In der zuweilen erhitzten Debatte zwischen den Anhängern der „Volkssouveränität“ und denen des „Konstitutionalismus“ ist mit der Gegenüberstellung von individuellen, konstitutionellen Rechten auf der einen und der Souveränität des Volkes auf
der anderen Seite jedoch allzu schnell aus dem Blick geraten, dass zunächst einmal
danach gefragt werden muss, wer denn genau „souverän“ sein soll, welche Voraussetzungen damit verbunden sein müssen und wodurch ein Volk überhaupt erst souverän wird.
Die in dieser Untersuchung präferierte Antwort auf diese Fragen ist eine dreifache: Erstens ist wichtig daran zu erinnern, dass der Souveränitätsbegriff das Volk
immer als ideelles Ganzes umfassen muss und nicht nur eine wie auch immer konstituierte Mehrheit meinen kann. Nicht selten wird die Souveränität des „Volkes“
mit der Souveränität einer sich in Abstimmungen herausbildenden Mehrheit gleichgesetzt und eine Verletzung der „Volkssouveränität“ dann diagnostiziert, wenn
Mehrheiten nicht über alle Fragen frei verfügen können, sondern dem Mehrheitsentscheid verfassungsrechtliche Grenzen gezogen werden. Die „Souveränität der Minderheit“ gehört aber ebenso zur Volkssouveränität wie die der Mehrheit. Zweitens
ist darauf hinzuweisen, dass das Volk als Ganzes seine Souveränität nur in rechtlichen Prozeduren zum Ausdruck bringen kann. Souveränität drückt sich in modernen
Demokratien nicht dadurch aus, dass dezisionistisch ein wie auch immer gearteter
57
„Volkswille“ herrschen und die Geschicke des Staates lenken könnte, sondern dieser
manifestiert sich zunächst einzig in den (geschriebenen oder ungeschriebenen) Verfassungs- und Rechtsnormen einer Gesellschaft. Damit lässt sich auch – drittens –
die Frage beantworten, wodurch das Volk „souverän“ wird: durch eine Form der
Herrschaftsausübung, die einzig und allein auf Grundlage und im Rahmen der vom
Volk legitimierten Verfassungsgrundsätze vollzogen wird und sich von diesen legitimatorisch ableitet.
Damit das Volk auch nach der Verfassungsgebung „souverän“ bleibt, müssen
zwei Dinge gegeben sein: Erstens muss eine Instanz existieren, die die Einhaltung
des in die Verfassungsnormen gegossenen Volkswillens überwacht. Diese Aufgabe
kann in der Demokratie beispielsweise einem Verfassungsgericht zukommen. Zweitens muss gewährleistet sein, dass die Verfassungsgrundsätze grundsätzlich disponibel und durch den erklärten Willen des Volkes geändert werden können. Teile der
deutschen Staatsrechtslehre machen es sich zweifellos zu einfach, wenn sie postulieren, dass mit der Verfassungsgebung das Volk aufgehört habe, souverän zu sein und
unwiederbringlich vom „pouvoir constituante zum pouvoir constitué mutiert“ sei (so
etwa Kriele 1994: 111 ff.). Es ist aber nicht die Verfassung selbst, die „souverän“
wird, sondern die Verfassung bleibt symbolischer Ausdruck der Souveränität der
Bürger.
Die Unterscheidung Bruce Ackermans zwischen „normal politics“ und „higher
lawmaking“ im Rahmen seines Konzeptes einer „dualist democracy“ kann das hier
vertretene Souveränitätsverständnis nochmals verdeutlichen (Ackerman 1991): Ackerman unterscheidet zwischen Entscheidungen des Volkes auf der einen und Entscheidungen einer gewählten Regierung auf der anderen Seite, wobei er in Phasen
konstitutioneller Umbrüche eine Veränderung der Verfassungsgrundlagen durch das
Volk erkennt, unter denen dann in Zeiten „normaler Politik“ regiert wird. Diese
Veränderung muss sich nicht in formalen Verfassungsänderungen oder ergänzungen zeigen, sondern kann ebenso ihren Ausdruck in einer von einer breiten
Bürgerbewegung getragenen Neu- oder Uminterpretation der Verfassung finden.26
Volkssouveränität im ursprünglichen Wortsinn kommt so vor allem in außergewöhnlichen Verfassungsmomenten zum Ausdruck, während in Zeiten „normaler
Politik“ im Rahmen der geltenden Verfassungsgrundsätze zu agieren ist. Normale
26 Für Ackerman stellt etwa die New-Deal-Gesetzgebung in den USA und die breite Unterstützung in der amerikanischen Bevölkerung für den New Deal eine solche konstitutionelle Situation dar, die letztlich auch zur Revision der Rechtsprechung des US-Supreme Courts geführt
und somit einer anderen Lesart der Verfassung zum Durchbruch verholfen hat. Allerdings
knüpft Ackerman anspruchsvolle Voraussetzungen an das Vorliegen einer Situation „höherer
Politik“: Erstens muss eine außergewöhnlich hohe Zahl von Bürgern ein überdurchschnittliches Interesse an einem Politikvorhaben zum Ausdruck bringen; zweitens muss den Gegnern
dieses Vorhabens die Möglichkeit eingeräumt gewesen sein, ihrerseits Bürger von ihrem
Standpunkt zu überzeugen; und drittens muss das Vorhaben wieder und wieder deliberativ diskutiert worden sein und eine große Mehrheit der Bürger nachhaltig überzeugen. Wie Ackerman selbst betont, sind solche Zeiten „höherer“ konstitutioneller Politik eher selten anzutreffen
(Ackerman 1991: 6).
58
oder alltägliche Politik beinhaltet den Aushandlungsprozess zwischen unterschiedlichen Interessen, während die „höhere“ Verfassungspolitik grundlegende Entscheidungen meint, die die politische Identität einer Bürgerschaft prägen bzw. definieren.
Letzte kommen in besonderen „Verfassungsmomenten“ (constitutional moments)
zum Ausdruck, und wegen ihres grundlegenden Charakters kommt ihnen Vorrang
gegenüber der normalen Politik zu.
Verfassungsgerichte sollen nach dieser Auffassung in Zeiten normaler Politik die
grundlegenden Prinzipien schützen, über die in „Verfassungsmomenten“ Einigkeit
erzielt worden ist. Den Gerichten kommt in Zeiten normaler Politik damit die Aufgabe zu, die Souveränität des Volkes – manifestiert in der Verfassung – zur Geltung
zu bringen und zu erhalten: „We the People“ statt „We the Politicians“, wie es Ackerman formuliert (Ackerman 1991: 10). Diese Vorstellung ist nicht weit entfernt
von den Überlegungen der Aufklärung, die in den Schriften Lockes, Rousseaus oder
Sieyès’ das Volk zugleich als Hüter der bestehenden Verfassung und als permanent
wirkende verfassungsgebende Gewalt konzipierte (Maus 1991: 138) – nur dass die
Verfassungshüterfunktion in modernen Demokratien an ein Verfassungsgericht
delegiert worden ist. Zudem unterscheidet sich Ackermanns Position von den anderen genannten dadurch, dass sie keine umfassende und permanente Handlungskompetenz des „souveränen Volkes“ postuliert, sondern diese in die Phase der „higher
politics“ verlagert. Verfassungswandel und Verfassungsänderung kommen in einem
System dualistischer Demokratie eine entscheidende Bedeutung zu, zeigen sich in
einer breiten Verfassungsbewegung doch gerade die Forderungen des Volkes nach
anderen als den geltenden Verfassungsgrundlagen.27 In Zeiten der „normal politics“
ist es aber die Aufgabe eines Verfassungsgerichts, an Stelle des Volkes die „Souveränität der Verfassung“ als Ausdruck der „Souveränität des Volkes“ zu sichern.
Nimmt man die beiden Enden der Souveränitätsdiskussion – die partizipative und
die konstitutionelle – wieder auf, lässt sich unter dem schillernden Begriff der
„Volkssouveränität“ folgendes verstehen: Ein Volk ist dann souverän, wenn es
letztgültige Entscheidungen über die Legitimität politischer Handlung treffen oder,
in den Worten Abromeits, „letztgültige Zustimmung bzw. Zustimmungsverweigerung“ gewähren kann (Abromeit 1999: 20). Die Legitimität politischer Handlungen
in Zeiten „normaler Politik“ misst sich vor allem an den Verfassungs- und Rechtsnormen einer politischen Gemeinschaft, während sie sich in Zeiten der Ackerman’schen „constitutional moments“ in einem diskursiv zum Ausdruck kommenden
Willen einer Bevölkerung manifestiert. Volkssouveränität ist somit tatsächlich ein
Kernprinzip demokratischer Systeme, da durch sie die grundlegenden Herrschaftsstrukturen und die Auswahl der Herrschenden rückgekoppelt bleiben an die Präferenzen der Bürger. In Zeiten normaler Politik findet sie ihren Ort aber vor allem in
den Verfassungsnormen selbst.
27 In diesem Licht sind Vorkehrungen, wie sie etwa das deutsche Grundgesetz mit seiner Ewigkeitsklausel kennt, hoch problematisch: Wenn die Verfassungsgrundlagen auch für das Volk
selbst in keiner Weise mehr disponibel sind, darf tatsächlich zu Recht gefragt werden, wohin
die Volkssouveränität, die doch angeblich Grundlage aller Demokratie ist, entschwunden ist.
59
Drei Dimensionen der Demokratie
Unter „Demokratie“ soll in dieser Untersuchung ein Institutionensystem verstanden
werden, das politische Gleichheit, politische Freiheit und Kontrolle der Herrschaftsausübung gewährleistet (vgl. Merkel et al. 2003; Lauth 2004). Wie die drei Dimensionen miteinander zusammenhängen und wie sie aufeinander bezogen werden müssen, soll kurz erläutert werden. Während politische Gleichheit und politische Freiheit zentrale Topoi fast aller modernen Demokratiedefinitionen sind, trifft dies für
die Kontrolldimension nicht zu. Weshalb „Kontrolle“ ein notwendiges und definierendes Merkmal von Demokratien ist, bedarf daher einer gesonderten Begründung.
Gleichheit
Das Postulat der Selbstgesetzgebung oder Selbstregierung impliziert zunächst, dass
diese idealiter jeden einzelnen Bürger einer Demokratie mit einschließt. Selbstgesetzgebung beinhaltet damit bereits ein abstraktes Gleichheitsprinzip, das – unabhängig von seiner oftmals fehlenden faktischen Verwirklichung in der Geschichte –
implizit den Kern demokratischen Regierens ausmacht: Nur wenn demokratische
Bürger „als Gleiche“ (Dworkin) gelten können (bzw. sich gegenseitig als Gleiche
anerkennen), lässt sich dem demokratischen Prinzip der Volkssouveränität eine
normative Rechtfertigung abringen – denn nur dann hat tatsächlich jeder Bürger
Anteil an der Selbstgesetzgebung und nicht nur ein bestimmter Teil der Bürgerschaft. Im allgemeinen und gleichen demokratischen Wahlrecht findet diese Vorstellung der Gleichheit der Bürger ihren sichtbarsten Ausdruck. Und auch prozeduralistische Verfahrensregeln wie das Mehrheitsprinzip erscheinen nur deswegen als
normativ akzeptabel und legitimierbar, weil in ihm die Präferenzen jedes Bürgers
prinzipiell gleich gewichtet werden.
In formaler Hinsicht können zwei Dimensionen der Gleichheit unterschieden
werden: Gleichheit in der Partizipation in öffentlichen Angelegenheiten und prinzipielle Gleichheit in der Art und Weise, in der ein Bürger von staatlichen Instanzen
behandelt wird (vgl. Lauth 2004: 34 ff.). Der erste Fall meint zu allererst Gleichheit
hinsichtlich der politischen Rechte, durch die vor allem die „Gleichheit des Gewichts“ eines Bürgers im politischen Prozess sichergestellt wird (Dworkin 1990b).
Abstimmungsprozeduren sind dann frei, fair und vor allem gleich, wenn die Stimmen jedes Bürgers das gleiche Gewicht in diesem Prozess besitzen.28 In den Worten
des Bundesverfassungsgerichts:
28 Damit ist freilich nicht behauptet, dass Bürger aufgrund unterschiedlicher Ressourcenausstattung (z. B. Geld, Wissen oder Charisma) nicht einen unterschiedlichen Einfluss auf die Wahlprozedur haben können (Dworkin 1990b). Entscheidend ist jedoch, dass hinsichtlich des
Stimmgewichts Gleichheit hergestellt ist. Eine Beschränkung des Einflusses müsste auf nicht
rechtfertigbare Einschränkungen personaler Autonomie hinaus laufen – besonderes freiwilliges
Engagement beispielsweise müsste ebenso beschränkt werden wie Redetalent oder Überzeu-
60
„Für den Sachbereich der Wahlen ist nach der historischen Entwicklung zum Demokratisch-
Egalitären hin […] davon auszugehen, daß jedermann sein aktives und passives Wahlrecht in
formal möglichst gleicher Weise soll ausüben können. Der Grundsatz der gleichen Wahl verlangt, daß jeder nach den allgemeinen Vorschriften Wahlberechtigte seine Stimme wie jeder
andere Wahlberechtigte abgeben darf, und daß diese gültig abgegebene Stimme ebenso mitbewertet wird wie die anderen Stimmen; alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben,
den gleichen Einfluß auf das Wahlergebnis haben” (BVerfGE 34, 81: 98 f.).
Das Recht, von staatlichen Instanzen „als Gleicher“ behandelt zu werden, korrespondiert wiederum eng mit dem rechtsstaatlichen Erfordernis einer absoluten
Gleichheit vor dem Gesetz. Rechtsgleichheit hatte sich bereits in der Diskussion des
Rechtsstaats als eine der zentralen Institutionen erwiesen und sich, mit Klaus Stern
gesprochen, in „engstem Konnex mit dem demokratischen Prinzip“ befunden (vgl.
Kap. 2.1.1). Nicht zuletzt in der formalen (Rechts-)Gleichheit zeigt sich noch einmal
die enge Verbindung der Prinzipien Demokratie und Rechtsstaat, da durch sie die
Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz beschrieben wird.
Was mit einem grundlegenden Gleichheitsbegriff zunächst nicht impliziert ist,
sind Fragen sozialer Gerechtigkeit oder Ergebnisgleichheit. Ein demokratisches
Herrschaftsregime definiert sich nicht darüber, ob es im output des politischen Prozesses so etwas wie soziale Gerechtigkeit herzustellen vermag; dies mag wünschenswert und für die Stabilität einer Demokratie hilfreich sein, als definitorisches
Merkmal ist es jedoch unbrauchbar. Zum einen würde mit der Aufnahme dieses
Kriteriums die Abgrenzung zu nicht-demokratischen Systemen unscharf, da logisch
nicht auszuschließen ist, dass auch nicht-demokratische Systeme Ergebnisgleichheit
oder andere Spielarten sozialer Gerechtigkeit verwirklichen. Zum anderen wird
„Demokratie“ hier als ein spezifisches System der Herrschaftsausübung definiert,
das unbestimmt lässt, zu welchen (materiellen) Ergebnissen diese Herrschaftsaus-
übung führt. A priori eine bestimmte Gemeinwohlvorstellung als Ziel demokratischen Regierens zu postulieren, widerspräche sowohl der prinzipiellen Ergebnisoffenheit demokratischer Prozesse als auch der Erkenntnis, dass in modernen, heterogenen demokratischen Gesellschaften eine solche Festlegung misslingen müsste:
Wenn davon auszugehen ist, dass Präferenzen und Vorstellungen über soziale Ziele
in heutigen Gesellschaften nicht von allen Bürgern in gleicher Weise geteilt werden
(und also auch nicht von vorne herein feststehen oder festzustellen wären), muss ein
solches Unterfangen scheitern. Was unter „sozialer Gerechtigkeit“ verstanden werden soll, kann somit – wenn überhaupt – nur das Ergebnis eines freien demokratischen Diskurses sein. Sichergestellt werden muss damit vor allem, dass alle Präferenzen die gleiche Chance der Repräsentation in diesem Diskurs erhalten – und dies
wiederum ist Aufgabe eines fairen Wahlprozesses.29
gungskraft, was sich als schwer durchführbar erweisen würde. Allerdings kann beispielsweise
durch Finanzbeschränkungen (Wahlkampffinanzierungs- und Parteispendenregeln u. ä.) verhindert werden, dass Vorteile in einer „Sphäre der Gesellschaft“ auch auf die politische Sphäre
durchschlagen (vgl. Walzer 1998).
29 Mit dieser Feststellung wird nicht das Problem verkannt, dass auch über einen fairen Wahlprozess keine vollständige Responsivität zwischen den Präferenzen der Regierten und den Hand-
61
Eine andere Frage ist allerdings, ob demokratisches Regieren und das dauerhafte
Funktionieren der Demokratie nicht soziale Voraussetzungen impliziert – etwa eine
materielle Mindestausstattung oder ein bestimmtes Bildungsniveau der Bürger, das
es ihnen auch faktisch erlaubt, an der Herrschaftsausübung zu partizipieren. Die
Diskussion sozialer Voraussetzungen der Demokratie hat großen Widerhall in der
demokratietheoretischen Debatte des 20. Jahrhunderts gefunden (z. B. bei Lipset
1959; Heller 1992; Lipset 1994; Przeworski 1995; Meyer 2005). Wenn Demokratie
in ihrem Kern als ein System definiert wird, das darauf beruht, dass Bürger ihre
Rechte – beispielsweise ihr Wahlrecht – wahrnehmen und ausüben, muss die Frage
erlaubt sein, ob diese Rechte voraussetzungslos sind oder ob nicht soziale Mindeststandards erforderlich sind, die eine Wahrnehmung der formalen Rechte auch faktisch ermöglichen. Rechte bleiben wirkungslos, wenn sie nicht sinnvoll „aktualisiert“ werden können. Bevor Bürgerinnen und Bürger ihre Präferenzen ausdrücken
können, müssen sie wissen, was ihre Präferenzen sind. Und wenn es stimmt, dass
Präferenzbildung immer über Abwägungsprozesse zu erwartender Kosten und Nutzen erfolgt, setzt dieses doch zumindest ein Mindestmaß kognitiver Fähigkeiten
voraus, die nicht ohne weiteres als vorhanden unterstellt werden können. Große
soziale und ökonomische Ungleichheiten in einer Gesellschaft könnten also vermuten lassen, dass auch die Präferenzbildung bei den Bürgern dieser Gesellschaft nicht
in gleicher Weise verläuft, sondern dass manche Bürger eher Nutzen und Folgen
ihrer (Wahl-)Handlungen kognitiv abzuwägen in der Lage sind als andere. Und auf
noch rudimentärerer Ebene ist offensichtlich, dass ökonomisch marginalisierte Bevölkerungsgruppen eher das tägliche Überleben als die sinnvolle Nutzung ihrer
politischen Rechte im Sinn haben werden.
Der Sozialstaat ist die nahe liegende Antwort auf dieses Problem: Durch seine Institutionen soll eine „Gleichheit des ‚rechtlichen Könnens’“ (Habermas 1997: 302)
sichergestellt werden, da eine „chancengleiche Nutzung gleich verteilter rechtlicher
Kompetenzen“ nur dann gewährleistet ist, wenn ökonomische Machtpositionen,
Vermögenswerte und soziale Lebenslagen nicht zu ungleich verteilt sind (ebd.).
Soziale Grundrechte müssen sinnvollerweise zu den demokratischen hinzu treten,
wenn von einer wirksamen Rechtswahrnehmung gesprochen werden soll. Werden
diese Rechte dann aber nicht doch zum Definitionsmerkmal der Demokratie selbst?
Dass sie keine definitorischen Merkmale der Demokratie sind, wird deutlich,
wenn man die definitorische Modellebene von der faktisch-empirischen Ebene
trennt: Als Modell ist „Demokratie“ über das Vorhandensein formaler Grund- und
Partizipationsrechte ausreichend definiert, da mit ihnen die Kardinalfrage nach der
Art der Herrschaftslegitimation hinreichend beantwortet ist. Empirisch bleibt hingelungen der Regierenden hergestellt werden kann, da faktisch immer Probleme der Ermittlung,
Aggregation und Realisierung vorhandener Präferenzen bestehen (vgl. Lauth 2004: 37 ff.).
Fraglich ist damit, ob sich Responsivität überhaupt als definierendes Merkmal demokratischer
Systeme eignet. Gleichwohl nimmt es etwa bei Robert Dahl eine prominente Stelle ein, der
Demokratie als ein System definiert, das „completely or almost completely responsive to all its
citizens“ ist (Dahl 1971: 2) (vgl. zu dieser Problematik Lauth 2004: 43 f.).
62
gen richtig, dass in konkreten Gesellschaftszusammenhängen die Wahrnehmung
dieser Rechte an soziale Voraussetzungen geknüpft sein kann. Dies rechtfertigt aber
nicht die Aufnahme dieses Kriteriums als definitorisches Merkmal.
Freiheit
Die zweite Dimension des hier vorgestellten Demokratiemodells, politische Freiheit,
wird wie politische Gleichheit in den meisten modernen Demokratietheorien als
zentrale Kategorie angesehen. (Kollektive) Selbstbestimmung setzt individuelle
Freiheitsrechte zwingend voraus. Nur diese gewährleisten eine weitgehend ungefilterte Transformation individueller Präferenzen in kollektive Entscheidungen. Selbstregierung der Bürger ist nur dann sinnvoll zu konzipieren, wenn davon ausgegangen
werden kann, dass diese frei ihre Präferenzen bilden und (z. B. im Wahlakt) ausdrücken können.
Das moderne Freiheitsverständnis unterscheidet sich von einem vor-modernen historisch betrachtet dadurch, dass Freiheitsrechte nicht mehr partikular an eine bestimmte Personenqualität, sozialen Status, gesellschaftlichen Stand oder spezifische
Kooperationszusammenhänge geknüpft werden, sondern universell von Natur aus für
alle Menschen gelten (vgl. Grimm 1994: 67 ff.). Mit der „Virginia Bill of Rights“ von
1776 und der französischen „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ von 1789
sind Freiheitsrechte als dem Menschen angeboren und für unverfügbar erklärt worden; dem Staat kommt nach dieser Vorstellung lediglich die nachgelagerte Aufgabe
zu, diese Rechte zu sichern – nicht aber mehr das Privileg, diese Rechte erst zu gewähren. Somit werden Freiheitsrechte für jeden Staat – und erst recht für den demokratischen – zur unhintergehbaren Grundbedingung legitimen Regierens. Historisch
lassen sich mit Dieter Grimm vier Gruppen von Freiheits- und Bürgerrechten unterscheiden (vgl. ebd.: 70): Zur ersten Gruppe gehören Freiheitsrechte der Person und
der Privatsphäre; sie umfassen vor allem Rechte gegen willkürliche Verhaftungen
und Bestrafung. Eine zweite Gruppe konstituiert die „Kommunikationssphäre“ und
umfasst Gewissens-, Meinungs- und Pressefreiheit sowie Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Drittens beziehen sich die Freiheitsrechte auf Fragen wirtschaftlicher Freiheit (Eigentums-, Vertrags- und Gewerbefreiheit), und eine vierte Gruppe
schließlich verwirklicht unter Aufhebung aller standesrechtlichen Ungleichheiten die
rechtliche Gleichheit aller Bürger („Gleichheit in der Freiheit“, ebd.).
Der Freiheitsbegriff lässt sich in schon klassischer Weise in einen positiven und
einen negativen unterscheiden (Berlin 1995 [1969]). Schon Benjamin Constant hatte
zur Zeit der Französischen Revolution zwischen der „Freiheit der Alten“ und der
„Freiheit der Heutigen“ (für die sich schnell der Begriff „Freiheit der Modernen“
eingebürgert hat) unterschieden, womit er im ersten Fall die aktive Beteiligung der
Bürger an der Selbstregierung des Volkes, die Deliberation öffentlicher Angelegenheiten und die Annahme von Gesetzen meinte und im zweiten Fall bürgerliche Abwehrrechte gegenüber dem Staat (Constant 1972: 365 ff.). Während die „Freiheit der
63
Alten“ also Freiheit zu etwas beschreibt, ist mit der „Freiheit der Modernen“ die
Freiheit von etwas gemeint, in diesem Fall die Freiheit von Pressionen des Staates,
seiner Regierung oder schlicht einer Mehrheit der Mitbürger. Für Constant mussten
beide Freiheiten zusammen gedacht werden, da beide für sich genommen unvollständig bleiben müssen: Die einseitige Betonung der positiven Freiheitsseite leistet
der Gefahr Vorschub, das individuelle „Recht auf Freiheit vom Willen einer Mehrheit“ zu vernachlässigen. Umgekehrt würde eine Überbetonung dieses Abwehrrechts
dazu führen, dass Individuen über den Genuss ihrer individuellen Freiheiten die
Teilhabe an politischer Macht unterbewerteten (vgl. Breyer 2005: 4 f.).
Die Beobachtungen Constants hat Isaiah Berlin in seiner Begrifflichkeit der negativen und der positiven Freiheit aufgenommen und argumentativ verfeinert: Negative Freiheit antwortet auf die Frage, in welchem Bereich ein Subjekt – Individuum
oder Gruppe – tun und lassen kann, wozu es imstande ist, ohne dass sich andere
Menschen einmischen. Bei positiver Freiheit geht es hingegen um die Frage, von
was oder wem die Kontrolle oder Einmischung ausgeht, die jemanden dazu bringen
kann, dieses oder jenes zu tun (Berlin 1995: 201). Negative Freiheit meint den Freiheitsbereich, in dem „sich ein Mensch ungehindert durch andere betätigen kann“
(ebd.), positive Freiheit meint, selbst Herr seiner Handlungen zu sein. Negative
Freiheit meint das „Fehlen von Übergriffen jenseits einer fest umrissenen Grenze“
(ebd.: 207), positive Freiheit den Status des Individuums als selbstbestimmt Handelnder. Dieser Unterschied ist kein marginaler: Negative Freiheit alleine ist auch
mit bestimmten Spielarten autoritären Regierens vereinbar, da sie nur auf einen
Schutzbereich der Freiheit verweist, nicht aber, von wem dieser Schutzbereich garantiert wird (ebd.: 209). Diese Spielart des Freiheitsbegriffs ist also nicht notwendig
mit demokratischem Regieren verbunden. Die positive Freiheit hingegen fragt danach, „wer regiert“, und verknüpft den Freiheitsbegriff damit eng mit einer Demokratievorstellung, die Selbstregierung jedes Bürgers als Idealbild dieser Regierungsform postuliert. Die positive Freiheit beantwortet die Fragen „Von wem werde ich
regiert?“ oder „Wer soll sagen, was ich sein oder tun soll und was nicht?“ (ebd.:
210) dahingehend, dass jedes Individuum die Freiheit besitzt (oder besitzen sollte),
dies selbst zu tun. Nur demokratisch konstituierte Herrschaftssysteme können diesen
Anspruch annähernd einlösen.
So lassen sich beide Prinzipien, positive wie negative Freiheit, historisch wie logisch unterscheiden; gleichwohl soll ihre Differenzierung nicht darüber hinweg
täuschen, dass beide Freiheitsbegriffe im Prinzip des demokratischen Rechtsstaats
wieder zusammen wirken: Idealerweise werden die negativen Freiheitsrechte durch
Ausübung der positiven definiert und implementiert, während das Vorhandensein
der negativen Rechte dafür sorgt, dass die positiven sinnvoll ausgeübt werden können. Im demokratischen Rechtsstaat scheint also das geglückt zu sein, worauf bereits
Benjamin Constant in seiner Abhandlung hoffte: die Verbindung beider Freiheitsprinzipien zu einem einzigen, nur zusammen sinnvoll wirkenden Prinzip.
Wie eng die Freiheitsvorstellung mit dem Demokratiemodell verknüpft ist, zeigt
sich schon bei näherer Betrachtung des den liberalen Demokratiemodellen zugrunde
64
liegenden Menschenbildes: Wenn unter Demokratie etwas unscharf „Herrschaft des
Volkes“ verstanden wird, stellt sich ja zunächst die Frage, wer eigentlich dieses
Volk konstituiert, das da herrschen soll. Die neuzeitlichen Vertragstheorien (Hobbes, Locke, Rousseau, Kant bis hin zu Rawls) haben mit überzeugenden Argumenten die Instanz ausgemacht, die im Mittelpunkt demokratietheoretischer Überlegungen stehen muss: das Individuum. Erst der Zusammenschluss einzelner, weitgehend
autonomer Individuen, so die Überlegung, konstituiert eine Gesellschaft, einen Staat
und letztlich eine Demokratie.30 Mit der These der Autonomie des Individuums ist
die Annahme verbunden, dass jeder Mensch potentiell die Fähigkeit und die Möglichkeit besitzt, über sich selbst zu bestimmen, also sowohl über die notwendige
Vernünftigkeit zur Selbstbestimmung zu verfügen als auch über die Freiheit, das von
ihm als richtig Erkannte umzusetzen (vgl. Druwe 1993: 189).
Will der Einzelne nicht außerhalb einer Gesellschaft leben – und im Allgemeinen
kann oder möchte er dies nicht –, so braucht diese Gesellschaft bindende Regeln,
mittels derer Entscheidungen getroffen werden können. Da der Einzelne aber auch
im Gesellschaftsverband sein grundlegendes Recht auf natürliche Freiheit nicht ohne
weiteres aufzugeben bereit ist (wie schon John Locke zeigte), stellt sich die Frage,
wie die Freiheitssicherung im Gesellschaftsverband gelingen kann. Wenn in einem
Naturzustand idealiter alle Menschen die gleichen Freiheitsrechte genießen, impliziert dies für Demokratien die fundamentalste Frage überhaupt: die Frage nach der
„idea of intrinsic equality“ (Dahl 1989: 85) – und wie diese unter Herrschaftsbedingungen aufrecht erhalten werden kann.
Die nahe liegende Antwort heißt: Diese Sicherungsfunktion liegt im demokratischen Prozess selbst. Nur demokratisches Regieren sichert die persönliche Entwicklung und die individuellen Interessen der Bürger, ihre Autonomie und somit letztlich
ihre Freiheit. Dies vermag der demokratische Prozess auf drei Arten, wie Robert Dahl
überzeugend dargelegt hat (vgl. Dahl 1989: 88 ff.): Erstens schützt er, quasi automatisch, bestimmte Freiheitsrechte, da diese essentiell für den Prozess selbst sind
(„[C]ertain rights, liberties, and opportunities are essential to the democratic process
itself, as long as that process exists then these rights, freedoms, and opportunities
must necessarily also exist“, ebd.: 89). Zweitens ermöglicht er es, dass Menschen
unter Regeln leben, die sie selbst erlassen haben (und schafft damit wiederum die
Freiheit, selbst über die Regeln des Zusammenlebens zu entscheiden). Und drittens
eröffnet die Teilnahme am demokratischen Prozess die Herausbildung moralischer
Autonomie („To live under laws of one’s own choosing, […] facilitates the personal
30 Die durchaus kontrovers geführte Kommunitarismusdebatte der 1990er Jahre, ob „Gesellschaft“ nicht bereits vor dem Individuum existiert und Rechte des Individuums sich erst aus
der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft oder Gemeinschaft ableiten lassen, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Vieles spricht dafür, an der methodischen Annahme festzuhalten, das Individuum als grundsätzlich autonom zu konzipieren. Damit soll aber natürlich nicht bestritten
werden, dass Individuen immer in soziale Zusammenhänge eingebunden sind und ihre Wünsche und Präferenzen nicht unbeeinflusst davon bleiben (vgl. zu dieser Debatte z. B. Honneth
1995; Forst 1996).
65
development of citizens as moral and social beings and enables citizens to protect and
advance their most fundamental rights, interests, and concerns“, ebd.: 91).
Es gibt zudem gute Gründe anzunehmen, dass die persönliche Entwicklung eines
Individuums – seine Kapazität, bestimmte Eigenschaften herauszubilden wie die
Fähigkeit, für sich selbst und andere zu sorgen, seine eigenen Interessen zu kennen
und umzusetzen, eigene Rechte und Pflichten zu erkennen usw. – mit den Umständen in Zusammenhang steht, in die es hinein geboren wird und unter denen es handeln muss. Wenn alle Menschen potentiell diese Fähigkeiten in sich tragen (und
davon ist mit Dahl auszugehen), so ist es vor allem die demokratische Entscheidungsweise, die diesen Anlagen am ehesten Rechnung trägt und innerhalb derer
diese am ehesten zur Entfaltung kommen können.
Schließlich spricht für den demokratischen Prozess, dass vor allem dieser den
Schutz der individuellen Interessen eines jeden (prinzipiell) gewährleistet. Mit John
Stuart Mill argumentiert Dahl (ebd.: 93 ff.), dass Rechte und Interessen eines jeden
am besten durch demokratische Teilhabe gesichert werden können.
Diese Annahmen aber reichen noch nicht aus, um den demokratischen Prozess als
einzig adäquaten für die gemeinsame Willensbildung prinzipiell gleicher und freier
Menschen zu rechtfertigen. Es muss vielmehr die begründete Vermutung hinzutreten, dass Individuen auch befähigt sind, über eigene Belange zu entscheiden, und
dass kein anderer besser dazu befähigt ist als sie selbst. Dies führt direkt zum Konzept personaler Autonomie:31
„The assumption [is, S. K.] that no person is, in general, more likely than yourself to be a better
judge of your own good or interest or to act to bring it about. Consequently, you should have
the right to judge whether a policy is, or is not, in your best interest“ (Dahl 1989: 99).
Teilt man diese Annahmen, erscheinen demokratischer Prozess sowie individuelle,
moralische Autonomie und Freiheit eng aufeinander bezogen. Einerseits bildet die
Annahme, dass Individuen moralisch autonom sind und bestimmte Anlagen besitzen, die herausgebildet werden können, den Ausgangspunkt jeder demokratietheoretischen Überlegung. Mit dem Begriff „Individuum“ sind bereits Merkmale wie
Gleichheit, Vernunft, Freiheit und Selbstbestimmung verbunden. Andererseits kann
angenommen werden, dass diese Anlagen besser unter demokratischen Umständen
ausgebildet werden können als unter nicht-demokratischen. Das naturrechtlich betrachtet grundsätzlich gleiche, jedem Menschen zustehende Recht auf Freiheit wird
bei der Herstellung bindender Entscheidungen in einer Gesellschaft am besten durch
die Teilhabe am demokratischen Prozess geschützt. Dieser Prozess wiederum gewährleistet die moralische Autonomie der Teilnehmer sowie die Herausbildung ihrer
Interessen und Präferenzen besser als jedes andere Entscheidungsverfahren. Freiheit
31 Guillermo O’Donnell (O’Donnell 1999a) hat hierfür das umfassendere Konzept der „Agency“
eingeführt, unter der er die individuelle Fähigkeit zu Autonomie, Verantwortung und Vernunft
versteht. In der Tradition liberaler Demokratietheorien ist das Konzept der Agency somit Kernaxiom eines demokratischen Menschenbildes und Ausgangspunkt aller demokratietheoretischen Überlegung und Argumentation.
66
und Gleichheit der Bürger drücken sich also letztlich im demokratischen Prozess
selbst aus.
Betrachtet man Demokratie somit als eine spezifische Herrschaftsform, die Struktur und Funktionsweise politischer Herrschaft beschreibt, ist das Freiheitsprinzip als
eine zweite zentrale Dimension dieser Herrschaftsform zu konzipieren (Lauth 1997,
2004). Die Geltung dieses Freiheitsprinzips ist aber wiederum nicht voraussetzungslos. Die Ausübung des Freiheitsprinzips über Mehrheitsverfahren im demokratischen politischen Prozess beispielsweise garantiert nicht unbedingt den Schutz dieses Freiheitsprinzips. Die personale Autonomie des Individuums kann durch die
Freiheitsausübung einer Mehrheit der Bürger ebenso verletzt werden wie Minderheitenrechte einer bestimmten Gruppe. Dies aber hieße, dass das grundlegende, für alle
gleiche Freiheitsrecht verletzt und somit die Grundlage der Demokratie selbst beschädigt würde. Es ist daher offensichtlich, dass bereits in der Ausübung des Freiheitsrechts (und auch des Mehrheitsverfahrens) logisch immanente Schranken eingebaut sind, die eine Störung der gleichen Freiheit verhindern sollen.
Gleichwohl stellt sich empirisch die Frage, wie die Sicherung der Freiheit und der
Gleichheit institutionell ausgestaltet sein soll und wie das „System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist“ (Rawls 2003:
78) faktisch gewährleistet werden kann. Zwei grundlegende Modelle sind hier denkbar: Die Sicherung über eine aufgeklärte politische Kultur, die quasi automatisch verhindert, dass über Mehrheitsverfahren individuelle Rechte beschädigt werden, oder die
Sicherung dieser Prinzipien über geschriebene oder ungeschriebene Verfassungs- und
Rechtsgrundsätze, die dann aber einer Auslegung und Interpretation auch durch Gerichte und Verfassungsgerichte bedürfen. Wenn man der Hoffnung auf erstes misstraut
(und die empirische Erfahrung lässt dies angeraten erscheinen32), folgt aus dieser
Überlegung, dass für den Schutz der demokratischen Gleichheit und Freiheit vor allem
die Verfassung selbst – und als ihr autoritativer Interpret die Verfassungsgerichtsbarkeit – in Frage kommt. Damit rückt eine dritte Dimension liberaler Demokratien in das
Zentrum der Aufmerksamkeit: die Kontrolle von (demokratischer) Herrschaft.
32 Großbritannien ist zweifellos das Paradebeispiel einer Gesellschaft, in der eine aufgeklärte
politische Kultur für Selbstbindung von Regierung und Parlamentsmehrheit an liberale Grundprinzipien auch ohne verfassungsgerichtliche Kontrolle gesorgt hat. Allerdings sind historisch
kaum weitere Beispiele solcher Art bekannt. Die über Jahrhunderte entwickelte liberale
Rechtskultur ist zudem auf keine anderen Fälle ohne weiteres übertragbar, vor allem nicht auf
solche Demokratien, die zwischendurch einen Systemwechsel durchlaufen haben. Zudem muss
auch für Großbritannien festgestellt werden, dass in Einzelfällen auch hier grundlegende Bürgerrechte durch die Parlamentsmehrheit ohne größere Bedenken oder Diskussionen eingeschränkt worden sind, man denke nur an die Einschränkung der Assoziationsfreiheit durch die
Regierung Thatcher zur Zeit der Bergarbeiterstreiks, die zeitweise problematische Grundrechtslage in Nordirland oder die massive Einschränkung althergebrachter Grundsätze der Habeas
Corpus durch die Regierung Blair nach den Terroranschlägen des 11.9.2001 in New York und
Washington. Nicht von ungefähr wird daher auch immer wieder die Forderung nach Verabschiedung einer (geschriebenen) Verfassung für Großbritannien erhoben (z. B. Dworkin 1990a).
67
Kontrolle
Das Prinzip der Kontrolle der Herrschaftsausübung ist in der demokratietheoretischen Debatte zweifellos umstrittener als die beiden ersten unterschiedenen Dimensionen. Aus Sicht der bisherigen Argumentation verwundert dies ein wenig, erscheint die Kontrolldimension doch einerseits den ersten beiden logisch inhärent und
andererseits empirisch notwendig, wenn Gleichheits- und Freiheitsrechte auch faktisch gesichert sein sollen. Die Begrenzung staatlicher und gesellschaftlicher Macht
durch zentrale Elemente des Rechtsstaats (Gewaltenverschränkung, Grundrechtsschutz, Gesetzesbindung exekutiver Handlungen, Unabhängigkeit der Justiz) setzt
diese Rechte erst in Kraft und verhindert ihren Missbrauch.
Die Kontrolldimension ist eng verzahnt mit den Institutionen des Rechtsstaates,
ohne jedoch mit diesen identisch zu sein, da sie, wie zu zeigen sein wird, neben der
rechtlichen auch eine politische Form der Kontrolle umfasst. Gerade die repräsentative Demokratie ist darauf angewiesen, dass die Delegation von Herrschaft rechtlich
und politisch kontrolliert wird, soll die Idee der Selbstregierung nicht ad absurdum
geführt werden (Lauth 2004: 77). Im Konzept der rechtsstaatlichen Demokratie
verbinden sich Volkssouveränität und Rechtsstaatlichkeit und bringen so alle drei
Dimensionen – Gleichheit, Freiheit und Kontrolle – zur Geltung.33 Weshalb die
Kontrolldimension eine besondere Beachtung erfahren sollte, erfordert aber nochmals eine genauere Begründung.
Wird heute von „Demokratie“ gesprochen, ist damit im Wesentlichen „repräsentative Demokratie“ gemeint. Mit der Herausbildung demokratischer Nationalstaaten
größeren geografischen Zuschnitts haben sich auch die Partizipationsformen von
direkten zu indirekt-repräsentativen gewandelt. Konnte in den athenischen Stadtstaaten noch jeder Vollbürger selbst und in personam die Kontrolle des Regierungshandelns überwachen und gegebenenfalls sanktionieren, fiele dies dem durchschnittlichen Bürger moderner Nationalstaaten deutlich schwerer. Mit der „zweiten Transformation“ der Demokratie (Dahl 1989: 24 ff.), die mit dem Englischen Bürgerkrieg
im 17. Jahrhundert begann und im 18. Jahrhundert ihren Durchbruch in der demokratischen Theorie und Praxis fand, ist eine Hinwendung zum Repräsentationsprinzip
verbunden gewesen: Sollte das ganze Volk eines Nationalstaates an der demokratischen Regierung in gleicher Weise teilhaben, ließ sich dies nur über die Wahl von
Repräsentanten vollziehen. Dies war aus organisatorischen Gründen ebenso geboten
33 Die in der vergleichenden Politikwissenschaft „populärste“ Demokratiedefinition Robert
Dahls, der Demokratie kurzerhand als „contestation and the right to participate“ (Dahl 1971: 5)
definiert, greift hier zu kurz, da sie die Kontrollkomponente unberücksichtigt lässt. Dahls Demokratieprinzip wird zwar durch sieben institutionelle Garantien gesichert (Assoziations- und
Organisationsfreiheit, Meinungsfreiheit, aktives Wahlrecht, passives Wahlrecht, Recht politischer Eliten, um Wählerstimmen und Unterstützung zu konkurrieren, Informationsfreiheit,
freie und faire Wahlen (Dahl 1989)). Wie diese institutionellen Garantien und Rechte gesichert
werden sollen, bleibt bei Dahl – zumindest explizit – offen. Grundrechte, deren Gewährleistung nicht gesichert ist, sind aber letztlich keine.
68
wie aus der grundsätzlichen Überlegung heraus, dass die öffentlichen Angelegenheiten so umfangreich und komplex geworden waren, dass sie nicht mehr von jedem
einzelnen Bürger behandelt werden konnten, sondern besser bei professionalisierten
Vertretern aufgehoben wären. Mit der Etablierung repräsentativer Herrschaftsordnungen ging auch die allmähliche Herausbildung intermediärer Akteure wie Parteien
und Verbände einher, wie sie für heutige Demokratien typisch geworden ist. Alleine
die Referendumsdemokratie der Schweiz hat sich bis heute starke direktdemokratische Elemente auf nationaler Ebene bewahrt (Jung 2001; Hager 2005).34
Repräsentative Demokratie beinhaltet notwendigerweise eine Delegation der
Herrschaftsausübung von den Bürgern zu den Repräsentanten. Obwohl die Souveränität über diese Ausübung von Herrschaft ideell bei den Bürgern verbleibt, wird sie
faktisch von den gewählten Repräsentanten ausgeübt. Damit stellt sich die Frage,
inwieweit diese Herrschaftsdelegation unkontrolliert erfolgen soll und kann bzw.
welche Sicherungsmechanismen greifen müssen, um einen Herrschaftsmissbrauch
zu verhindern. Die Vorstellungen der elitären Demokratietheorie (z. B. Schumpeter
1950; Weber 1988), die Volkssouveränität im Wesentlichen auf die periodische
Ausübung des Wahlrechts beschränken möchte, greift hier deutlich zu kurz, da
hiermit weder ein angemessener Begriff von Volkssouveränität verbunden ist (siehe
die Diskussion oben) noch der Kontrolle der politischen Eliten genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird.35 Ein Demokratiebegriff, der Freiheit und Gleichheit im
oben diskutierten Sinne als zentrale Dimensionen begreift, muss freiheits- und
gleichheitssichernde Kontrollmechanismen gleichfalls mit berücksichtigen.
Die Kontrolldimension ist insbesondere im Zusammenhang mit der Systemwechselforschung der 1990er Jahre wieder in den Fokus der Betrachtung gerückt und war
dort zunächst eng mit dem Begriff der horizontal accountability verknüpft. Gerade
die Untersuchung junger Demokratien hatte gezeigt, dass formal gewährleistete
Freiheits- und Gleichheitsrechte nicht selten durch extra-legale Maßnahmen der
Exekutive unterhöhlt oder gar gänzlich ausgeschaltet werden können (Schmitter/
Karl 1991; O’Donnell 1999b, 1999a).
„Horizontale Rechenschaftspflicht“ meint zunächst nichts anderes, als dass staatliche Akteure in gegenseitige Kontrollmechanismen eingebunden sind, die ein Überschreiten eines gesteckten Kompetenzrahmens durch politische oder rechtliche
Sanktionen verhindern sollen. Mit diesem Konzept sind vor allem drei Komponen-
34 Dies heißt natürlich nicht, dass keine Mischsysteme existierten, die vor allem auf kommunaler
und subnationaler Ebene starke direktdemokratische Elemente aufweisen, wie es beispielsweise in den USA (und hier besonders in Kalifornien) oder in Italien der Fall ist. Zudem werden
mitunter wichtige politische Grundentscheidungen auch auf nationaler Ebene per Referendum
entschieden (vgl. Jung 2001; Hager 2005). Dennoch wird in den meisten liberalen Demokratien die überwiegende Mehrzahl der verbindlichen nationalen Entscheidungen durch Repräsentanten entschieden.
35 Allerdings ist zuzugestehen, dass auch Schumpeter die Kontrolldimension nicht unbeachtet
lässt – er sieht sie über den Wahlakt selbst in ausreichender Weise gewährleistet (Schumpeter
1950: 432; vgl. auch Lauth 2004: 77 f.). Periodische Wahlen allein gewährleisten aber nicht in
ausreichender Weise eine wirksame Herrschaftskontrolle, wie noch zu zeigen sein wird.
69
ten verknüpft: Informationspflicht gegenüber anderen Akteuren, öffentliche Rechtfertigungspflicht für getätigte Handlungen sowie Sanktionsmöglichkeiten für den
Fall, dass Kompetenzen tatsächlich überschritten werden (vgl. auch Lauth 2004: 79).
Das Konzept verknüpft somit die einschlägigen Vorstellungen der checks and balances, wie sie aus der US-amerikanischen Verfassungstradition bekannt sind, mit
zentralen Merkmalen des Rechtsstaates, ohne jedoch mit diesem identisch zu sein
(ebd.). Machtkontrolle geschieht sowohl über die Einbindung in gegenseitige politische Verantwortungs- und Kontrollmechanismen als auch über die rechtlichen Sanktionskomponenten des Rechtsstaats.
Die rechtliche Komponente macht deutlich, weshalb politische Kontrollrechte,
wie sie unter anderem Schumpeter vorschweben, nicht ausreichen können: Ohne
rechtliche Sanktionen kann die faktische Einhaltung formaler Kompetenzen nicht
wirksam gewährleistet werden. Einziges sanktionsbewährtes Mittel der politischen
Kontrolle ist die Abwahl einer Regierung (bzw. die Nicht-Wiederwahl eines oder
mehrerer Parlamentarier). Nun speisen sich die Präferenzen des Wahlbürgers aber
aus vielen, sich zum Teil überlagernden Präferenzen, so dass zumindest nicht in
jedem Fall gewährleistet wäre, dass eine die Regeln verletzende Regierung auch
tatsächlich abgewählt würde – vielleicht sind ihre Leistungen auf anderen Gebieten
so gut, dass sie trotz extralegaler Handlungen eine Mehrheit der Wähler hinter sich
zu bringen vermag. Zudem erfolgt durch alle vier oder fünf Jahre stattfindende Wahlen keine kontinuierliche Kontrolle des Regierungshandelns. Anders wäre dies nur,
wenn der Bevölkerung gestattet würde, zu jeder Zeit die Regierung per Misstrauensvotum abzuwählen – ein solcher Mechanismus widerspricht aber den Strukturprinzipien der repräsentativen Demokratie, die eine solche Sanktionsmöglichkeit nicht
vorsieht (ganz abgesehen davon, dass auch auf diese Weise das Problem sich überlagernder Präferenzen nicht gelöst werden kann). Außerdem ist der Maßstab der
politischen Kontrolle – die Präferenzen der Wähler – diffus und unterliegt ständiger
Veränderung (vgl. Lauth 2004: 91). Kurzum: Eine wirksame Kontrolle kann nicht
über politische Mechanismen alleine erfolgen, sondern sie muss durch rechtliche
Kontrollmechanismen ergänzt und eingehegt werden (vgl. zur unterschiedlichen
Struktur politischer und rechtlicher Kontrolle umfassend Lauth 2004: 86).
Während politische Kontrolle von einer ganzen Reihe von Akteuren erbracht
werden kann (z. B. Parlamente, Ausschüsse, Parteien, Verbände, zivilgesellschaftliche Akteure, Medien, Öffentlichkeit), ist die rechtliche Komponente der Kontrolldimension eindeutig auf die Akteure des Justizsystems beschränkt, die zudem ausschließlich legale Kriterien als Kontrollmaßstab gelten lassen können (im Gegensatz
zur politischen Kontrolle, der meist politisch-legitimatorische Kriterien und Bewertungsmaßstäbe zugrunde liegen).
Rechtskontrolle kann über zwei Stufen verlaufen: Auf der ersten Stufe äußert sie
sich in der Überprüfung der Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns, auf der zweiten
Stufe in der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit dieser Gesetze selbst, auf deren
Grundlage staatliches Handeln erfolgt. Eine Regierung oder eine Parlamentsmehrheit kann einerseits gegen demokratische Grundsätze verstoßen, indem sie festgeleg-
70
te Kompetenzbereiche überdehnt oder verletzt. Sie kann aber auch dadurch verfassungswidrig handeln, dass sie entweder auf der Basis von Gesetzen agiert, die
grundlegenden Verfassungsbestimmungen widersprechen, oder indem sie selbst
solche Gesetze verabschiedet. Sowohl die Missachtung bestehender Gesetze als
auch die Verabschiedung verfassungswidriger Gesetzesnormen muss daher rechtlicher Kontrolle unterliegen. Damit aber ist auch der Verfassungsgerichtsbarkeit ein
legitimer Platz im System der Herrschaftskontrolle zugewiesen, denn nur sie kann
autoritativ entscheiden, ob ein politischer Akteur seine Kompetenzen überschritten
hat oder ein fragliches Gesetz der geltenden Verfassungsordnung widerspricht.
So gesehen ist Herrschaftskontrolle als „komplementäre Dimension von Freiheit
und Gleichheit“ (Lauth 2004: 95) zu verstehen. Sie ist zunächst kein demokratischer
Grundwert an sich, sondern ihr Gehalt wird erst im Zusammenspiel mit den Dimensionen Freiheit und Gleichheit wirksam. Gleichheit und Freiheit sind so lange in
ihrer Wirkung gefährdet, wie diese Prinzipien nicht durch die Kontrolldimension
gestützt werden. Umgekehrt bleibt Kontrolle für sich genommen weitgehend inhaltsleer, so lange nicht deutlich ist, worauf sich die Kontrollmechanismen inhaltlich
beziehen. Gleichwohl kennen nicht-demokratische Systeme keine umfassende Herrschaftskontrolle im hier diskutierten Sinne; autokratische Regierungen zeichnen sich
ja gerade dadurch aus, dass sie keiner externen Herrschaftskontrolle unterliegen.
Insofern kann und muss die Kontrolldimension zusammen mit den oben diskutierten
Dimensionen der Gleichheit und der Freiheit zu den die Demokratie konstituierenden Merkmalen gezählt werden.
Rechtliche bzw. rechtsstaatliche Kontrolle wird durch die Judikative (und die
Verfassungsgerichtsbarkeit an ihrer Spitze) ausgeübt.36 Zwar leisten auch politische
und gesellschaftliche Akteure Kontrolldienste, deren Kontrollfunktion zielt aber
eher auf die Herstellung von Transparenz exekutiver Handlungen, weniger auf eine
Sanktionierung. Damit ist aber die verfassungsrechtliche Kontrolle parlamentarischen Handelns kein der Demokratie externes Phänomen, sondern notwendiger Bestandteil der Demokratie selbst. Wenn es stimmt, dass in der Verfassung und ihren
Normen die Volkssouveränität heute ihren eigentlichen Ausdruck findet (siehe die
Diskussion oben), sorgt die Kontrolle der Gesetzgebungstätigkeit des Parlaments
und der Ausführungsvollmachten der Exekutive für die Aufrechterhaltung dieser
Souveränität, da die Verfassungsnormen im Zweifelsfall nur durch verfassungsgerichtliches Eingreifen ihre Gültigkeit behalten.37
36 Es ist wichtig zu betonen, dass auch in Systemen ohne Verfassungsgerichtsbarkeit (etwa in
Großbritannien) diese rechtliche Kontrollkomponente vorhanden ist, da ja auch dort rechtliche
Kontrolle mit Hilfe eines funktionierenden Justizsystems stattfindet. Einzig die Letztentscheidungskompetenz über Streitfälle liegt hier beim Parlament und seiner parlamentarischen Mehrheit, sodass in Extremfällen auf die politischen Kontrollmechanismen vertraut werden muss.
37 John Rawls deutet die Verfassungsgerichtsbarkeit gar als exemplarischen Ort öffentlicher
Vernunft: „Bürger und Parlamentarier dürfen in Übereinstimmung mit ihren umfassenderen
Überzeugungen abstimmen, […] sie müssen nicht durch öffentlichen Vernunftgebrauch rechtfertigen, wofür sie ihre Stimme abgeben, und sie müssen die Gründe für ihre Entscheidung
auch nicht mit einer kohärenten Interpretation der Verfassung in Übereinstimmung bringen.
71
Das Modell der „eingebetteten Demokratie“
Die drei allgemeinen Demokratiedimensionen Gleichheit, Freiheit und Kontrolle
beschreiben noch kein spezifisches Institutionenarrangement. Dieses wird erst durch
ein konkretes Demokratiemodell definiert.
Das dieser Untersuchung zugrunde liegende Demokratiemodell bezeichnet sich
selbst als eingebettete Demokratie (vgl. Merkel et al. 2003; Merkel 2004b). Hinter
dieser Begrifflichkeit verbirgt sich die Überlegung, dass Demokratie als ein Set von
Teilregimen bzw. unterschiedlichen Funktionsregeln verstanden werden muss, die
sich gegenseitig stützen und aufeinander bezogen sind. Jedes der Teilregime des
„Gesamtregimes Demokratie“ benennt jeweils Voraussetzungen für das Funktionieren von Demokratie. Zugleich vermag nicht ein Teilregime alleine demokratische
Herrschaft zu konstituieren, sondern erst im Zusammenwirken aller Teilregime wird
eine demokratische Herrschaftsweise sichtbar und wirksam. „Demokratie“ setzt sich
insofern aus independenten wie interdependenten Teilregimen zusammen (Merkel et
al. 2003: 48). Nur im Ineinandergreifen dieser Teilregime, in der gegenseitigen Einbettung, kann demokratisches Regieren nach dieser Vorstellung funktionieren.
Die Aufeinanderbezogenheit der oben diskutierten Dimensionen der Demokratie
findet hier ihren Ausdruck in den konkreteren Institutionenarrangements der „eingebetteten“ Demokratie: So wie Freiheit, Gleichheit und Kontrolle aufeinander bezogen sind (und sein müssen), sind auch die Teilregime der Embedded Democracy
aufeinander bezogen. Das Wahlregime als Kern der Demokratie (s. u.) beispielsweise wäre funktionsuntüchtig (oder würde zumindest nur eingeschränkt funktionieren),
wäre es nicht in politische und bürgerliche Freiheitsrechte „eingebettet“, die eine
sinnvolle Ausübung des Wahlrechts erst ermöglichen. Ebenso wären bürgerliche
Freiheitsrechte wertlos, würden sie nicht durch Mechanismen horizontaler Gewaltenkontrolle geschützt und gesichert. Dabei können die Teilregime durchaus unterschiedliche Funktionsimperative und Eigenlogiken aufweisen; durch die gegenseitige Einbettung wird aber verhindert, dass eines der Teilregime die anderen dominiert.
In diesem Sinne kann unter „Demokratie“ daher nicht mehr ausschließlich die
‚Durchführung von Wahlen‘ verstanden werden, sondern die ‚Durchführung von
Wahlen innerhalb eines spezifischen Institutionenarrangements‘, das vor allem
durch rechtsstaatliche Komponenten geprägt ist. Erst in der gegenseitigen Einbettung der unterschiedlichen Institutionen verbinden sich diese zu dem, was heute
gemeinhin (und häufig implizit) unter „Demokratie“ verstanden wird. Ein grundlegender Vorteil dieser Betrachtung von Demokratie als Zusammenspiel von Institutionen liegt darin, dass nicht mehr von einer prinzipiellen Spannung zwischen den
Die Aufgabe der Richter ist es dagegen, genau dies zu tun, und dabei stehen ihnen keine andere Vernunft und keine anderen Werte zur Verfügung als die politischen. Darüber hinaus müssen sie dem folgen, wovon sie glauben, daß es von den bereits vorliegenden Verfassungsgerichtsurteilen, Praktiken, Traditionen und verfassungsrechtlich relevanten historischen Texten
gefordert wird“ (Rawls 1998: 339).
72
unterschiedlichen Demokratiedimensionen ausgegangen werden muss, sondern
deren Zusammenspiel in den Fokus der Betrachtung rückt.
Das Demokratiemodell der Embedded Democracy definiert Demokratie als ein
Set institutioneller Minima, die sich nach einer vertikalen und nach einer horizontalen Dimension unterscheiden lassen. Die vertikale Dimension politischer Herrschaft
wird durch universelles aktives und passives Wahlrecht sowie die dazu gehörenden
grundlegenden politischen Partizipationsrechte bestimmt. Hierzu zählt eine öffentliche Arena, in der Meinungs- und Willensbildung stattfinden und eine Kontrolle und
Beeinflussung der Repräsentanten und Entscheidungseliten geschehen kann sowie
ein durch bürgerliche Freiheitsrechte definierter Raum, in denen der Staat die Freiheitsrechte seiner Bürger nicht oder nur in Ausnahmefällen beschneiden darf. In der
horizontalen Dimension treten Institutionen der Gewaltenteilung und des (formalen)
Rechtsstaates hinzu, durch welche sichergestellt werden soll, dass gewählte Entscheidungsträger innerhalb ihrer definierten Machtbereiche handeln und die Schranken der Verfassung nicht dehnen oder gar übertreten. Zugleich ist wichtig, dass die
demokratisch gewählten Repräsentanten effektive Herrschaftsgewalt über die ihnen
zugewiesenen Herrschaftsbereiche beanspruchen können und diese nicht von nichtlegitimierten Machtgruppen oder extrakonstitutionellen Vetoakteuren beschnitten
wird (Merkel et al. 2003: 49).
Konkret definieren fünf Teilregime die „eingebettete Demokratie“ (vgl. Abbildung
2.1): das demokratische Wahlregime (A), politische Partizipationsrechte (B), bürgerliche Freiheitsrechte (C), institutionelle Garantien der Gewaltenkontrolle (D) und
Sicherungen der effektiven Regierungsgewalt demokratisch gewählter Repräsentanten (E).
Das Wahlregime (A) stellt den ideellen Kern des hier vorgestellten Demokratiekonzepts dar. Die allgemeine, freie und gleiche Wahl sichert einen offenen Wettbewerb bei der Besetzung der Herrschaftspositionen sowie die Gleichgewichtung der
Wählerpräferenzen und sorgt so für den sichtbarsten Ausdruck der „Volkssouveränität“. Es steht deswegen im Zentrum des Demokratiemodells, weil es das zentrale
Abgrenzungskriterium zu nicht-demokratischen Systemen darstellt: die Besetzung
der wichtigsten Herrschaftspositionen per Wahlen durch die Bürger. Wie oben diskutiert, können Wahlen zudem als Instrument der (politischen) Herrschaftskontrolle
genutzt werden, reichen hierfür aber aus den schon angesprochenen Gründen nicht
aus, zumal über sie kein Einfluss auf die Art der Machtausübung zwischen den
Wahlen genommen werden kann. In ihnen drücken sich aber bereits die beiden
grundlegenden Prinzipien Gleichheit und Freiheit aus.
Eng mit dem Wahlregime verknüpft sind die politischen Freiheitsrechte (B). Zu
ihnen gehören vor allem Rechte politischer Kommunikation wie etwa Meinungs-,
Rede- und Versammlungsfreiheit, das Demonstrationsrecht oder die Organisationsund Assoziationsfreiheit. Diese Rechte stützen auf der einen Seite ein faires demokratisches Wahlregime, sind aber andererseits auch zwischen den Wahlen für die
Präferenzbildung der Bürger unerlässlich. Ein formell gewährtes Wahlrecht bliebe
unzureichend, wenn es nicht mit diesen den demokratischen Diskursraum erst kon-
73
stituierenden Rechten verknüpft wäre. Die Auswahl zwischen Alternativen setzt
logisch voraus, dass sich Bürger über Grundlagen und Folgen einer bestimmten
Wahl klar werden, die je eigenen Präferenzen und Interessen bilden und ihnen Ausdruck verleihen können.
Abbildung 2.1: Das Modell der Embedded Democracy
Bürgerliche
Rechte
Quelle: Merkel 2004a: 8
Die im demokratischen Konzept des Individuums angelegte Fähigkeit zur Agency
gründet auf der institutionellen Unterfütterung der prinzipiellen Befähigung zu Autonomie, Verantwortung und Vernunft. Diese Unterstützungsleistung erbringen vor
allem die Regeln zur Meinungs-, Rede- und Versammlungsfreiheit. Indem diese eine
demokratische Öffentlichkeit konstituieren, bilden sie zudem die pluralistischen Präferenzen der Bürger einer Gesellschaft ab und helfen so, responsives Regieren zu
fördern. Bürgerliche Freiheitsrechte beinhalten also sowohl eine individuelle wie eine
kollektive Komponente: Individuell unterstützen sie die Fähigkeiten zur Ausbildung
(politischer) Präferenzen, Vorstellungen und Interessen, institutionell helfen sie bei
der Herstellung von Responsivität, ohne die demokratisches Regieren weitgehend
sinnentleert wäre. Hinsichtlich der Kontrollkomponente der Demokratie kommt
gerade den politischen Freiheitsrechten erhöhte Bedeutung zu, da über ihre freie
Nutzung die Kontrolle des Regierungshandelns zumindest zum Teil auch zwischen
74
den Wahlen sichergestellt werden kann. Zwar besitzt auch eine kritische demokratische Öffentlichkeit keine Sanktionsgewalt, sie kann aber die Aufmerksamkeit politischer wie rechtlicher Akteure steuern und so Kontroll- und Sanktionsmaßnahmen
anstoßen. Dies kann sowohl durch Eigenkontrolle der politisch Handelnden geschehen, die beispielsweise um ihre Wiederwahl fürchten müssen, als auch über das
Aufdecken politischen Machtmissbrauchs durch investigative Medien, wodurch
nicht selten juristische Kontrollverfahren erst initiiert werden.
Bürgerliche Freiheitsrechte (C) bilden zusammen mit den Institutionen der Gewaltenteilung die rechtsstaatliche Dimension der Embedded Democracy (vgl.
Merkel et al. 2003: 52). Im Kern können unter ihnen die negativen Abwehrrechte
des Individuums gegen Staat und Gesellschaft verstanden werden. Diese in der Verfassung eines Staates festgeschriebenen Prinzipien stellen im Lockeschen Sinne die
civil rights dar, welche die Bürger im Zuge der Verfassungsgebung dem Zugriff des
Staates vorenthalten haben; sie begrenzen Herrschaftsanspruch und -reichweite des
Staates und der Gesellschaft gegenüber dem Individuum. Bürgerliche Freiheitsrechte sind daher auch für gewählte (parlamentarische) Mehrheiten oder Entscheidungen
des Volkes prinzipiell nicht disponibel: Da idealiter (im Sinne der Vertragstheorie)
jeder Einzelne im Zuge der Verfassungsgebung diese Sperrzone für Mehrheitsentscheide errichtet hat, müsste auch jeder Einzelne prinzipiell einem Eingriff in diese
Rechte zustimmen; eine bloße Mehrheit reicht hierfür streng genommen nicht aus.
Im Konfliktfall ist es daher Aufgabe des Justizsystems, bei Kollision unterschiedlicher Prinzipien oder dem Streit über die Auslegung der Prinzipien über diese zu
entscheiden. Hier wird wiederum der enge Konnex zwischen Freiheitsrechten einerseits und ihrer Sicherung durch unabhängige Gerichte andererseits sichtbar: Ließen
sich Grundrechte ohne weiteres durch den Willen einer politischen Mehrheit beschränken, wäre ihre faktische Institutionalisierung auf Sand gebaut. Wenn hingegen
unabhängigen Gerichten die Sicherung dieser grundlegenden Freiheitsrechte erlaubt
wird, ist zumindest grundsätzlich sichergestellt, dass legislatives wie exekutives
Handeln an den Maßstäben einer (geschriebenen oder ungeschriebenen) Verfassung
überprüft werden kann und diese Rechte intakt bleiben. Damit dies geschehen kann,
müssen die zentralen rechtsstaatlichen Komponenten der Gleichbehandlung vor dem
Gesetz und dem gleichen Zugang zur Justiz für alle Bürger in gleicher Weise gesichert sein (ebd.: 53). Negative Abwehrrechte sind damit nicht zuletzt auch deshalb
für ein demokratisches Institutionensystem unerlässlich, weil nur bei ihrer Institutionalisierung davon ausgegangen werden kann, dass auch politische Partizipationsrechte sinnvoll wahrgenommen werden können: Ohne den Schutz vor Übergriffen
durch staatliche oder gesellschaftliche Akteure wäre deren Funktionslogik empfindlich gestört. Dies verdeutlicht einmal mehr die Relevanz der Idee einer gegenseitigen Einbettung der unterschiedlichen Teilregime.
Unter Institutionen horizontaler Gewaltenkontrolle (D) sind insbesondere solche
autonomen Institutionen zu verstehen, durch welche die Herrschaftsausübung gewählter Amtsträger wirksam kontrolliert und gegebenenfalls sanktioniert werden kann
(ebd.: 54). Sinn und Zweck dieser Institutionen ist es sicherzustellen, dass gewählte
75
Amtsträger innerhalb der ihnen konstitutionell zugeschriebenen Herrschaftsbereiche
verbleiben und nicht über ihre Grenzen hinweg agieren. Die relative Autonomie der
Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative soll diese wirksame gegenseitige
Kontrolle ermöglichen. Insbesondere der Judikative kommt hier eine starke Kontrollfunktion zu, da vor allem sie mit rechtlichen Mitteln die Einhaltung der jeweiligen
Kompetenzen der anderen Gewalten überwachen und sanktionieren kann.
Nun muss in etablierten Demokratien nicht von vorneherein unterstellt werden,
dass Akteure absichtlich die ihnen gesetzten Grenzen überschreiten. Weitaus häufiger mag es aber vorkommen, dass Regeln und Normen so interpretationsoffen oder
gar widersprüchlich formuliert sind, dass eine Instanz benötigt wird, die Kompetenzstreitigkeiten ausräumen und letztverbindlich entscheiden kann. Aus logischen
Gründen kommen für diese Aufgabe in der Regel weder Exekutive noch Legislative
(bzw. deren Mehrheit) selbst in Frage, da nur eine unabhängige Instanz solche Konflikte fair zu lösen vermag. Insbesondere die Verfassungsgerichtsbarkeit kann dafür
sorgen, dass die von der Verfassung definierten Kompetenzbereiche eingehalten
werden. Gerade in diesen klassischen Kompetenzkonflikten zeigt sich, dass Verfassungsgerichte keineswegs „gegen“ demokratische Prozeduren agieren, sondern – im
Gegenteil – diese erst hinreichend klar definieren und damit die Demokratie eher
stärken als schwächen. Es ist wichtig, nochmals darauf hinzuweisen, dass hiermit
eine „zentrale Kontrolllücke“ (ebd.: 54) der Demokratie geschlossen wird, welche
die vertikalen Kontrollinstrumente (v. a. Wahlen, Öffentlichkeit) notwendigerweise
offen lassen. Wenn Kontrolle als zentrale Dimension der Demokratie akzeptiert
wird, ist gegenseitige horizontale Gewaltenverschränkung und letztverbindliche
Kontrolle durch unabhängige Gerichte unerlässlich.
Das letzte Teilregime (E) schließlich bestimmt, dass keine außerkonstitutionellen
Akteure Verfügungsgewalt über spezifische Politikbereiche erhalten dürfen. Dies
betrifft besonders die für junge Demokratien oftmals problematischen Handlungen
des Militärs, der Polizei, der Bürokratie oder privater Politunternehmer, die – demokratisch nicht autorisiert – die Herrschaftsgewalt in bestimmten Politikdomänen aus-
üben. In etablierten Demokratien spielt dieses Teilregime in der Regel nur eine untergeordnete Rolle. Hiermit ist letztlich das Gewaltmonopol der Verfassungsorgane
angesprochen, das gegeben sein muss, damit überhaupt von effektiver Herrschaftsgewalt gewählter Repräsentanten gesprochen werden kann. Ausdrücklich nicht in die
Kategorie außerkonstitutioneller Akteure fallen Verfassungsgerichte oder unabhängige Zentralbanken, da diese entweder integraler Bestandteil der Demokratie selbst sind
oder ihnen aus funktionalen Gründen Befugnisse übertragen worden sind, die politisch gewollt und prinzipiell jederzeit wieder rückführbar sind (ebd.: 55).38
38 Allerdings mag man darüber nachdenken, ob bestimmte Verfassungsbestimmungen, die prinzipiell nicht geändert werden können (etwa die bekannten „Ewigkeitsgarantien“ des bundesdeutschen Grundgesetzes), die effektive Herrschaftsgewalt des Volkes oder seiner Vertreter
nicht auch in etablierten Demokratien unzulässig einschränken. Auch wenn diese Festlegung
bei der Verfassungsgebung erfolgt ist, ist es doch zumindest nicht unproblematisch, dass spätere Generationen von einer solchen Festlegung auch in einstimmigem Konsens nicht mehr sol-
76
Die fünf Teilregime sind also insofern als „eingebettet“ aufzufassen, als nur bei
Vorhandensein und gegenseitiger Stützung dieser funktionalen Prinzipien von einer
funktionierenden Demokratie gesprochen werden kann; umgekehrt zieht die Störung
einer der Prinzipien eine Störung der gesamten Demokratie nach sich. Die Funktionsfähigkeit der Demokratie insgesamt beruht also auf der wechselseitigen Einbettung der Teilregime untereinander. Demokratie kann aber nicht nur über die interne
Differenzierung in Teilregime als eingebettet aufgefasst werden, sondern sie ist auch
extern eingebettet. Die externe Einbettung bezieht sich vor allem auf die staatlichen,
wirtschaftlichen und sozialen Funktionsbedingungen und -voraussetzungen der
Demokratie, ohne dass diese aber selbst zu definierenden Merkmalen der Demokratie würden. Wie ist das zu verstehen?
Schon Seymour Martin Lipset hatte Mitte der 1950er Jahre darauf verwiesen,
dass Demokratien auf spezifische Funktionsbedingungen und Voraussetzungen
angewiesen sind, um funktionieren oder sich gar erst etablieren zu können (Lipset
1959, 1994). Zu diesen Voraussetzungen gehören nicht nur sozioökonomische „prerequisites“, sondern ebenso die grundlegende Bedingung der Staatlichkeit oder eine
die Demokratie begünstigende politische Kultur (klassisch: Almond/Verba 1963;
Almond/Verba 1980). Grundlegende Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie ist zunächst das Vorhandensein von Staatlichkeit. Autonome Machtaus-
übung über demokratische Verfahren setzt voraus, dass das Territorium definiert ist,
auf dem diese Machtausübung geschehen soll. Ebenso muss feststehen, wer die
Grundgesamtheit der Machtausübenden, den demos, ausmacht, wer also Bürger
dieses Gemeinwesens sein soll (und damit, wer die Herrschaftsgewalt und Herrschaftsautonomie ausübt) – kurz: der „legitime Geltungsbereich der politischen
Regeln“ (Merkel et al. 2003: 58) muss feststehen. Dies heißt nicht, dass der Nationalstaat alleiniger Träger demokratischer Herrschaft sein muss, aber auch bei transnationalen Gebilden wie etwa der Europäischen Union muss nach dieser Vorstellung
feststehen, wer in welchem politischen und territorialen Raum welche legitimen
Herrschaftskompetenzen besitzt. Auch hier gilt, dass ohne eine Form der Staatlichkeit keine Staatsbürgerschaft vergeben werden kann und ohne effektive Staatsbürgerschaft auch Demokratie nicht denkbar ist (vgl. Linz/Stepan 1996: 28).
Weniger trivial als diese erste Voraussetzung der Staatlichkeit erscheint der zweite große Block von Funktionsbedingungen, jener der sozioökonomischen Voraussetzungen. Das formale Vorhandensein spezifischer Rechte und Institutionen reicht
len abweichen können. Es ist wenig einsichtig, weshalb etwa die Entscheidung über die
Staatsorganisation als Bundesstaat nicht revozierbar sein soll. Die grundsätzliche Nicht-
Änderbarkeit solcher Bestimmungen schränkt streng genommen die demokratische Herrschaftsgewalt unzulässig ein. In diesem Fall sind es aber nicht extrakonstitutionelle Akteure,
durch die eine legitime Herrschaftsausübung eingeschränkt wird, sondern paradoxerweise die
Verfassung selbst, die dies tut. Abgesehen von solchen Spezialfällen kann aber festgehalten
werden, dass das Problem effektiver Herrschaftsgewalt für etablierte Demokratien weniger ein
Problem darstellt als für sich konsolidierende, in denen nicht selten alte Machteliten ihren
Herrschaftsbereich auch im demokratischen System zu erhalten trachten.
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zwar zur Definition dessen aus, was unter einem demokratischen Regime zu verstehen sein soll; die Klassifizierung einer empirisch vorfindbaren Gesellschaft als demokratisch setzt aber voraus, dass diese Rechte auch wahrgenommen werden können und die demokratischen Institutionen auch faktisch funktionieren. Eine Gesellschaft beispielsweise, in der ein großer Teil der Bevölkerung um das tägliche
Überleben kämpft, ließe sich nur schwerlich als funktionierende Demokratie bezeichnen, da ein relevanter Anteil der formal zur demokratischen Teilhabe berechtigten Bürger ihre Rechte nicht wahrzunehmen in der Lage ist. Implizit muss also
angenommen werden, dass Rechte nicht nur formal gelten, sondern auch tatsächlich
in der Lebenswirklichkeit einer Demokratie realisierbar sind.
Das Demokratiemodell der Embedded Democracy trifft hinsichtlich dieser sozio-
ökonomischen Funktionsvoraussetzungen drei allgemeine Annahmen (Merkel et al.
2003: 60 f.): Entsprechend der liberalen Freiheitsrechte im politischen Sinn muss –
erstens – auch in der ökonomischen Sphäre Freiheit insoweit institutionalisiert sein,
dass ein liberales Marktsystem implementierbar ist. Diese Bedingung bedeutet nicht,
dass dieses Marktsystem nicht durch gesetzliche Bestimmungen reguliert oder eingeschränkt werden könnte (etwa im Sinne der bundesdeutschen „sozialen Marktwirtschaft“), sie schließt lediglich aus, dass das Wirtschaftssystem vollkommen
staatlicher Herrschaft unterworfen ist. Liberale Grundrechte dürfen nicht nur für die
politische Sphäre einer Gesellschaft Geltung beanspruchen können, sondern ebenso
für andere Subsysteme des Gesellschaftssystems wie das Wirtschaftssystem.
Zugleich muss – zweitens – aber auch und gerade in einem Marktsystem ein Mindestmaß an sozioökonomischer Grundausstattung für jeden Bürger gegeben sein:
Extreme Ungleichverteilungen in den Startvoraussetzungen und Lebenschancen der
Bürger würden negativ auf die gleiche Freiheit der politischen Partizipation durchschlagen, wodurch demokratisches Regieren selbst geschwächt oder im Extremfall
unmöglich gemacht würde. Staatliche Umverteilungsmechanismen können daher
durchaus vonnöten sein, wenn Demokratie auch faktisch verwirklicht sein soll (vgl.
zum normativen Zusammenhang von individueller Autonomie, Demokratie und
Wohlfahrtsstaat Kneip 2003). Damit ist freilich – drittens – nichts über die Höhe
solcher Umverteilungen ausgesagt, ebenso wenig über Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Dies sind Fragen des politischen Outcomes eines (demokratischen) politischen Prozesses. Sie können zwar für die Stabilität einer demokratischen Ordnung
hochgradig relevant sein, entscheiden aber nach der hier vertretenen Auffassung
nicht darüber, ob ein politisches System als „demokratisch“ klassifiziert werden
kann oder nicht. Über die konkrete Ausgestaltung der Umverteilungsmechanismen
ist in fairen politischen Verfahren zu entscheiden – Gegenstand der Definition von
Demokratie sind sie nicht.
Eine dritte wichtige Voraussetzung für ein dauerhaft funktionierendes demokratisches Regierungssystem sind Institutionen der Zivilgesellschaft (vgl. z. B. Cohen/Arato
1992). Die Transformationsforschung (siehe z. B. Merkel 1999: 164 ff.) hat darauf verwiesen, dass Demokratien nur dann als vollständig konsolidiert gelten können, wenn
sich eine Bürger- oder Zivilgesellschaft herausgebildet hat, die durch intrinsische Un-
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terstützung der demokratischen Normen und Prozeduren das Gesamtsystem stützt und
gegen anti-demokratische Rückschläge immunisiert. Eine vitale Zivilgesellschaft sorgt
also vor allem für die Stabilität eines demokratischen Systems. Hier gilt nach wie vor
das Wort von Alexis de Tocqueville, wonach die Gesetze mehr als die physischen
Umstände, aber die Sitten noch mehr als die Gesetze zur Erhaltung des demokratischen Gemeinwesens beitragen (vgl. Tocqueville 1985 [1835]). Eine demokratische
Politische Kultur (Almond/Verba 1963, 1980) stützt auf individueller Ebene demokratische Prozeduren, während zivilgesellschaftliche Akteure auf der intermediären Ebene
für die Demokratie wichtige Dienste leisten. Vier zentrale demokratietheoretische
Funktionen können von der Zivilgesellschaft ausgehen (Merkel 2004b: 45 ff.): Sie
kann erstens – ergänzend zu rechtsstaatlichen Institutionen – Schutz vor staatlicher
Willkür bieten, indem sie den Raum konstituiert, in dem Bürger unbehelligt von staatlicher Autorität handeln können.39 Zweitens vermögen zivilgesellschaftliche Räume
im Idealfall Tocquevilles Vision der „Schule der Demokratie“ zu erfüllen. In der Assoziation freier Bürger können sich gegenseitiges Vertrauen, Toleranz und Zivilcourage
entwickeln, die zur Herausbildung demokratischen „Sozialkapitals“ wichtig sind
(Coleman 1988; Putnam 1993, 2000). Da die Freiheitsrechte des Rechtsstaates nicht
voraussetzungslos existieren, sind gerade die hier erlernten demokratischen Normen
und Werte wichtig für die Stabilität und den Erhalt der Demokratie. Eng damit verknüpft ist auch die dritte Funktion der Zivilgesellschaft: Idealerweise sorgt sie für eine
Art intermediärer Balance zwischen staatlicher Ebene und dem Bürger. Viertens
schließlich erbringen zivilgesellschaftliche Akteure im Sinne einer deliberativen Demokratievorstellung wichtige Funktionen bei der Etablierung einer kritischen Öffentlichkeit, die die formalen Partizipations- und Kontrollinstrumente der politischen und
der rechtlichen Sphäre unterstützt und mitunter erst in Gang setzt (Habermas 1992). Die
Thematisierung und Einbringung gesellschaftlicher Konflikte in den formalen demokratischen Prozess stärken das System insgesamt: Über zivilgesellschaftliche Kanäle
können Themen und Präferenzen in die formellen Institutionen der Willensbildung
eingebracht werden, die auf anderem Wege keine Berücksichtigung fänden. Zivilgesellschaftliches Handeln erhöht so die accountability des Gesamtsystems und erhöht
damit letztlich die Qualität der Demokratie selbst (Lauth 2004: 71; Newton 2005).40
Eine vierte wichtige Annahme der Embedded Democracy betrifft die gesellschaftlichen Säkularisierungsvoraussetzungen von Demokratie: Die Vorstellung von
Volkssouveränität beruht auf der Annahme, dass alle legitime Herrschaft vom Indi-
39 Dieser Raum besteht zwar bereits durch rechtsstaatliche Arrangements, insbesondere durch die
Etablierung negativer Freiheitsrechte. Erst eine vitale Zivilgesellschaft füllt diesen Raum aber
mit Inhalt aus.
40 Es kann an dieser Stelle die Diskussion unterbleiben, wie vital eine Zivilgesellschaft in bereits
konsolidierten Demokratien sein muss und ob deren faktische Realisierung eher zweitrangig
ist, solange über die rechtlichen Institutionen die Ermöglichungsbedingungen für zivilgesellschaftliches Handeln gegeben sind (so tendenziell Lauth 2004: 71 f.). Wichtiger als für bereits
etablierte Demokratien ist eine vitale Zivilgesellschaft zweifellos für eine sich gerade erst konsolidierende; für die Stabilität und Qualität etablierter Demokratien leistet die Zivilgesellschaft
aber einen zweifellos wichtigen Beitrag.
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viduum bzw. vom Bürger ausgeht; sie ist daher nicht mit der Präjudizierung politischer Inhalte durch religiöse Akteure vereinbar. Rechtsstaat und Demokratie im
oben definierten Sinne beruhen auf universal verstandenen individuellen Rechten,
die ihren Ursprung in der menschlichen Vernunft(sfähigkeit) haben, nicht aber in
religiösen Dogmen, die in modernen, pluralen Gesellschaften keine universale Geltung beanspruchen können. Modernes Recht wird nur dann wirksam, wenn es auf
legitimem Wege erzeugt und implementiert worden ist – und eine im demokratischen Sinne legitime Rechtserzeugung kann nur über den (repräsentierten oder direkten) Willen des Volkes erfolgen (Habermas 1992). Dies bedeutet nicht, dass nicht
ursprünglich religiöse Gehalte in Verfassungen oder Rechtsnormen Einzug gehalten
hätten oder dass die Herleitung individueller Grundrechte nicht auch religiöse Ursprünge haben kann; die Instanz, die über Geltung oder Nicht-Geltung dieser Gehalte entscheidet, muss in der Demokratie aber die Bürgerschaft eines Gemeinwesens
sein, nicht eine wie immer geartete religiöse Instanz.
Dies schließt nicht aus, dass sich religiöse Akteure – wie andere Akteure der Zivilgesellschaft auch – an politischen und gesellschaftlichen Debatten beteiligen
können und sollen. Die Definitionsmacht über die Inhalte demokratischen Regierens
kann ihnen aber nicht zugestanden werden, da ein mit Wahrheitsanspruch auftretender Dogmatismus eine der Grundregeln demokratischen Regierens eklatant verletzen
würde: die Grundregel der prinzipiellen Offenheit demokratischer Verfahren. Demokratie ist „organized uncertainty“ (Przeworski 1991: 13), nicht „unorganized
certainty“. John Rawls hat mit seiner Konzeption eines „Übergreifenden Konsenses”
darauf verwiesen, dass konstitutionelle Demokratien unter dem Faktum eines moralischen Pluralismus darauf angewiesen sind, einen Konsens in Bezug auf die politischen Grundlagen des Gemeinwesens herzustellen (Rawls 1998, 2003). Die politischen und rechtlichen Grundlagen der Demokratie müssen aus Sicht der umfassenden (religiösen) Lehren bejaht werden können, damit das demokratische System
stabil sein und funktionieren kann. Dies aber setzt voraus, dass religiöse oder andere
umfassende Lehren keinen Definitionsanspruch hinsichtlich der öffentlichen politischen Angelegenheiten erheben oder gar durchzusetzen vermögen.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass ein entwickeltes marktwirtschaftliches Wirtschaftssystem, marktbeschränkende und -korrigierende Mechanismen, sozialstaatliche Transfersysteme und Bildungsinstitutionen sowie eine vitale
Zivilgesellschaft als der Demokratie überaus zuträglich angesehen werden können
bzw. sogar vorausgesetzt werden müssen, dass sie aber keine definierenden Merkmale der Demokratie selbst sind. Dies gilt auch für Fragen sozialer Gerechtigkeit
und damit verknüpfte Umverteilungsmechanismen: Eine gerechtere Verteilung von
Vermögen und Einkommen zielt nicht direkt auf den Demokratiestatus einer Gesellschaft, wenngleich die Möglichkeiten der effektiven Wahrnehmung der Grundrechte
durch ihre Bürger davon beeinflusst sein können. Damit ist „soziale Gerechtigkeit“
nicht in die Demokratiedefinition mit aufzunehmen, als externe Ermöglichungsbedingung aber auch nicht vollends zu vernachlässigen. Ähnlich verhält es sich mit
einem gerechten Bildungssystem, durch dessen Institutionalisierung erst die Mög-
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lichkeiten einer faktischen Wahrnehmung formaler Individualrechte geschaffen
werden. Aber auch hier bleibt festzuhalten, dass solche Institutionen zwar wichtige
Voraussetzungen der Demokratie darstellen können, nicht aber Teil der demokratischen Kerndefinition sind.
Durch die Definition über seine formalen Institutionen zeigt sich das Modell der
Embedded Democracy als „realistisches“ Demokratiemodell. Es grenzt sich damit
deutlich von anspruchsvolleren, normativ aufgeladenen Demokratiemodellen ab und
erweist sich dadurch auch für eine empirische Analyse gut handhabbar. Durch die
Integration von partizipativen und rechtsstaatlichen Institutionen und Funktionsregeln schließt das Modell eine Lücke, die von den gängigen Minimaldefinitionen von
Demokratie offen gelassen wird und ermöglicht so eine theoretisch wie empirisch
fruchtbare Analyse.
2.1.3 Verfassungsgerichtsbarkeit und Embedded Democracy: Funktionales und
dysfunktionales Agieren
Ein analytischer Mehrwert der Betrachtung der Demokratie als ein System sich
wechselseitig stützender Teilregime liegt darin, dass hierdurch auch die Funktionen
der Verfassungsgerichtsbarkeit für das Funktionieren des Gesamtsystems Demokratie genauer bestimmt werden können. Die Definition der Demokratie als liberalrechtsstaatliche weist dem Verfassungsgericht schon grundsätzlich einen legitimen
Platz in diesem Modell zu. Durch die Unterscheidung unterschiedlicher Teilregime
lässt sich zudem das Wirken der Verfassungsgerichtsbarkeit hinsichtlich seiner Funktion für das Gesamtsystem interpretieren und analysieren. Systemtheoretisch gesprochen erfüllt eine funktionierende Verfassungsgerichtsbarkeit eine spezifische
Funktion für das Gesamtsystem Demokratie, die nur durch sie erbracht werden
kann. Gleichwohl lässt sich normativ wie empirisch untersuchen, wann und unter
welchen Umständen Verfassungsgerichte diese Aufgabe wie gut erfüllen: In normativ-demokratietheoretischer Hinsicht lassen sich abstrakte Aussagen darüber treffen,
wann Verfassungsgerichte ihre funktionalen Aufgaben für die Demokratie erfüllen
und wann nicht. In empirischer Hinsicht lässt sich konkret analysieren, in welchen
Teilbereichen der Demokratie sich Verfassungsgerichte als besonders starke Akteure
erweisen, wie wirksam sie tatsächlich agieren und ob Varianzen in unterschiedlichen
Teilbereichen der Demokratie bezüglich dieses Agierens festzustellen sind (etwa
bezogen auf unterschiedliche Politikfelder). Insbesondere lässt sich mit Hilfe des
Embedded-Democracy-Modells untersuchen, wie Verfassungsgerichte mit dem spezifischen Abgrenzungsproblem zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgerichtsbarkeit umgehen und welche Auswirkungen das Agieren der Gerichte auf das Funktionieren des Gesamtsystems Demokratie hat. In diesem Abschnitt soll zunächst nur die
grundlegende Idee demokratieadäquaten Agierens von Verfassungsgerichten vorgestellt werden, um die demokratietheoretische Dimension dieser Unterscheidung
zu verdeutlichen. Für die konkrete Kategorisierung von Verfassungsgerichtsent-
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Verfassungsgerichte sind machtvolle Akteure und zentrale Mitspieler in fast allen liberalen Demokratien. Gleichwohl wird ihre Demokratiekompatibilität mitunter in Frage gestellt, wenn sie – demokratisch vergleichsweise schwach legitimiert – in demokratische Prozesse intervenieren.
Der vorliegende Band analysiert die spezifischen Funktionen, die Verfassungsgerichte für demokratische Regierungssysteme erbringen und argumentiert, dass Verfassungsgerichte nicht nur keine Gegenspieler demokratischer Politik sind, sondern dass sie für demokratisches Regieren schlichtweg konstitutiv sind. Anhand einer umfassenden Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der letzten 55 Jahre wird empirisch belegt, dass das höchste deutsche Gericht in der Vergangenheit überaus demokratiefunktional agiert und damit wesentlich zur hohen Qualität der bundesdeutschen Demokratie beigetragen hat.
Sascha Kneip ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Demokratieforschung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).