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2 Notwendigkeit einer Reform der Kostenermittlung in Netzen
2.1 Zweckabhängigkeit jeder Kostenermittlung
"Different Costs for Different Purposes: An Illustrative Problem" – so lautet die
programmatische Überschrift eines Kapitels in J.M. Clarks wegweisenden Studies in
the Economics of Overhead Costs (vgl. Clark 1923: Kap. 9). In diesem Kapitel
schildert Clark in stilisierter Form den Lebenszyklus einer imaginären Fabrik. Im
Zeitablauf muss die Unternehmensführung neun typische Probleme lösen: • Soll die Fabrik überhaupt gebaut werden? • Falls die Fabrik gebaut wird: Wie groß soll sie dimensioniert werden? • Nach Inbetriebnahme: Gibt es zwischenzeitlichen Änderungsbedarf bei den
seinerzeit installierten und seitdem verwendeten Produktionsverfahren? • In welcher Höhe können Dividenden an die Kapitalgeber ausgeschüttet werden? • Inwieweit lassen sich Produktionsmenge und Gewinn durch Preissenkungen
erhöhen? • Inwieweit können Marktanteilsverluste an neue Mitbewerber durch Preissenkungen verhindert werden? • Soll die Fabrik in einer konjunkturschwachen Phase vorübergehend stillgelegt
werden? • Sollen zusätzlich Nebenprodukte in das Produktionsprogramm aufgenommen
werden, um die Auslastung während schwacher Phasen der Hauptprodukte zu
erhöhen? • Soll die Fabrik endgültig stillgelegt werden?
Bei der Lösung dieser Probleme ist die Unternehmensführung auf Kosteninformationen angewiesen. Es gilt als besonderes Verdienst der Studies von J.M. Clark (vgl.
Frank 1990: S. 156 und Riebel 1994: S. 431), die Zweckabhängigkeit dieser Kosteninformationen so nachdrücklich hervorgehoben zu haben:
"If there is a central thesis in this discussion it is this: that cost accounting has a number of
functions, calling for different, if not inconsistent, information. As a result, if cost accounting
sets out, determined to discover what the cost of everything is and convinced in advance that
there is one figure which can be found and which will furnish exactly the information which is
desired for every possible purpose, it will necessary fail, because there is no such figure. If it
finds a figure which is right for some purposes it must necessarily be wrong for others. The
conclusion is that cost accounting needs to develop an elastic technique of a sort which probably could best be described, not as accounting at all, but as cost analysis or cost statistics"
(Clark 1923: S. 234).
In der deutschsprachigen Literatur (vgl. Riebel 1994: S. 431) ist die Vorstellung von
der Zweckabhängigkeit der Kostenermittlung wesentlich von E. Schmalenbach geprägt worden:
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"Es hängt vom verfolgten Rechnungszweck ab, ob und in welchem Umfange der für betriebliche Leistungen erfolgte Güterverzehr als Kosten in Ansatz zu bringen ist. Die als Kosten bezeichnete Rechengröße ist also keine absolute Größe, die für alle Kostenrechnungszwecke
Gültigkeit hat, sondern sie schließt bereits den verfolgten Rechnungszweck in sich ein; der
Kostenbegriff ist zweckabhängig" (Schmalenbach 1963: S. 6).
Die Zweckabhängigkeit der Kostenermittlung führt zur Frage, ob und wie sich diese
Zwecke in allgemeiner Form benennen und klassifizieren lassen. Hilfreich für die
Analyse der Kostenermittlungszwecke in Netzsektoren ist die Klassifikation von J.
Weber (vgl. Abbildung 2.1).4
Abbildung 2.1: Klassifikation der Zwecke der Kostenermittlung
Quelle: Eigene Darstellung nach Weber (2005: S. 38-44)
Hinter den "aufgezwungenen" Rechnungszwecken stehen (aus Unternehmenssicht)
externe Bedürfnisse nach Kosteninformationen. Demgegenüber beruht die zweite
Klasse der fakultativen Rechnungszwecke i.e.S. auf internen Kosteninformationsbedürfnissen. In den nachfolgenden Abschnitten wird gezeigt, dass die von außen
"aufgezwungenen" Zwecke in den Netzsektoren vor der Liberalisierung deutlich
überwogen (Abschnitt 2.2), dass die Liberalisierung den ordnungspolitischen Kontext der Kostenermittlung grundlegend verändert hat (Abschnitt 2.3) und dass dadurch neue Kosteninformationsbedürfnisse entstanden sind, insbesondere für Zwecke der Planung, die zu einer Reform der Kostenermittlung zwingen (Abschnitt 2.4).
4 Schon Clark hat einen ersten Versuch in dieser Richtung unter der Überschrift "Ten Purposes
of Cost Accounting" unternommen (vgl. Clark 1923: S. 234-244). Da bei ihm jedoch die Unterscheidung zwischen internen und externen Kosteninformationsbedürfnissen noch keine besondere Rolle spielte, wird hier die in dieser Hinsicht deutlichere Klassifikation von Weber
(2005) verwendet.
Rechnungszwecke
"Aufgezwungene"
Rechnungszwecke
Fakultative
Rechnungszwecke i.e.S.
Bestandsbewertung
(externe Bilanz)
Preiskalkulation
(öffentliche Aufträge)
Regulierung
(Wettbewerbsbehörden)
Dokumentation
(Aufzeichnung/Nachweis)
Planung
(Entscheidungsorientierung)
Kontrolle
(Ist- vs. Plan-Größen)
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2.2 Zentraler Zweck der Kostenermittlung vor der Liberalisierung
Vor der Liberalisierung verfolgten die regulierten Netzunternehmen mit ihren Kostenrechnungswerken in erster Linie den Zweck, regulatorische Auflagen zu erfüllen
(vgl. Albach/Knieps 1997: S. 11). Die Zwecke wiederum, die von den Gesetzgebern
und Aufsichts- bzw. Regulierungsbehörden mit den eingeforderten Kosteninformationen verfolgt wurden, waren vielfältig: Überschussgewinne und Ressourcenverschwendung verhindern; Überlebensfähigkeit der regulierten Unternehmen nicht gefährden; Diskriminierung einzelner Konsumentengruppen verhindern; Gesamtkosten
möglichst fair und angemessen aufteilen; vorhandene Kapazitäten effizient nutzen;
Ersatz- und Erweiterungsinvestitionen bedarfsgerecht planen und durchführen; interne und/oder externe Subventionen auf das politisch Erwünschte beschränken etc.
(vgl. Jamison 2006: S. 2).
Dass die Erfüllung dieser externen Zwecke zur Kernfunktion unternehmerischer
Kostenermittlung werden konnte, ist nur im seinerzeitigen ordnungspolitischen
Kontext zu verstehen. Hier spielten zwei Entwicklungen eine wichtige Rolle. Zum
einen war die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit der Unternehmen durch vielfältige staatliche Gesetze und Verordnungen stark eingeschränkt; und wenn Unternehmen weniger zu entscheiden haben, ist ceteris paribus ihr (internes) Bedürfnis nach
entscheidungsunterstützenden Kosteninformationen geringer. Zum anderen gab es in
Gestalt einer Aufsichts- bzw. Regulierungsbehörde einen weiteren maßgeblichen
Entscheidungsträger, z.B. im Telekommunikationssektor in Deutschland:
"Unter Monopolbedingungen war die Deutsche Telekom im wesentlichen nur durch ein einziges Marktdatum kontrolliert: die gesamte Zahlungsbereitschaft für Telekommunikationsdienstleistungen. Die Kunden hatten nämlich praktisch nur die Wahl, auf Telekommunikationsdienstleistungen überhaupt zu verzichten oder die Preise und Konditionen der Deutschen Telekom zu akzeptieren. Die wichtigere Bedingung für den Geschäftserfolg war das Verhalten der
RegulatorenFn" (Engel/Knieps 1998: S. 67, Fußnotentext weggelassen).
Die Regulatoren entwickelten nach und nach eigenständige Bedürfnisse nach Kosteninformationen, so dass die internen Bedürfnisse schlussendlich von externen
dominiert wurden. Ein kurzer Rückblick in die Historie soll dies verdeutlichen.
Die traditionelle Regulierung von Netzindustrien kannte drei Eckpfeiler: a) Gesetzliche Marktzutrittsschranken sollten ineffiziente Kostenduplizierungen verhindern; b) kostenorientierte Preis- und Rentabilitätskontrollen sollten die Marktmacht
der aktiven Unternehmen beschränken; c) Kontrahierungszwang und interne und/oder externe Subventionen sollten eine flächendeckende Versorgung zu sozial erwünschten Tarifen ermöglichen (vgl. Knieps 2008a: S. 22).5 Jeder dieser drei Eckpfeiler hatte einen starken Kostenbezug und begründete einen spezifischen, dem
jeweiligen Zweck entsprechenden Bedarf an Kosteninformationen seitens des Regulierers. Um effiziente von ineffizienten Kostenduplizierungen unterscheiden zu
5 Illustrative Beispiele für die herausragende Bedeutung dieser drei Eckpfeiler in der Praxis
liefert die Regulierung der Telekommunikation in den USA und in Deutschland im 20. Jahrhundert (vgl. Knieps 1985: 51-77).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für die in liberalisierten Netzindustrien aktiven Unternehmen sind Kosteninformationen insbesondere bei Preis- und Investitionsentscheidungen von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus interessieren sich in zunehmendem Maße die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger für die Kosten der Netze, vor allem bei der Regulierung von Marktmacht und der Bestellung defizitärer Netzleistungen. Dies erfordert eine auf anerkannten ökonomischen Prinzipien basierende entscheidungsorientierte Kostenermittlung, die durchgängig und konsistent in allen Netzbereichen – seien sie nun wettbewerblich, reguliert oder subventioniert – anwendbar ist. Die vorliegende Habilitationsschrift will hierfür eine systematische methodische Grundlage legen.
Im Mittelpunkt steht die disaggregierte Ermittlung der Kapitalkosten. Es wird aufgezeigt, dass das Deprival value-Konzept bei der Kapitalkostenermittlung eine zentrale Rolle spielt. Darauf aufbauend wird ein analytischer Rahmen entwickelt, der das Zusammenspiel von Regulierung und Subventionierung (z.B. bei defizitären Eisenbahninfrastrukturen) normativ begründen kann.