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de.507 Seither sind Personen ab dem 10. Lebensjahr genauso strafrechtlich verantwortlich wie Erwachsene.
In Spanien wurde die Frage absoluter oder relativer Strafmündigkeit Jugendlicher
in der Entwurfsphase des Jugendgerichtsgesetzes ausgiebig diskutiert.508 Der Gesetzgeber hat sich mit dem Gesetz über die strafrechtliche Verantwortlichkeit Minderjähriger von 2001 für eine absolute Strafmündigkeit entschieden. Gemäß Art. 5 Abs. 1
JGG beurteilen sich Strafausschließungs- und Entschuldigungsgründe ausschließlich
nach dem allgemeinen Strafgesetzbuch.
Gleiches gilt für die Niederlande, wo mit der Jugendstrafrechtsreform von 1995
das Konzept der absoluten strafrechtlichen Verantwortlichkeit Jugendlicher verfolgt
wird.
7.3.3 Folgerungen für ein Europäisches Jugendstrafrecht unter besonderer
Berücksichtigung der internationalen Instrumente zur Jugendgerichtsbarkeit
Aus formal rechtsvergleichender Sicht spricht das Mehrheitsverhältnis für eine absolute Strafmündigkeit und gegen die Aufnahme einer bedingten Strafmündigkeit in ein
Europäisches Jugendstrafrecht. Lediglich fünf EU- Mitgliedsstaaten machen die Verantwortungsreife bei jungen Menschen im Vergleich zu Erwachsenen zu einer zusätzlichen Schuld- und Strafbarkeitsbedingung, was die Justizpraxis teilweise nicht praktiziert. Eine andere Beurteilung rechtfertigt auch nicht die Rechtsentwicklung in Europa, weil diese in entgegengesetzte Richtungen verläuft.
7.3.3.1 Notwendigkeit der Bestimmung des Alters der strafrechtlichen Verantwortlichkeit
Für ein unbedingtes Strafmündigkeitsalter lassen sich mehrere Gründe nennen: Rechtssicherheit und Gleichbehandlung werden nur damit „absolut“ gewährleistet. Arbeitsintensive, zeitraubende Persönlichkeitsbegutachtungen entfallen. Das Verfahren wird
beschleunigt, die Justiz entlastet (Verfahrensökonomie). Daneben werden in dem Konstrukt der relativen strafrechtlichen Verantwortlichkeit Gefahren einer „pädagogischen
Lücke“,509 einer „Selbstwertkränkung“510 und eines „Freibriefs“511 für Folgestraftaten
gesehen. Diese Gefahren bestehen allenfalls theoretisch. Es versteht sich von selbst,
dass dem Jugendlichen die Beendigung des Strafverfahrens wegen fehlender Verant-
507 Dazu Crofts ZStW 1999, 728 ff.
508 Dazu Higuera Guimerá, Derecho Penal Juvenil, 2003, S. 313 ff, der die deutsche Regelung für
überzeugender hält (S. 216).
509 Merguet MschrKrim 1958, 102.
510 So Schilling NStZ 1997, 265.
511 Bresser ZStW (74) 1962, 579 ff; Bresser 1965, S. 267 ff, 271, 272
111
wortungsreife in normverdeutlichender und vor allem pädagogisch einfühlsamer Art
und Weise zu erklären ist. Bei eventuellen Folgestraftaten wird die Verantwortungsreife neu, bei ähnlich gelagertem Vorwurf gegebenenfalls auch anders beurteilt.
Damit bleibt die Frage offen, ob die für eine absolute Strafmündigkeit sprechenden
Argumente der Rechtssicherheit, der Gleichbehandlung und der Verfahrensökonomie
mit dem wohlverstandenen Interesse des Kindes im Einklang stehen. Dieses ist auf
der Ebene der United Nations gemäß Art. 3 der Kinderrechtskonvention das Leitprinzip für alle Entscheidungen, die Personen unter 18 Jahren betreffen. Nach den
Mindestgrundsätzen der United Nations für die Jugendgerichtsbarkeit (Beijing-
Rules) ist „in Rechtssystemen, die den Begriff der Strafmündigkeit Jugendlicher kennen, das Alter nicht zu niedrig anzusetzen, da hierbei die Entwicklung der emotionalen, seelischen und geistigen Reife berücksichtigt werden muss“.512 Der of? zielle
Kommentar führt dazu aus: „Nach modernem Verständnis hätte man sich zu fragen,
ob ein Kind die sittlichen und geistigen Voraussetzungen für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit erfüllt, d.h. ob es über die nötige Reife und Einsicht verfügt, um für
ein wesentlich sozialschädliches Verhalten zur Verantwortung gezogen werden zu
können“.513 Der Wortlaut der Regel und des Kommentars scheint sich aufgrund des
Relativpronomens „da“ und wegen der differenzierten Verwendung der Begriffe „Jugendlicher“ und „Kind“ lediglich auf die „absolute“ Notwendigkeit einer Strafmündigkeitsgrenze zu beziehen. Bei der Anwendung internationaler Instrumente ist aber
auf den Wortlaut weniger Gewicht zu legen als beispielsweise bei rein innerstaatlichen
Gesetzen.514 Sinn und Zweck lassen eine Interpretation zu, die über den Wortlaut hinausgeht. Die Zitate illustrieren nämlich, dass jene Rücksichtname auf „Reife“ gegebenenfalls dazu führt, das Eintrittsalter in die strafrechtliche Verantwortlichkeit zu
„relativieren“.515
Auf der Ebene des Europarats nennt die aktuellste Empfehlung (Rec. No. 2003
20) zu neuen Wegen im Umgang mit Jugenddelinquenz und der Rolle der Jugendgerichtsbarkeit die Relativierung als „neue Antwort“ in Ziffer 9: „Der Grad der
Schuld sollte mehr im Zusammenhang mit dem Alter und der Reife des Straftäters gesehen werden und stärker seinem Entwicklungsstand entsprechen, da die strafrechtlichen Maßnahmen fortschreitend entsprechend der Entwicklung der individuellen Verantwortlichkeit angewandt werden“. Im Explanatory Memorandum zu Ziffer 9 führt
der Europarat aus, dass das Alter für sich allein ein „rohes“ und „inakkurates“ Kriterium zur Festsetzung der Reife und damit der Schuldfähigkeit eines jungen Straftäters
sei.516
512 Beijing-Rule 4.1.
513 ZStW 1987, 260.
514 S. oben Kap. 2.4.
515 Im Ergebnis ebenso Schüler-Springorum DVJJ-Journal 2001, 418 („Flexibilisierung“).
516 Explanatory Memorandum, S. 17: „Age ist a crude and sometimes inaccurate mechanism for
establishing a young offender´s maturity and hence culpability.“
112
7.3.3.2 Implementierung einer relativen strafrechtlichen Verantwortlichkeit
Daraus folgt, dass das Erreichen des Alters der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für
Jugendliche – entgegen der Rechtslage in den meisten EU-Mitgliedsstaaten – nicht
bedeuten kann, dass sich die Schuldfähigkeit von nun an wie bei Erwachsenen beurteilt. Wegen ihrer größeren Verwundbarkeit benötigen sie zusätzliche prozessuale
Schutzmechanismen.517 Einen derartigen Schutzmechanismus liefert die Konstruktion
der relativen strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Sie re? ektiert differenzierte Entwicklungsstadien und bestimmt die Schuldfähigkeit eines Jugendlichen individuell und
anders als bei Erwachsenen. Eine solche Vorgehensweise bezeichnet der Europarat für
ein Jugendstrafrechtssystem als „ideal“.518
Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass eine bedingte Strafmündigkeit den Vorgaben der internationalen Instrumente zur Jugendgerichtsbarkeit mehr entspricht als
eine absolute. In Verbindung mit der Priorität des Kindeswohls (Art. 3 KRK) bedeutet
das, dass die allgemeinen Gründe der Rechtssicherheit, der Verfahrensökonomie und
der Gleichbehandlung hinter die besonderen Interessen des Kindes zurücktreten, zumal in der Rechtsanwendung nie ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz
liegen könnte, weil die Entwicklung bei jedem Menschen anders verläuft.
Für die Aufnahme einer relativen Strafmündigkeit spricht auch, dass ein Europäisches Jugendstrafrecht damit kein Leitbild für seinen Einsatz als letztes Mittel der
Sozialkontrolle ausspricht, sondern die Entscheidung offen lässt („relative Strafbarkeit“519). Eine relative Strafmündigkeit korreliert in besonderem Maße mit dem
Hauptziel eines Europäischen Jugendstrafrechts:520 Im Sinne der positiven Spezialprävention wird auf (strafende) Sanktionierung verzichtet, weil diese bei mangelnder
Verantwortungsreife nicht nur sinnlos, sondern schädlich wäre. Hier bedeutet Verzicht
nicht eine Verharmlosung oder Tolerierung der Tat, sondern die Respektierung der
Grenzen des Strafrechts.521 In diesem Zusammenhang würde eine Bestrafung auch
dem europaweiten, in Art. 6 Abs. 2 EMRK und Art. 40 Abs. 2 b i KRK verankerten
Schuldprinzip widersprechen. Auch mit einem (europäischen) Jugendstrafrecht wird
eine moralische Missbilligung der Tat ausgesprochen, die dem jungen Täter zugerechnet wird. Die Zurechnung setzt Schuld- bzw. Verantwortungsfähigkeit voraus, von der
bei Jugendlichen ohne Einzelfallprüfung nicht ausgegangen werden kann.
Die relative strafrechtliche Verantwortlichkeit kann zu einer echten Umgehung des
Strafverfahrens und Schuldspruchs nebst etwaiger Strafmaßnahmen führen. Damit
bildet sie die Grundlage zur „Entkriminalisierung“, „Entpoenalisierung“ und „Entjus-
517 Wie hier Explenatory Memorandum, S. 17: (Young offenders) „… are more vulnerable in the
face of the power of the state´s criminal law than adults and need additional procedural safeguards.“
518 Explanatory Memorandum, S. 17: „Ideally, the juvenile justice system should re? ect different
levels of maturity by assessing the culpability of each and every juvenile on an individual
basis.“
519 Ostendorf, JGG 2007, § 3 Rn. 3.
520 S. dazu Kap. 7.1.2.
521 Wie hier Ostendorf, JGG 2007, § 3 Rn 12.
113
tizialisierung“, wie es der Europäische Parlamentsbericht über Jugenddelinquenz
für moderne legislative Maßnahmen auf der Ebene der Europäischen Union verlangt.522
Um diesen modernen Grundannahmen Rechnung zu tragen, muss die Prüfung der
strafrechtlichen Verantwortlichkeit früh im Verfahren vorgenommen werden. Mithin
ist der Jugendstaatsanwaltschaft bei Anklage und dem Jugendgericht bei Verurteilung
eine Prüfp? icht der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und im Fall ihrer Annahme
eine Begründungsp? icht aufzuerlegen. Die Beurteilung hat sich daran auszurichten,
ob der Jugendliche zur Zeit der Tat nach dem Stand seiner Entwicklung in der Lage
war, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Letzteres
hat angesichts zunehmender Verführungssituationen (Internet, Selbstbedienungsläden,
massenmediale Werbung), denen Kinder und Jugendliche immer stärker ausgesetzt
werden, eine eigenständige Bedeutung. Das einseitige Abstellen lediglich auf die kognitive Seite (Unterscheidungsfähigkeit zwischen Recht und Unrecht), was beispielsweise mit der doli-incapax-Regel in England der Fall war, wäre jugendkriminologisch
verfehlt.523
7.3.3.3 Schlussfolgerungen
Die zwei Beurteilungskriterien der Einsichts- und Handlungsfähigkeit sollten in einem
Europäischen Jugendstrafrecht so konkretisiert werden, dass bereits der Gesetzeswortlaut jugendtypische Besonderheiten berücksichtigt. Das liegt daran, dass der Mehrzahl
der EU-Rechtsordnungen das Konzept der relativen strafrechtlichen Verantwortlichkeit junger Menschen (noch) unbekannt ist. Die Normanwendung wird so einfacher
und gleichmäßiger.
Bei der Einsichtsfähigkeit wird es darauf ankommen müssen, ob die Unrechtstaten
in der Lebenswelt des Jugendlichen beheimatet sind oder sich für ihn lebensfremd
darstellen.524 Jugendlichen mangelt es typischer Weise an einer gesamtgesellschaftlichen Orientierung, die über den eigenen, engeren Lebensraum hinausgeht. Das hat für
Taten gegen rein gesellschaftliche Rechtsgüter Bedeutung. Ihrem Alter entsprechend
fehlt bei Jugendlichen oft die Einsicht ob der rechtlichen oder tatsächlichen Zusammenhänge. So werden aufgrund fehlender Kenntnisse rechtliche Zusammenhänge
nicht gesehen (z.B. Tausch von Musik und Filmen im Internet als Urheberrechtsverletzung, Quali? zierung einer Spielzeugpistole als Waffe) oder aufgrund noch kindlicher Einstellung strafrechtlich geschützte Rechtsgüter verletzt (z.B. kindliche Rauferei
als Körperverletzung525).
Nicht selten entspringen Handlungen jugendlicher emotionaler Spontaneität, weshalb die Wahrnehmung des Richtigen und die Tat des Richtigen divergieren können.526
522 Bericht über Jugenddelinquenz (2007/2011 (INI)), Ziffer 19.
523 Ebenso Dünkel RdJB 1999, 298; zur doli-incapax-Regel s. oben Kap. 7.3.2.
524 Dazu und zum Folgenden Ostendorf, Jugendstrafrecht, 2007, Rn. 35.
525 Beispiel von Ostendorf, JGG 2007, § 3 Rn 9.
526 Ostendorf, JGG 2007, § 3 Rn 10.
114
Anders als bei Erwachsenen, ist von Jugendlichen nicht grundsätzlich zu erwarten,
dass sie beherrschenden Ein? üssen ihrer Umwelt – wie Gruppendruck in der peer
group, Beein? ussung durch Autoritätspersonen oder Ein? üsse durch die Medien – widerstehen. Vielmehr ist davon auszugehen das Jugendlichen vielfach die Handlungsfähigkeit in besonderer Weise fehlt.527
Mithin sollte ein Europäisches Jugendstrafrecht einen persönlichen strafjustiziellen
Schonraum für Jugendliche auf folgende Weise schaffen:
7.3.4 Normbefehl eines Europäischen Jugendstrafrechts
In einem Europäischen Jugendstrafrecht ist eine relative strafrechtliche Verantwortlichkeit Jugendlicher zu konstituieren, die von der Jugendstaatsanwaltschaft und dem
Jugendgericht geprüft werden muss. Als Normbefehl kommt in Betracht:
„Ein Jugendlicher ist strafrechtlich nur verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat
nach dem Stand seiner Entwicklung in der Lage war, das Unrecht der Tat einzusehen
und nach dieser Einsicht zu handeln.
Die Einsichtsfähigkeit liegt in der Regel nicht vor, wenn die Straftat Rechtsgüter
gefährdet oder verletzt, deren Schutzwürdigkeit alterstypisch nicht erkannt wurde oder
wenn sie Ausdruck einer kindlichen Einstellung war.
Die Handlungsfähigkeit kann insbesondere fehlen, wenn der Jugendliche die Tat
unter dem beherrschenden Ein? uss anderer oder in einer vergleichbaren Kon? iktsituation begangen hat.“528
7.4 Soll ein persönlicher strafjustizieller Schonraum für die Jungerwachsenenphase geschaffen werden?
In ganz Europa hat sich die Phase der Adoleszenz in den letzten Jahrzehnten verlängert, was nach den Materialien des Europarats529 und des Europäischen Parlaments530
auf einen drastischen Wandel der Lebensverhältnisse wie der Lebenswelten junger
Menschen zurückzuführen ist. Angeführt werden Veränderungen im sozialen Umfeld
durch zerrüttete Familienstrukturen sowie ein europaweiter Anstieg der Armut.531
Hingewiesen wird auf die schwierige Arbeitsmarktlage, den Anstieg der Arbeitslosigkeit. Bezug genommen wird auf einen Anstieg psycho-sozialer Auffälligkeiten und
eine wachsende Drogenproblematik bei jungen Menschen. Mit Blick auf die Lebenswelten werden die europäischen Gesellschaften als „Risikogesellschaft“, „Konsumge-
527 Zweite Jugendstrafrechtsreform-Kommission der DVJJ, DVJJ-Journal Extra Nr.5, 2002, S. 22.
528 Vgl. Gesetzeswortlautsvorschlag der Zweiten Jugendstrafrechtsreform-Kommission der DVJJ
in DVJJ Extra Nr. 5, 2000, S. 23.
529 S. insbesondere Europarat, Explanatory Memorandum 2003.
530 S. insbesondere Parlamentsbericht (2007/2011(INI)).
531 Dazu und zum Folgenden Parlamentsbericht (2007/2011(INI)), Buchstabe F.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Jugendstrafrechtssysteme in Europa sind sehr verschieden. Anhand des Rechtsvergleichs und der Rechtsentwicklung in der EU und mittels der Völkerrechtsinstrumente zur Jugendgerichtsbarkeit formuliert der Autor Elementarteile eines Europäischen Jugendstrafrechts. Behandelt werden:
• Konzeption und Zielsetzung
• Alter und Prüfung der Strafbarkeit
• der Umgang mit jungerwachsenen Tätern
• Diversion und Entkriminalisierung
• der Sanktionskatalog nebst Freiheitsentzug
Neben einer Analyse von Trends in der Jugendkriminalität und kriminologischer Erklärungsansätze werden die Wünschbarkeit und Zweckmäßigkeit einer gemeineuropäischen Rahmenstrategie im Jugendstrafrecht erörtert sowie Harmonisierungswege für die europäische Integration aufgezeigt.
Die Arbeit bündelt verstreute Reformansätze auf nationaler und internationaler Ebene zu einem neuen Anlauf. Sie hilft, eine zeitgemäße und angemessene Reaktion auf die verschiedenen Formen der Jugenddelinquenz zu erarbeiten. Sie richtet sich an Wissenschaftler, Politiker und Praktiker im Jugendrecht.
Der Autor war Doktorand und Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention der Christian-Albrechts-Universität Kiel.