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der Erwachsenenstrafgerichtsbarkeit fortschreitend auf unionsweit einheitliche Standards geeinigt wird, dürften ein Annäherungsprozess in der Jugendstrafjustiz auf weitaus geringere Schwierigkeiten und Vorbehalte stoßen.
Selbst wenn man von einer inhaltlich grundlegenden Unvereinbarkeit beispielsweise des einspurig wohlfahrtsrechtlichen Modells mit jugendstrafjustiziellen Systemen
ausgehen würde, so eröffnen die Art. 40, 43 EUV einer Gruppe von mehr als der Hälfte der Mitgliedsstaaten die Möglichkeit, untereinander eine weitergehende Integration
zu begründen, der sich die übrigen Mitgliedsstaaten jederzeit anschließen können. Das
in Art. 40 EUV verlangte Mehrheitskriterium ist bei einem Verhältnis von 25 Mitgliedsstaaten zu 2 mehr als erreicht. Zu bedenken ist jedoch, dass durch ein „Europa
der zwei Geschwindigkeiten“ das Ziel eines unionsweiten Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gerade nicht erreicht wird.
Insoweit bergen das Einstimmigkeitserfordernis und die „dritte Säule“ der EU sogar erhebliche Vorteile. Die Arbeit der dritten Säule ist im Kern völkerrechtlich und
vor allem intergouvernemental angelegt. Es gibt mithin kein hierarchisches Über-/
Unterordnungsverhältnis zwischen den Mitgliedsstaaten und der Union. Die Akteure
der Zusammenarbeit sind die Mitgliedsstaaten selbst; sie und nicht die Gemeinschaft
oder die Union sind das Zurechnungsobjekt der Zusammenarbeit. Wird ein Europäisches Jugendstrafrecht also in der dritten Säule von den Mitgliedsstaaten als gleichberechtigte Akteure gemeinsam erarbeitet, könnten sich alle damit identi? zieren und
niemand würde einem kriminalpolitischen Diktat der EU untergeordnet werden.
6.6 Rechtlicher Rahmen der Jugendstrafrechtsangleichung
Der rechtliche Rahmen eines Europäischen Jugendstrafrechts wird von drei Faktoren
bestimmt: von den Ermächtigungsnormen der Art. 29, 31 Abs. 2 c, e EUV iVm 34
Abs. 2 b EUV, von den bereits existierenden internationalen Instrumenten, die allesamt als Mindeststandards verstanden werden, und von den bestehenden Regelungen
der Mitgliedsstaaten zur Jugendgerichtsbarkeit.
Die Ermächtigungsnormen der Art. 29, 31 Abs. 2 c, e EUV bieten eine breite Palette an möglichen Regelungsinhalten. Mit diesen kann ein Europäisches Jugendstrafrecht in einem ersten Schritt des Rahmenbeschlusses sowohl prozessuale Fragen, als
auch materielle Problembereiche regeln. Art. 31 Abs. 2 c EUV bezieht sich insbesondere auf die Angleichung des Strafprozessrechts in den Mitgliedsstaaten. Das zeigen
der Rahmenbeschluss „über die Stellung des Opfers im Strafverfahren“300 und der
Rahmenbeschlussvorschlag „über bestimmte Verfahrensrechte in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union“301. Beide sind auf Art. 31 Abs. 2 c EUV gestützt.
Über den „materiellen“ Art. 31 Abs. 2 e EUV können gemeinsame De? nitionen –
etwa über die Zielbestimmung des Jugendstrafrechts – festgelegt werden; ferner kön-
300 ABlEG 2001, Nr. L 82, S. 1.
301 KOM (2004) 328 endg..
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nen Sanktionsvorgaben, Vorgaben über die Verantwortlichkeit, über das Strafanwendungsrecht im Sinne des sachlichen Anwendungsbereichs und über strafzumessungsrelevante Umstände gemacht werden.
Wenn ein Europäisches Jugendstrafrecht überfrachtet wird, dann ist es nicht zuletzt
aufgrund der Staatensouveränität problematisch, eine unionsweite Anerkennung zu
? nden. Von daher sind in einem ersten Schritt der Annäherung aus den „Kernelementen“ der internationalen menschenrechtlichen Vorgaben und aus den Leitgedanken der
nationalstaatlichen Vorschriften die Grundannahmen herauszu? ltern, das „richtige
Recht“ zu ermitteln und dieses hinsichtlich der „verletzlichen Flanken“302 verbindlich
zu machen. Wegen dieser Beschränkung auf Grundfragen ist zu betonen, dass eine
Angleichung nach dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners, das auch die
punitiv-strengste Regelung mitberücksichtigen würde, ausscheidet. In dieser Hinsicht
hat ein Europäisches Jugendstrafrecht unter dem Dach der Europäischen Union über
den Charakter von Mindeststandards hinauszugehen.
302 Hassemer ZJJ 2004, 348.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Jugendstrafrechtssysteme in Europa sind sehr verschieden. Anhand des Rechtsvergleichs und der Rechtsentwicklung in der EU und mittels der Völkerrechtsinstrumente zur Jugendgerichtsbarkeit formuliert der Autor Elementarteile eines Europäischen Jugendstrafrechts. Behandelt werden:
• Konzeption und Zielsetzung
• Alter und Prüfung der Strafbarkeit
• der Umgang mit jungerwachsenen Tätern
• Diversion und Entkriminalisierung
• der Sanktionskatalog nebst Freiheitsentzug
Neben einer Analyse von Trends in der Jugendkriminalität und kriminologischer Erklärungsansätze werden die Wünschbarkeit und Zweckmäßigkeit einer gemeineuropäischen Rahmenstrategie im Jugendstrafrecht erörtert sowie Harmonisierungswege für die europäische Integration aufgezeigt.
Die Arbeit bündelt verstreute Reformansätze auf nationaler und internationaler Ebene zu einem neuen Anlauf. Sie hilft, eine zeitgemäße und angemessene Reaktion auf die verschiedenen Formen der Jugenddelinquenz zu erarbeiten. Sie richtet sich an Wissenschaftler, Politiker und Praktiker im Jugendrecht.
Der Autor war Doktorand und Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention der Christian-Albrechts-Universität Kiel.