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6. Kapitel: Machbarkeit eines Europäischen Jugendstrafrechts
Den Überlegungen zur Machbarkeit eines Europäischen Jugendstrafrechts unter dem
Dach der Europäischen Union kann sich auf zweierlei Weise genähert werden: über
den Gründungsvertrag der Europäischen Gemeinschaft und über den (Gründungs-)
Vertrag der Europäischen Union.
Teil 3 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) regelt
„die Politiken der Gemeinschaft“. Darin ist Titel XI mit „Sozialpolitik, allgemeine und
beru? iche Bildung und Jugend“ überschrieben (Art. 136 – 150 EGV).
Titel VI des Vertrags über die Europäische Union (EUV) betrifft die „Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“ (Art. 29 – 42
EUV).
Bei der Lektüre allein der Titelüberschriften fällt auf, dass jeweils entweder der
Begriff „Jugend“ oder derjenige der „Strafsache“ fehlt. Darin könnte der Grund liegen,
warum das Jugendstrafrecht innerhalb der europäischen Integration bis heute keine
Rolle spielt. Daher ist fraglich, ob sich überhaupt Kompetenznormen zur Entwicklung
eines Europäischen Jugendstrafrechts ? nden lassen. Die Unterscheidung zwischen
Gemeinschaftsrecht und Unionsrecht ist dabei fundamental. Denn die damit verknüpften Begrif? ichkeiten der Supranationalität versus Intergouvernementalität ziehen je
nachdem eine enge oder weite Vertragsauslegung nach sich.
6.1 Unterscheidung zwischen Gemeinschaftsrecht und Unionsrecht –
das „Säulenmodell“
Die Europäische Union und ihr Recht kann als „Tempel-/Säulenmodell“ veranschaulicht werden.266 Die Europäische Union selbst ist das Tempeldach, welches von drei
Säulen getragen wird. Die erste und solideste Säule besteht aus dem Recht der Europäischen Gemeinschaft, dem „Gemeinschaftsrecht“. Kennzeichnend für das Gemeinschaftsrecht ist dessen „Supranationalität“. Das bedeutet: Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften haben die Mitgliedsstaaten auf eigene Souveränitätsrechte
verzichtet und eine eigenständige Rechtsordnung mit autonomer Hoheitsgewalt und
eigenen Organen267 geschaffen. Rechtsakte der EG – das sind in der Hauptsache Verordnungen und Richtlinien268 – in den zugedachten Politikbereichen269 gelten in den
Mitgliedsstaaten unmittelbar, besitzen im Kon? iktfall Vorrang vor nationalem Recht
und können den Einzelnen unmittelbar berechtigen oder verp? ichten – so genannte
266 Ambos/ Rackow Jura 2006, 506.
267 Art. 189 ff EGV.
268 Art. 249 EGV.
269 Art. 2 – 4, 23 – 181 EGV.
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„Durchgriffswirkung“. Das Gemeinschaftsrecht bedarf zu seiner Entstehung nicht der
Mitwirkung der Mitgliedsstaaten; es kann sogar gegen den Willen eines Mitgliedslandes erlassen werden, wenn dieses von der Mehrheit der übrigen Mitgliedsstaaten überstimmt wird. Der supranationale Charakter wird nur dem Gemeinschaftsrecht der ersten Säule zuerkannt.
Die zweite und die dritte Säule der EU sind in den Titeln V und VI des Vertrags über
die Europäische Union verankert, dem „Unionsrecht“. Dieses verp? ichtet die Mitgliedsstaaten zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie zu einer
Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen. Kennzeichnend für das
Unionsrecht ist dessen „Intergouvernementalität“. Das bedeutet: Speziell die in der
dritten Säule der EU festgelegte Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen bewegt sich – trotz einer gewissen „Entwicklungsoffenheit“ – auf klassisch
völkerrechtlichem Terrain. Die Mitgliedsstaaten sind souverän. Unmittelbar anwendbare Rechtsakte können nicht geschaffen werden. Denn das setzt die Supranationalität
der Rechtsakte – wie zum Beispiel der gemeinschaftsrechtlichen Verordnung gemäß
Art. 249 Abs. 2 EGV – voraus, die jedoch mangels Souveränitätsverzicht nicht gegeben ist. Der Souveränitätsvorbehalt wird am Merkmal der Einstimmigkeit offensichtlich; diese ist zum Erlass von Rechtsakten innerhalb der dritten Säule zwingend.270
Ausgehend von dieser unterschiedlichen Charakterisierung der beiden Unionssäulen gilt es, die Machbarkeit und Zulässigkeit eines Europäischen Jugendstrafrechts zu
untersuchen.
6.2 Jugendkriminalität und Jugendstrafrecht als Politikbereiche
der „ersten Säule“ (EGV)
Im Bereich der Sozial-, Berufs-, Bildungs- und Jugendpolitik271 verfolgen die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten gemäß Art. 136 EGV unter anderem die Ziele
einer Verbesserung der Lebensbedingungen, eines angemessenen sozialen Schutzes
und der Bekämpfung von Ausgrenzung. Nach Art. 137 EGV unterstützt und ergänzt
die Gemeinschaft zur Verwirklichung der Ziele die Tätigkeit der Mitgliedsstaaten unter anderem auf den Gebieten der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung und der Modernisierung der Systeme des sozialen Schutzes (Art. 137 Abs. 1 j, k EGV). Der
Schwerpunkt liegt auf Eingliederung und Schutz in Arbeit (Art. 137 Abs. 1 a – i
EGV).
Unter teleologischer Berücksichtigung der Jugendgerichtsbarkeit als förmlichen
Teil eines umfassenden Gesamtantwortkonzeptes auf Jugenddelinquenz272 und unter
Bezugnahme auf die international anerkannten Ursachen von Jugendkriminalität273
270 Art 34 Abs. 2 EUV; ausführlich dazu unten Kap. 6.5.3.
271 S. Teil 3, Titel XI EUV.
272 So die Europaratsempfehlung Rec. No. (2003) 20 zu neuen Wegen im Umgang mit Jugenddelinquenz und der Rolle der Jugendgerichtsbarkeit, Abschnitt I.
273 S. oben, Kap. 3.1.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Jugendstrafrechtssysteme in Europa sind sehr verschieden. Anhand des Rechtsvergleichs und der Rechtsentwicklung in der EU und mittels der Völkerrechtsinstrumente zur Jugendgerichtsbarkeit formuliert der Autor Elementarteile eines Europäischen Jugendstrafrechts. Behandelt werden:
• Konzeption und Zielsetzung
• Alter und Prüfung der Strafbarkeit
• der Umgang mit jungerwachsenen Tätern
• Diversion und Entkriminalisierung
• der Sanktionskatalog nebst Freiheitsentzug
Neben einer Analyse von Trends in der Jugendkriminalität und kriminologischer Erklärungsansätze werden die Wünschbarkeit und Zweckmäßigkeit einer gemeineuropäischen Rahmenstrategie im Jugendstrafrecht erörtert sowie Harmonisierungswege für die europäische Integration aufgezeigt.
Die Arbeit bündelt verstreute Reformansätze auf nationaler und internationaler Ebene zu einem neuen Anlauf. Sie hilft, eine zeitgemäße und angemessene Reaktion auf die verschiedenen Formen der Jugenddelinquenz zu erarbeiten. Sie richtet sich an Wissenschaftler, Politiker und Praktiker im Jugendrecht.
Der Autor war Doktorand und Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention der Christian-Albrechts-Universität Kiel.