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Das wirft die Frage auf, wie das Phänomen der Jugendkriminalität insbesondere
innerhalb der Europäischen Union beschrieben werden kann.120
2.4 Rechtscharakter und Auslegung der internationalen Instrumente
Alle internationalen Instrumente zur Jugendgerichtsbarkeit sind allgemein gehalten
und geben (auch) Einblick in das Problem, im Bereich des Jugendstrafrechts international gleichermaßen akzeptierte Standards zu setzen. Deutlich wird das an Beijing-
Rule 1.5, wonach die Mindestgrundsätze für die Jugendgerichtsbarkeit „entsprechend
den in den einzelnen Mitgliedsstaaten gegebenen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen zu verwirklichen“ sind. Nach Riyadh-Guideline 8 soll sich „die
Anwendung der Richtlinien für die Prävention von Jugendkriminalität einfügen in die
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse der einzelnen Mitgliedsstaaten“. Nach Havana-Rule 16 sollen die Regeln zum Schutz von Jugendlichen unter
Freiheitsentzug „im Rahmen der in jedem Mitgliedsstaat vorherrschenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen in die Praxis umgesetzt werden“. Derartige „saving clauses“ (Vorbehaltsklauseln) relativieren viele verbindlich klingende
Vorgaben.
Überhaupt haben die internationalen Instrumente mit Ausnahme der Kinderrechtskonvention nicht den Charakter zwingenden internationalen Rechts. Bei ihnen handelt
es sich um so genanntes „soft-law“, also „weiches Recht“, mit dem Empfehlungen
ausgesprochen werden für eine menschenrechtliche Vorgaben achtende Ausgestaltung
der Jugendgerichtsbarkeit. Für die Dokumente des Europarats ergibt sich das bereits
aus dem instrumentalen Wortlaut „Empfehlung“. Für die Dokumente der United Nations folgt das daraus, dass keine Transformation, also keine Umsetzung in nationales
Recht vorgesehen ist. Allein der Umstand, dass sie die UN-Generalversammlung verabschiedet hat, macht sie nicht zu allgemeinen Regeln des Völkerrechts. An der Rati-
? kation lässt sich der Unterschied zur UN-Kinderrechtskonvention festmachen. Sie
wurde mit Ausnahme der USA und Somalias von allen Staaten der Welt rati? ziert,121
was sie zu völkerrechtlichem „hard-law“, also zwingendem Recht macht. Sie zwingt
die Vertragsstaaten zur Anpassung des nationalen Rechts.122
Auch wenn die Empfehlungen, Rules und Richtlinien rechtlich nicht binden, sind
es Völkerrechtsdeklarationen, denen die übergeordneten Funktionen der Harmonisierung und Humanisierung zuzuweisen sind.123 Damit stehen alle Instrumente unter dem
Aspekt der Humanität, der Menschlichkeit, der Menschenrechte.
Zieht man die internationalen Instrumente zum Vergleich heran, so kommt bei deren Auslegung, anders als bei innerstaatlichen Gesetzen, dem starren Wortlaut weniger
120 Dazu unten Kap. 3.
121 Von der Bundesrepublik Deutschland am 5.4.1992.
122 Kiessl, Die Regelwerke der Vereinten Nationen zum Jugendstrafrecht in Theorie und Praxis,
2001, S. 81 f; Baer NJW 1993, 2209 f.
123 Im Ergebnis auch Jung in: FS für Kaiser, hrsg. von Albrecht, 1998, S. 1047 ff.
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Bedeutung zu. Vielmehr verlangt Art. 31 Abs. 1 der Wiener Vertragsrechtskonvention
einen völkerrechtlichen Vertrag „nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit den
gewöhnlichen seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutungen und im Lichte seines Ziels und Zwecks“124 auszulegen. Dabei ist die Auslegung unabhängig der von der jeweiligen nationalen Rechtsordnung verwandten Begriffe durchzuführen. Es handelt sich dabei um eine Maßgabe, deren Sinn sich gerade
in der Unterschiedlichkeit der Rechtssysteme erschließt. Während Art. 31 Abs. 1 der
Wiener Vertragsrechtskonvention auf die Kinderrechtskonvention als „hard-law“ direkt anzuwenden ist, wird er für die „soft-law“ Dokumente analog heranzuziehen
sein.
Unter diesen Gesichtspunkten ist besonders auf die Rechtsentwicklung in Deutschland hinzuweisen:
Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 31.5.2006
zum Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für den Jugendstrafvollzug die Bedeutung internationaler Vorgaben ausdrücklich angesprochen:125 „Auf eine den grundrechtlichen Anforderungen nicht genügende Berücksichtigung vorhandener Erkenntnisse oder auf eine den grundrechtlichen Anforderungen nicht entsprechende Gewichtung der Belange … kann es hindeuten, wenn völkerrechtliche Vorgaben oder
internationale Standards mit Menschenrechtsbezug, wie sie in den im Rahmen der
Vereinten Nationen oder von Organen des Europarates beschlossenen einschlägigen
Richtlinien und Empfehlungen enthalten sind …, nicht beachtet beziehungsweise unterschritten werden“.126
Mit dieser „Indizkonstruktion“ hat das Bundesverfassungsgericht die völkerrechtlichen Vorgaben und internationalen Instrumente zur Jugendgerichtsbarkeit aus ihrer
praktischen Unverbindlichkeit herausgehoben, ihren Verbindlichkeitsgrad deutlich gesteigert.
Der Leitgedanke des Bundesverfassungsgerichts wiegt im Hinblick auf die Entwicklung eines Europäischen Jugendstrafrechts umso schwerer, bedenkt man, dass es
sich bei den internationalen Instrumenten allesamt um Minima – um „Standard Minimum Rules“ – handelt, also um den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den man sich
unter sehr verschiedenen Staaten hat einigen können.
124 BGBl. 1985 II, 927
125 BVerfG, Urt. V. 31.05.2006 – 2 BvR 1673/04 u. 2 BvR 2402/04; abgedruckt in NJW 2006, 2093
ff.
126 BVerfG NJW 2006, 2097.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Jugendstrafrechtssysteme in Europa sind sehr verschieden. Anhand des Rechtsvergleichs und der Rechtsentwicklung in der EU und mittels der Völkerrechtsinstrumente zur Jugendgerichtsbarkeit formuliert der Autor Elementarteile eines Europäischen Jugendstrafrechts. Behandelt werden:
• Konzeption und Zielsetzung
• Alter und Prüfung der Strafbarkeit
• der Umgang mit jungerwachsenen Tätern
• Diversion und Entkriminalisierung
• der Sanktionskatalog nebst Freiheitsentzug
Neben einer Analyse von Trends in der Jugendkriminalität und kriminologischer Erklärungsansätze werden die Wünschbarkeit und Zweckmäßigkeit einer gemeineuropäischen Rahmenstrategie im Jugendstrafrecht erörtert sowie Harmonisierungswege für die europäische Integration aufgezeigt.
Die Arbeit bündelt verstreute Reformansätze auf nationaler und internationaler Ebene zu einem neuen Anlauf. Sie hilft, eine zeitgemäße und angemessene Reaktion auf die verschiedenen Formen der Jugenddelinquenz zu erarbeiten. Sie richtet sich an Wissenschaftler, Politiker und Praktiker im Jugendrecht.
Der Autor war Doktorand und Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention der Christian-Albrechts-Universität Kiel.