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II. Das methodische Vorgehen – Hermeneutik als Unterstützung in
Verstehensprozessen
Von tausend Erfahrungen, die wir machen, bringen
wir höchstens eine zur Sprache, und auch diese bloß
zufällig und ohne die Sorgfalt, die sie verdiente. Unter all den stummen Erfahrungen sind diejenigen
verborgen, die unserem Leben unbemerkt seine
Form, seine Färbung und seine Melodie geben.
Wenn wir uns dann, als Archäologen der Seele, diesen Schätzen zuwenden, entdecken wir, wie verwirrend sie sind. Der Gegenstand der Betrachtung weigert sich stillzustehen, die Worte gleiten am Erlebten
ab, und am Ende stehen lauter Widersprüche auf
dem Papier. Lange Zeit habe ich geglaubt, das sei
ein Mangel, etwas, das es zu überwinden gelte. Heute denke ich, dass es sich anders verhält: dass die
Anerkennung der Verwirrung der Königsweg zum
Verständnis dieser vertrauten und doch rätselhaften
Erfahrungen ist.
(Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon)
Der Text, den die Hauptfigur des Romans in einem antiquarischen Buch entdeckt,
beschreibt ausdrucksstark die Versprachlichung und Nicht-Versprachlichung von
Erfahrungen. Im Zentrum des Zitats stehen neben den manifesten zur Sprache gebrachten Erfahrungen die „stummen Erfahrungen“, die nicht unmittelbar zugänglichen, latenten, unbewussten Erfahrungen. Unter diesen unbewussten Erfahrungen,
sind die, die dem Leben „seine Form, seine Färbung und seine Melodie“ geben. Um
das Nicht-Versprachlichte aufzuspüren, rücken die Widersprüche und Verwirrungen
in den Blick. Diese literarische Beschreibung bringt damit Gedanken auf den Punkt,
an die sich einige der methodischen und methodologischen Überlegungen der vorliegenden Arbeit anknüpfen lassen: Die Bedeutung von latentem Sinn, der sich auch
ohne versprachlicht zu werden, den Weg in die Erzählung bahnt und der durch die
Interpretation des Textes sichtbar wird. Mit der Sequenz „die Worte gleiten am
Erlebten ab“, verweist der Text darüber hinaus darauf, dass die Erzählung und das
Erlebte nicht identisch sind – eine Annahme, die auch in der vorliegenden Arbeit
geteilt wird. Wie jedoch lassen sich die „Schätze“ finden? Sie müssen „entdeckt“
werden, das bedeutet, sich auf das Interviewmaterial einzulassen, die Prozesshaftigkeit der biographischen Konfliktmuster wahrzunehmen und die Widersprüche und
Verwirrungen zum Ausgangspunkt der Untersuchung, zum „Königsweg“, zu ma-
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chen, um die subjektiven Erfahrungen zu verstehen und die biographische Bedeutung von Gewalt aufzuspüren.59
Anknüpfend an diese literarisch inspirierten Ausführungen werden im Folgenden
das konkrete methodische Vorgehen und die zugrunde liegenden methodologischen
Überlegungen dargestellt. Dabei wird auf eine Kombination verschiedener Methoden zurückgegriffen, um der jeweiligen Fragestellung und Angemessenheit des
Gegenstandes gerecht zu werden.60 Dies bedeutet, die Erhebungs- und Auswertungsverfahren „unter Bezugnahme auf etablierte allgemeine Verfahren und Grundsätze – den Spezifika des Untersuchungsgegenstandes und der verfolgten Fragestellung anzupassen“ (Kleemann 2005: 61). Vor diesem Hintergrund werden Auswertungsverfahren unter einer qualitativen Forschungsperspektive als Grundgerüst
verstanden, die je nach Forschungsvorhaben angepasst werden. Die Differenzen der
verknüpften Verfahren müssen jedoch beachtet werden (vgl. Bereswill 2003c).
Durch eine Kombination aus verschiedenen Methoden können deren Stärken genutzt
und Schwächen kompensiert werden (vgl. Mey 1999:172). So können die Grenzen
der einzelnen Methoden überwunden und in der Gesamtheit ein fruchtbares Ergebnis
erzielt werden. Bevor die Darstellung der Auswertungsmethoden erfolgt, wird kurz
die Datenerhebung vorgestellt.
6. Die Datenerhebung
Das Interviewmaterial, auf dem die Untersuchung der vorliegenden Arbeit basiert,
wurde im Rahmen von zwei aneinander anschließende qualitativen Längsschnittstudien des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. (KFN) erhoben61: Im qualitativen Teil der Längsschnittstudie „Gefängnis und die Folgen“, in
deren Zentrum die Frage nach der biographischen Verarbeitung eines Freiheitsentzugs stand, und im qualitativen Folgeprojekt „Labile Übergänge – die Integration
junger Männer mit Hafterfahrung in Arbeit und Ausbildung“, das die Lern- und
Arbeitsbeziehungen in den Lebensgeschichten der jungen Männer und Heranwachsenden fokussiert.
59 Der „Königsweg“ lässt sich als Bezug zu Freud (1900/1968) auffassen, der in der Traumdeutung die „via regia“ zur Kenntnis des Unbewussten sieht. Aber auch in der qualitativen Sozialforschung werden beispielsweise Interviews als „Königsweg“ zur Rekonstruktion von Wissensbeständen beschrieben (vgl. Hitzler & Honer 1997: 14, Fußnote 7).
60 Zur Bedeutung der „Gegenstandsangemessenheit“ in den qualitativen Methoden vgl. Glaser
& Strauss 1967; Kelle 1994; Kelle & Kluge 1999.
61 Das Projekt „Gefängnis und die Folgen“ (1998-2004) wurde von der VolkswagenStiftung
gefördert. Zum Konzept der Untersuchung vgl. Bereswill (1999 & 2003); für einen ausführlichen
Überblick über den quantitativen Teil des Projekts vgl. Greve, Hosser & Pfeiffer (1997). Für
Ergebnisse des qualitativen Projektteils vgl. beispielsweise Bereswill 1999, 2003, 2006a. Das
Projekt „Labile Übergänge“ (2005-2007) wurde finanziert von der Stiftung Deutsche Jugendmarke. Für Ergebnisse des Projekts vgl. Bereswill, Koesling und Neuber (2007 & 2008).
Beide Projekte wurden von Mechthild Bereswill geleitet.
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Die Interviews wurden nicht von der Autorin selbst geführt, sondern das Interviewmaterial wurde ihr für ihre Untersuchung vom KFN zur Verfügung gestellt. Bei
allen Interviews handelt es sich um Leitfadeninterviews (vgl. Schmidt 1997). Da die
Beschreibung der Erhebungsmethoden von der Autorin nicht geleistet werden kann,
wird im Folgenden nur ein kurzer Überblick über die Erhebung im Längsschnitt und
die Untersuchungsgruppe gegeben.62
Die Erhebungszeitpunkte der verschiedenen Längsschnittinterviews sind folgende: Im Projekt „Gefängnis und die Folgen“ wurde zum ersten Erhebungszeitpunkt
(t1) mit den Interviewten über die Hafterfahrungen (I) und die lebensgeschichtlichen
Erfahrungen (II) gesprochen. Diese beiden Interviews fanden in den Jugendhaftanstalten statt und geplant war ein Abstand von einer Woche zwischen den beiden
Interviews. Das Interview über die Erfahrungen nach der Entlassung (III) fand ein
halbes Jahr nach der Entlassung zum zweiten Erhebungszeitpunkt (t2) statt. Im Anschluss daran wird der Längsschnitt im Abstand von einem Jahr fortgesetzt (t3-t8;
IV-IX). Konkret bedeutet dies, dass 43 junge Männer zum ersten Erhebungszeitpunk
interviewt wurden. Mit 30 von ihnen konnte mindestens ein Interview im Längsschnitt geführt werden. Die Interviews über die Hafterfahrungen dieser 30 jungen
Männer bilden die Grundlage für die Untersuchung der Bedeutung von Gewalt im
Gefängnis und den subjektiven Strategien im Umgang mit Gewalt in der vorliegenden Arbeit. Mit 20 jungen Männern wurden im Projekt „Gefängnis und die Folgen“
bis zu neun Interviews über einen Zeitraum von bis zu sieben Jahren geführt. Die
Untersuchung „Labile Übergänge“ stellt eine Sekundäranalyse auf Basis dieser
Daten dar. Ferner wurden mit 13 jungen Männern des Samples ein bis zwei weitere
Interviews geführt, in denen die Lern- und Arbeitserfahrungen fokussiert wurden.
Die ersten beiden Interviews im qualitativen Teil des Projekts „Gefängnis und die
Folgen“ wurden in einer ost- und westdeutschen Jugendvollzugsanstalt sowie einer
westdeutschen Jungtäteranstalt geführt. In Anlehnung an das Sampling des quantitativen Untersuchungsansatzes wurden ausschließlich deutschsprachige junge Männer
befragt (Bereswill 1999). Die Altersgruppenverteilung erfolgte systematisch mit
Bezug zu den juristischen Kategorien „Jugendliche“ (< 18 Jahre), „Heranwachsende“ (18-20 Jahre) und „Erwachsene“ (21-24 Jahre). Die größte Gruppe mit 17 Fällen
stellen die 18-20jährigen dar. Es liegen 20 Fälle aus Ostdeutschland und 23 aus
Westdeutschland vor (vgl. auch Bereswill 1999).
Die Interviews haben mehrheitlich zwischen eineinhalb und zweieinhalb Stunden
gedauert. Sie wurden mit Tonbandgeräten aufgezeichnet und nach festen Transkriptionsregeln transkribiert. Alle Namen, Daten und Orte wurden anonymisiert.
62 Eine kurze Beschreibung der Interviewleitfäden findet sich in Bereswill, Koesling und Neuber (2008). Für weitere Erläuterungen zu den Erhebungsmethoden vgl. Bereswill 1999. Die
Erhebungsinstrumente sind in Bereswill 1999 (für das Projekt „Gefängnis und die Folgen“)
veröffentlicht. Die Leitfäden, die im Projekt „Labile Übergänge“ verwendet wurden, finden
sich bei Bereswill, Koesling und Neuber 2008.
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7. Die Auswertungsmethoden – Methodologische Überlegungen zum
Methodenmix und die methodische Umsetzung
Im folgenden Abschnitt werden die für die Auswertung des Interviewmaterials angewendeten Methoden kritisch reflektiert und bezüglich ihrer Gegenstandsangemessenheit diskutiert. Ziel ist es, eine Transparenz über das methodische Vorgehen zu
schaffen, die Auswahl der Methoden zu begründen und somit das eigene Forschungsverständnis deutlich zu machen. Die Verfahrensweisen werden legitimiert
und die methodischen Abkürzungen offen gelegt. Entscheidend dabei ist, dass an
den entsprechenden Stellen die relevanten methodischen und methodologischen
Grundlagen exemplarisch vorgestellt und verglichen werden. Hingegen wird darauf
verzichtet, die verwendeten empirischen Methoden und Methodologien,
selbstzweckhaft und „in umfassender Weise zu referieren, bzw. deren Herleitungen
in legitimatorischer Absicht zu reproduzieren“ (Kleemann 2005: 61). Grundlage der
Interpretationen bilden die transkribierten Interviews.
Ausgehend von der Annahme, dass Gewalt einem biographischen Eigensinn unterliegt, wird in der vorliegenden Arbeit die Bedeutung von Gewalt im Gefängnis
vor dem Hintergrund biographischer Konflikterfahrungen untersucht. Um dieser
Fragestellung mit ihren zwei Perspektiven (einmal auf die Bedeutung von Gewalt im
Gefängnis und zum anderen auf die biographischen Konflikterfahrungen) gerecht zu
werden, wird methodisch in mehreren Schritten vorgegangen. Dabei werden drei
Methoden miteinander kombiniert: Die Analyse der kollektiven Deutungsmuster
und subjektiven Strategien im Umgang mit Gewalt erfolgt in Anlehnung an die
Grounded Theory. Die biographischen Fallinterpretationen werden in Anlehnung an
die objektive Hermeneutik und die Tiefenhermeneutik ausgewertet.
Im ersten Schritt werden die kollektiven Deutungsmuster der inhaftierten jungen
Männer von Gewalt im Gefängnis und die subjektiven Strategien der Inhaftierten im
Umgang mit Gewalt in den 30 Interviews zu den Hafterfahrungen erforscht. Diese
Untersuchungsschritte dienen dazu, einerseits Einblicke in und einen Überblick über
das Forschungsfeld Gefängnis zu gewinnen und die kollektive Bedeutung von Gewalt im Gefängnis zu verstehen. Andererseits dient dieser Auswertungsschritt dazu,
relevante Ankerfälle für die biographischen Fallinterpretationen auszuwählen. Die
am Anfang des Auswertungsprozesses stehende Analyse der kollektiven Deutungsmuster erfolgt in Anlehnung an das Kodieren der Grounded Theory (vgl. Böhm
1994: 125).
Die in diesem Interpretationsprozess ermittelten kollektiven Deutungsmuster zur
Bedeutung von Gewalt im Gefängnis und subjektiven Strategien der jungen Männer
im Umgang mit Gewalt werden in einem nächsten Schritt in Beziehung gesetzt zu
den biographischen Konflikterfahrungen, für deren Untersuchung eine hermeneutisch-rekonstruktive Herangehensweise gewählt wird. Eine biographische Analyse
zum Zusammenhang von Männlichkeit und Gewalt trägt den theoretischen Annahmen der vorliegenden Arbeit Rechnung: Dem Subjektbegriff liegt ein psychoanalytisch orientiertes Subjektverständnis zu Grunde und Geschlecht wird als Konfliktkategorie gefasst (vgl. Kap. I.5). Gewalt wird nicht als ausschließlich rationales Han-
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References
Zusammenfassung
Zwischen Männlichkeit und Gewalt wird sowohl in den kollektiven Deutungsmustern junger Männer als auch in vielen wissenschaftlichen Ansätzen der Jugendgewalt- und Männlichkeitsforschung ein direkter Zusammenhang vorausgesetzt.
In der vorliegenden Studie werden kollektive Deutungsmuster von Gewalt in Beziehung gesetzt zu der subjektiven Bedeutung von Gewalt im Kontext biographischer Konflikterfahrungen. Unterliegt Gewalt einem biographischen Eigensinn? Dieser Frage wird anhand fünf biographischer Fallinterpretationen auf Basis qualitativer Längsschnittinterviews mit inhaftierten jungen Männern nachgegegangen.
Das Verhältnis von Gewalt und Geschlecht wird aus einer soziologischen und sozialpsychologischen Perspektive untersucht. Dabei rücken die Opfer-Täter-Ambivalenzen von Gewalthandeln in den Blick. Es zeigt sich eine enge Verbindung zwischen der Bedeutung von Gewalt und den biographischen Konflikterfahrungen junger Männer: Gewalt steht in enger Beziehung zu ihren Autonomiekonflikten und ein komplexes und vielschichtiges Verhältnis zwischen Autonomie, Geschlecht und Gewalt wird sichtbar.