94
Kapitel 3: Erklärungsversuche zur Kriminalität der Frau im Allgemeinen
Die in Kapitel 2 dargestellten Theorien wurden entwickelt, ohne besonderes Augenmerk auf die gegebenenfalls bestehenden Besonderheiten einer weiblichen Täterschaft zu richten. Die Untersuchungen betrafen nur die männlichen Täter bzw.
wurden ohne weitere Reflexion auf weibliche Täter im NS-Regime übertragen. Es
ist aber fraglich, ob die entwickelten Theorien auch für die Handlungen der Täterinnen Geltung haben oder ob eine geschlechtsspezifische Unterscheidung vorgenommen werden muss. Generell wird in der allgemeinen Kriminologie bei Erklärungsversuchen zwischen männlicher und weiblicher Kriminalität unterschieden. Dazu
wurden spezifische Frauenkriminalitätstheorien entwickelt. Dabei wurde nach Besonderheiten und speziellen Gründen für eine niedrigere weibliche Kriminalitätsrate
gesucht. Eine unreflektierte Übertragung der Männertheorien auf die weibliche Kriminalität wird nicht vorgenommen.
Daher muss zunächst die Frage beantwortet werden, ob die NS-Täterinnen aus
denselben Gründen wie Männer zu Tätern unmenschlicher und ethisch verwerflicher
Handlungen wurden. Da dies ohne das Wissen um die weibliche Kriminalität allgemein und ihre Besonderheiten nicht möglich ist, werden im Folgenden zunächst die
qualitativen und quantitativen Besonderheiten der Frauenkriminalität heute und in
der nationalsozialistischen Zeit beschrieben. Danach wird auf die zu berücksichtigenden Einflüsse der Rolle der Frau und deren Entwicklung in der Zeit der Weimarer Republik und dem „Dritten Reich“ eingegangen, bevor die wichtigsten Theorien
zur weiblichen Kriminalität dargestellt werden.
A. Besonderheiten der Frauenkriminalität
Beachtung finden in der kriminologischen Literatur in erster Linie die Gründe für
die unterschiedliche Verteilung der Kriminalität zwischen Männern und Frauen.
Dazu gehören zum einen die kontrovers diskutierte Quantität der weiblichen Delinquenz, und zum anderen die Qualität der von Frauen begangenen Delikte. In der
Literatur werden zu der Frage, ob – und wenn ja, warum – die Kriminalität der Frau
Unterschiede zur männlichen Delinquenz aufweist, verschiedene Theorien vertreten.
Hierbei konkurrieren erbbiologische und somatische Erklärungsversuche mit psychodynamischen, sozialpsychologischen und soziologischen Ansätzen sowie mit
Labelling Approach und Multifaktoren-Theorien. Ferner liefern die Routine Activity
Theory und die Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung weitere Erklärungsansätze für die weibliche Kriminalität.
95
I. Quantität
Bereits seit Beginn der kriminologischen Beschäftigung mit weiblicher Delinquenz
wurde vertreten, dass Kriminalität zwischen Männern und Frauen gleichmäßig verteilt sei557.
Eine andere Bewertung ergibt sich aber bei Auswertung der weiblichen Kriminalität im Hellfeld. Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik 2007558 lag die Tatverdächtigen-Frauenquote in Deutschland bei 24,1%, wonach sich ein Verhältnis von
ca. 1:4 zur männlichen registrierten Kriminalität ergab. Der Frauenanteil kam bei
den hier besonders interessierenden Delikten Mord auf 13,3%, bei Totschlag ebenfalls auf 13,3%, der gefährlichen und schweren Körperverletzung auf 13,8%, den
Straftaten gegen die Freiheit auf 13,2% und der leichten Körperverletzung auf
15,9%. Internationale Kriminalitätsstatistiken bestätigen die geringe Kriminalitätsbelastung von Frauen im Geschlechtervergleich559. Dabei ist zu beobachten, dass die
Differenz zwischen der männlichen und weiblichen Kriminalitätsrate in modernen
Kulturen geringer ist als in Ländern, in denen Frauen nicht gleichberechtigt sind und
weniger gesellschaftliche Freiheiten genießen560. Die Verurteilungs- und Strafgefangenenstatistiken entwerfen ein ähnliches Bild. Die Quote der 2005 verurteilten deutschen Frauen liegt bei 18,1%561. Am Stichtag des 31. August 2007 waren 5,3% der
Strafgefangenen im Strafvollzug Frauen562. Bezogen auf die Gesamtzahl aller
(männlichen und weiblichen) Gefangenen saßen 5,2% der Frauen zu Freiheits- oder
Jugendstrafe oder zur Sicherungsverwahrung im geschlossenen Vollzug ein (im
offenen Vollzug 5,7%), 5,7% in Untersuchungshaft und 7,1% zu sonstiger Freiheitsentziehung. Hinsichtlich der Altersstruktur563 ist festzustellen, dass sich bei den
männlichen Tatverdächtigen die höchsten Belastungszahlen bei der Altersgruppe der
zwischen 18- und 21jährigen findet. Bei Frauen liegt die höchste Belastungsziffer
bei den Tatverdächtigen unter 18 Jahren. Bei beiden Geschlechtern sinkt nach diesem Höhepunkt die Kriminalität kontinuierlich und läuft dann, insbesondere nach
dem 35. Lebensjahr, langsam aus. Dabei findet zwischen Männern und Frauen eine
Annäherung statt, wobei die Kriminalitätsbelastung der Frauen stets niedriger bleibt
als die der Männer. Anderes ist bei den Verurteilten zu beobachten: Hier liegen der
männliche und der weibliche Belastungsgipfel bei der Altersgruppe der 21- bis
25jährigen. Es ist zu beachten, dass weibliche Tatverdächtige tendenziell seltener
verurteilt werden als männliche. Frauenkriminalität ist nach der Kriminalstatistik
557 Lombroso/Ferrero, Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte, Vorwort, S. V.; in neuerer
Zeit vor allem Leder in: MSchrKrim 1984, S. 313 (324), in: MSchrKrim 1983, S. 174 (175);
in: Kriminalistik 1993, S. 692 (693 ff); ebenso Gipser, Mädchenkriminalität, S. 127.
558 BKA, PKS 2007, S. 72 und Anhang Tabelle 20.
559 Franke, Frauen und Kriminalität, S. 22.
560 Hagan, Introduction to Criminology, S. 72.
561 Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2007, Justiz, Tabelle 10.9; Statistisches
Bundesamt, Rechtspflege 1976 – 2006, S. 35.
562 Statistisches Bundesamt, Gefangenenstatistik, (Stichtag: 31. August 2007), S. 10.
563 Vgl. Heinz in: BewHi 2002, S. 131, Schaubild 1 (137).
96
folglich quantitativ weniger bedeutend564, was sich auch seit Beginn der statistischen
Erfassung von Tatverdächtigen, Verurteilten und Gefangenen bis auf einen leichten
Anstieg der Frauenquote seit 1993 kaum verändert hat565. Zwar wird zum Teil vertreten, dass die Frauenkriminalität stärker zunehme als die der Männer566, allerdings
ist bei den Männern (aufgrund des größeren Anteils an der Gesamtkriminalität) eine
Zunahme um das 2,8fache im Gegensatz zur Zunahme bei den Frauen zu verzeichnen, wodurch diese These außer Kraft gesetzt wird567.
Problematisch ist die große Diskrepanz zwischen bekannt gewordener, d.h. registrierter, und nicht bekannt gewordener Kriminalität (Dunkelfeld). Lombroso und
Ferrero vertraten 1894 die These von der Gleichverteilung der Kriminalität zwischen den Geschlechtern und vermuteten ein ausgeprägtes weibliches Dunkelfeld,
ohne dies allerdings durch entsprechende Forschungen zu belegen568. Später griffen
Pollak569 und Leder570 diese These auf. Insbesondere letzterer stützte seine Theorie
von der annähernden Gleichverteilung der Kriminalität auf die Dunkelfeldforschung, welche in den letzten 30 Jahren einen großen Aufschwung erfuhr571. Die
Dunkelfeldforschung, vor allem auf Basis von so genannten „self-reports“, lässt
vermuten, dass eine höhere Belastung weiblicher Personen gegeben ist, als dies die
Statistiken aussagen572. Der Abstand zwischen männlicher und weiblicher Kriminalitätsbelastung ist hier geringer als im Hellfeld. Dennoch konnte man insbesondere
bei Befragungen von 13- bis 20jährigen573 keine „mädchentypischen“ Delikte herausarbeiten. Die meisten Deliktsarten waren „jungentypisch“ einzustufen574. Bei
einer Gießener Studie zur Häufigkeit und Schwere begangener Delikte war die
Mehrzahl der weiblichen Befragten in der Delinquenzbelastungsklasse „schwache
Delinquenzbelastung“ zu finden, sehr wenige in den Klassen „mäßige Delinquenzbelastung“ und „starke Delinquenzbelastung“575. Sehr hohe Belastungen kamen hier
fast nur bei männlichen Befragten vor576. Ein ähnliches Bild ergab sich nach einigen
Studien zur Drogendelinquenz. Delinquenzmuster werden selten von weiblichen
Drogenabhängigen eingeführt, sondern von Männern initiiert und von den Frauen
übernommen, wobei sie die weniger mit Aggression und Aktivität verbundenen
564 Göppinger, Kriminologie, S. 409.
565 Heinz in: BewHi 2002, S. 131 (136), ebenso: Schmölzer in: BIS 03, S. 58 (58).
566 Kaiser, Kriminologie, S. 506 Rn 45.
567 Heinz in: BewHi 2002, S. 131 (144); Schneider, H.J. in: GS Kaufmann, S. 267 (268); Albrecht in: BewHi 1987, S. 341 (342); Franke, Frauen und Kriminalität, S. 23.
568 Lombroso/Ferrero, Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte, Vorwort, S. V und S. 576.
569 Pollak, The Criminality of Women.
570 Leder in: MSchrKrim 1984,S. 313 (324), in: MSchrKrim 1983, S. 174 (175); in: Kriminalistik 1993, S. 692 (693 ff).
571 Bock, M., Kriminologie, S. 273, Rn. 794.
572 Eisenberg, Kriminologie, S. 643, Rn. 33; Hale/Hayward, Criminology, S. 348; Heinz in:
BewHi 2002, S. 131 (139); Schneider, H.J. in: GS Kaufmann, S. 267 (278).
573 Kreuzer in: RdJB 1975, S. 229 (236).
574 Kreuzer in: GS Kaufmann, S. 291 (296).
575 Vgl. Kreuzer in: GS Kaufmann, S. 291 (298).
576 Kreuzer in: GS Kaufmann, S. 291 (299).
97
sowie unauffälligeren Straftaten wählen577. Aufgrund dieser Studien – die durch
internationale Untersuchungen bestätigt werden578 – wird davon ausgegangen, dass
die kriminalistischen Daten korrigiert werden müssen, allerdings nicht im Ausmaß
einer Gleichverteilung, denn der geschlechtsspezifische Unterschied ist im Dunkelfeld lediglich deutlich geringer als im Hellfeld: Man geht im Gegensatz zum Hellfeld von einem Verhältnis von 1:1,3 bis 3 aus579. Folglich bleibt auch hiernach die
Kriminalitätsbelastung von Frauen geringer als die der Männer580, von einer Gleichverteilung kann hingegen nicht gesprochen werden.
II. Die allgemeine weibliche Kriminalitätsrate im „Dritten Reich“
Um für die Bewertung der Gewaltakte von Frauen im NS-System eine Vergleichsmöglichkeit zu haben, ist es notwendig, die allgemeine weibliche Kriminalitätsrate
in derselben Zeit zu bewerten. Unter den Begriff der „allgemeinen“ Kriminalität
fallen hier alle Verbrechen und Vergehen wie Mord, Totschlag, Körperverletzungsdelikte, Eigentumskriminalität, Brandstiftung, Beleidigung und ähnliche „Alltagskriminalität“, die nicht im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Regime
stand und von diesem nicht angeordnet, gefördert oder zumindest gebilligt wurde.
Nicht erfasst sind hierbei also die Handlungen im Rahmen der in Kapitel 1 beschriebenen Funktionen der Frauen im NS-System.
Zwischen 1902 und 1932 lag der Anteil von Frauen als Täterinnen im Bereich der
„allgemeinen“ Kriminalität bei 11,6% bis 16,3%, wobei sich insbesondere während
des Ersten Weltkrieges eine Zunahme der Frauenkriminalität konstatieren lässt581.
Von 1933 an stieg der weibliche Anteil an rechtskräftig Verurteilten von 11,9% auf
14,3% im Jahr 1936 und 15,6% im Jahre 1939582. Im Jahr 1940 erhöhte sich der
weibliche Anteil an der Gesamtkriminalität auf 22,5%. Angaben zur weiblichen
Kriminalität ab 1941 bis 1945 gehen aus dem Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich nicht mehr hervor.
577 Kreuzer in: GS Kaufmann, S. 291 (300).
578 Hale/Hayward, Criminology, S. 348; Siegel, Criminology, S. 90.
579 Heinz in: BewHi 2002, S. 131 (140).
580 Ebenso: Heinz in: BewHi 2002, S. 131 (139); Bock, M., Kriminologie, S. 274, Rn. 796; Hale/Hayward, Criminology, S. 349; Siegel, Criminology, S. 90; Kaiser, Kriminologie, S. 497,
Rn.26; Eisenberg, Kriminologie, S. 643, Rn. 33; Schwind, Kriminologie, S. 46, Rn. 66a, S.76,
Rn. 42; Kreuzer in: GS Kaufmann, S. 291 (295 und 301); Schneider, H.J. in: GS Kaufmann,
S. 267 (268); Hermann in: Kerner/Marks, Internetdokumentation Deutscher Präventionstag,
S. 2; Hermann in: Lamnek/Boatka, Geschlecht, Gewalt, Gesellschaft, S. 354 (354); Franke,
Frauen und Kriminalität, S. 29; a.A. Leder in: MSchrKrim 1984,S. 313 (324), in: MSchrKrim
1983, S. 174 (175); in: Kriminalistik 1993, S. 692 (693 ff), der von einer tendenziellen
Gleichverteilung der Männer- und Frauenkriminalität ausgeht.
581 Statistisches Reichsamt, Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1941/42, S. 649.
582 Statistisches Reichsamt, Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1941/42, S. 649; Die
Entwicklung der weiblichen Kriminalitätsrate im Einzelnen: 1933 11,89%; 1934 14,12%;
1935 14,27%; 1936 14,33%; 1937 15,5%; 1938 15,85%; 1939 15,58%; 1940 22,47%.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Bisher wurde der Rolle der Frau als Täterin im makrokriminellen Gefüge des Dritten Reichs und den Ursachen für ihre Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen, Genozid und anderen Gewalttaten in der Kriminologie und der Geschichtswissenschaft kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Theorien beziehen sich bei ihren Erklärungsversuchen nahezu ausschließlich auf Männer als Täter.
Das Werk schließt diese Forschungslücke, indem es aus kriminologischer Perspektive der Frage nachgeht, warum sozial völlig unauffällige und angepasste Frauen zu Täterinnen von unmenschlichen, unmoralischen und ethisch verwerflichen Handlungen werden können, wie sie im „Dritten Reich“ geschahen.