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droht. Grundgesetzlich abgesichert ist mit Art. 103 Abs. 2 GG, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat
begangen wurde. Darin ist ein an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot enthalten,
eine Strafnorm über ihren für den durchschnittlichen Adressaten erkennbaren Inhalt
hinaus anzuwenden.278 Wenngleich die urheberrechtlichen Schrankenbestimmungen
nicht selbst den Charakter einer Strafnorm aufweisen, so wirkt sich ihre Anwendung
doch direkt auf die Strafbarkeit nach § 106 UrhG aus.279 Nach allgemeiner Auffassung sind mit dem Verweis auf die „gesetzlich zugelassenen Fälle“ jene Fälle der
§§ 44 a ff. UrhG und somit die urheberrechtlichen Schranken gemeint.280 Die urheberrechtlichen Schrankenbestimmungen lassen dabei nach der weit überwiegenden
Auffassung bereits die Tatbestandmäßigkeit und nicht erst die Rechtswidrigkeit entfallen.281 Daher müssen bei der Anwendung der urheberrechtlichen Schranken wie
bei allen auf die Strafbarkeit Einfluss nehmenden Tatbestandsmerkmalen die Grenzen des Art. 103 Abs. 2 GG beachtet werden. Neben der Tatbestandsergänzung setzt
Art. 103 Abs. 2 GG dabei auch der tatbestandsausweitenden Interpretation Grenzen.282 Eine zu enge Auslegung der Tatbestandsmerkmale der urheberrechtlichen
Schrankenbestimmungen und damit eine Tatbestandsausweitung des strafbaren
Handelns verbietet sich vor diesem Hintergrund, wobei der Interpretationsansatz aus
Sicht der Werknutzenden zu erfolgen hat.283
II. Analogiefähigkeit
Die abschließende Natur der urheberrechtlichen Schranken steht auch einer analogen
Anwendung auf neue Nutzungsvorgänge im Einzelfall nicht entgegen.284 An dieser
Stelle soll festgehalten werden, dass ein generelles Analogieverbot nur dort zum
Tragen kommt, wo der Gesetzgeber seinen abschließenden Willen innerhalb der getroffenen gesetzlichen Regelungen eindeutig kundgetan hat.285 Weder aber weisen
die Schranken nach hiesiger Auffassung normativen Ausnahmecharakter auf noch
278 BVerfG, Beschluss v. 10.01.1995 – 1 BvR 718 u.a./89, BVerfGE 92, S. 1, 12; Beschluss v.
26.06.1990 – 1 BvR 776/84, BVerfGE 82, S. 236, 269; Beschluss v. 23.10.1985 – 1 BvR
1053/82, BVerfGE 71, S. 108, 114 ff.
279 Hoffmann, in: WRP 2006, S. 55, 56, explizit zu § 53 Abs. 1 UrhG.
280 Vgl. nur: Dreier, in: Dreier/Schulze, UrhG, § 106, Rn. 6; Hildebrandt, in Wandtke/Bullinger,
UrhR, § 106, Rn. 21; Spautz, in: Möhring/Nicolini, UrhG, § 106, Rn. 4.
281 Dreier, in: Dreier/Schulze, UrhG, § 106, Rn. 6; Flechsig, in: Loewenheim, Hdb. des UrhR, §
90, Rn. 23; ausführlich, Haß, in: FS für Rainer Klaka, S. 127 ff.
282 BVerfG, Beschluss v. 10.01.1995 – 1 BvR 718 u.a./89, BVerfGE 92, S. 1, 16.
283 Vgl. Hoffmann, in: WRP 2006, S. 55, 56.
284 Durch einen nicht unerheblichen Teil der Literatur wird die Analogiefähigkeit hingegen negiert. Vgl.; Melichar, in: Schricker, UrhR, Vor. §§ 44 a, Rn. 16; Nicolini, in: Möhring/Nicolini/Ahlberg, UrhG, § 45, Rn. 2; Nordemann, in: Fromm/Nordemann, UrhG, Vor §
45, Rn. 3.
285 Vgl. grundsätzlich zu den Voraussetzungen einer Analogieoffenheit Canaris, Die Feststellung
von Lücken im Gesetz, S. 184 ff.
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ist den Gesetzgebungsunterlagen zu den Schrankentatbeständen ein sonstiges Analogieverbot zu entnehmen. Auch der BGH hatte sich einer Analogie in seiner Entscheidung vom 04.12.1986 „Filmzitat“ geöffnet und gemäß § 51 Nr. 2 UrhG analog
das Filmzitat für zulässig erachtet.286 Mit der Öffnung der strengen Grenzen hinsichtlich der Auslegungsmodalitäten wächst auch die Anzahl der Fürsprecher einer
analogen Anwendung, sofern es der Einzelfall erfordert.287
Bei Vorliegen der anerkannten Voraussetzungen einer Analogie – das Vorliegen
einer planwidrigen Regelungslücke sowie eine Vergleichbarkeit des zu untersuchenden mit dem gesetzlich geregelten Sachverhalt – spricht nichts gegen die Prüfung
einer analogen Anwendung. Besondere Achtsamkeit ist in diesem Zusammenhang
aber auch den durch Art. 103 Abs. 2 GG gesetzten Grenzen zu widmen. Wie bereits
vorstehend dargetan, ist die wichtigste Grenze richterlicher Auslegungsbefugnis das
Verbot, eine Sanktion über den aus der Sicht des Laien zu bestimmenden Wortsinn
einer Norm hinaus zu begründen. Im Weiteren ist das verfassungsrechtliche Analogieverbot auch der Sicherung des gesetzgeberischen Willens gegenüber solchen
zweckwidrigen Auslegungen, die sich noch innerhalb des Wortsinns bewegen, zu
dienen bestimmt.288 Da Art. 103 Abs. 2 GG der Rechtsprechung aber nicht verbietet,
durch eine Analogie Straftatbestände zu mildern, greift das Analogieverbot dann
nicht ein, wenn neue Nutzungsvorgänge den gesetzlich erlaubten Anwendungsbereich der urheberrechtlichen Schranken zugunsten der Nutzenden ausweiten. Würde
hingegen eine Werkverwertung erst aufgrund einer analogen Anwendung strafbar im
Sinne des § 106 UrhG sein, kommt das Analogieverbot zum Tragen, weil die entsprechende Verwertung nur dadurch aus dem Anwendungsbereich der gesetzlich
zugelassenen Fälle herausfiele.
286 BGH, Urteil v. 04.12.1986 – I ZR 189/84, BGHZ 99, S. 162, 164 = GRUR 1987, S. 362, 363
– Filmzitat.
287 Vgl. nur: Dreier, in: Dreier/Schulze, UrhG, vor §§ 44 a ff., Rn. 7; Hilty, in: FS für Gerhard
Schricker, S. 325, 327 f.; Hoeren, in: Möhring/Nicolini/Ahlberg, UrhG, § 69 d, Rn. 2; Raue,
in: FS für Wilhelm Nordemann, S. 327, 339.
288 Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, Art. 103, Rn. 159.
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References
Zusammenfassung
In Bildung und Wissenschaft ist der Einsatz vielfältiger Medien, insbesondere auch unter Rückgriff auf modernste Techniken, unentbehrlich. In diesen Bereichen treffen die widerstreitenden Interessen von Nutzern und Rechteinhabern vor allem unter fiskalischen Gesichtspunkten in sensiblem Maße aufeinander. Dem Gesetzgeber obliegt es, mittels der urheberrechtlichen Schranken zwischen ihnen eine ausgewogene Balance zu schaffen. Die Autorin zeigt auf der Basis einer eingehenden Interessenanalyse unter Berücksichtigung von Rechtsprechung und Literatur die geltende Rechtslage auf, würdigt sie kritisch und entwickelt Reformansätze, besonders auch im Hinblick auf das urheberrechtliche Öffentlichkeitsverständnis.