69
3. Kapitel: Anwendungsgrundsätze für die urheberrechtlichen
Schranken
A) Zusammenspiel verfassungsrechtlicher und europarechtlicher Vorgaben
Die verfassungs- und europarechtlichen Vorgaben für die urheberrechtlichen
Schranken sind im Einzelfall nicht zwingend identisch. Bei der Auslegung einer urheberrechtlichen Schranke genießt man aber keine methodische Freiheit; vielmehr
ist gemäß Art. 249 Abs. 2 EG-Vertrag dem europäischen Recht grundsätzlich der
Vorrang vor dem Recht der einzelnen Mitgliedstaaten eingeräumt.232 Mit Art. 23
Abs. 1 S. 1 GG ist der verfassungsrechtliche Auftrag zu einer europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts vorgegeben.233 Sofern dies wegen gegenläufiger Vorgaben und Ansätze nicht möglich ist, darf das nationale Recht nicht anhand
der nationalen Verfassung überprüft werden, wobei nach der Rechtsprechung des
BVerfG jedoch stets der zwingende Grundrechtsstandard der Verfassung gewahrt
bleiben muss.234
B) Zum Verhältnis der urheberrechtlichen Schranken zu den
Ausschließlichkeitsrechten
I. Rechtsnatur als Ermittlungsansatz des Verhältnisses
Über die Rechtsnatur der urheberrechtlichen Schranken hat sich die juristische Literatur bislang weitestgehend ausgeschwiegen.235 Möglicherweise liegt dieses scheinbar mangelnde Interesse daran, dass die Antwort auf den ersten Blick allein rein
theoretischer Natur erscheint.236 Widmet man dieser Frage jedoch einen zweiten
Blick, wird man erkennen können, dass dies nicht so ist. Für das Verständnis der
Urheberrechtsschranken und, entscheidend, deren praktische Anwendung, ist es
nicht lediglich zweitrangig, auch deren rechtliches Verhältnis zu den urheberrechtlichen Ausschließlichkeitsrechten zu klären. Wie sich im Folgenden zeigen wird,
muss das Verhältnis der urheberrechtlichen Schranken zu den Ausschließlichkeits-
232 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 244.
233 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 23, Rn. 41.
234 BVerfG, Beschluss v. 07.06.2000 – 2 BvL 1/97, BVerfGE 102, S. 147, 161 – Bananenmarkt;
Beschluss v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, in: NJW 1987, S. 577 – Solange II; vgl. auch: Berger, in: ZUM 2006, S. 844, 848 f.
235 Vgl. Geiger, der zutreffend die mangelnde Auseinandersetzung der Literatur mit dieser Frage
anspricht, in: Interessenausgleich im Urheberrecht, S. 143 ff.,
236 Vgl. insofern, Hilty, in: FS für Gerhard Schricker, S. 325, 327, Fn. 11.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In Bildung und Wissenschaft ist der Einsatz vielfältiger Medien, insbesondere auch unter Rückgriff auf modernste Techniken, unentbehrlich. In diesen Bereichen treffen die widerstreitenden Interessen von Nutzern und Rechteinhabern vor allem unter fiskalischen Gesichtspunkten in sensiblem Maße aufeinander. Dem Gesetzgeber obliegt es, mittels der urheberrechtlichen Schranken zwischen ihnen eine ausgewogene Balance zu schaffen. Die Autorin zeigt auf der Basis einer eingehenden Interessenanalyse unter Berücksichtigung von Rechtsprechung und Literatur die geltende Rechtslage auf, würdigt sie kritisch und entwickelt Reformansätze, besonders auch im Hinblick auf das urheberrechtliche Öffentlichkeitsverständnis.