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Die Kosten des Marketing, des screening von Nachfragern und der Prüfung von Schadensfällen liegen deutlich höher, wenn die Versicherten in informellen Siedlungen am
Rande der Städte wohnen und arbeiten und sich somit in großer räumlicher und sozialer
Distanz zu den Filialen von Versicherungsgesellschaften und deren Angestellten bewegen. Auf alle drei Gründe wird noch einmal ausführlicher in Kapitel 5 eingegangen.
4.3 Ansatzpunkte zur Verbesserung der sozialen Sicherheit im informellen Sektor
Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Sicherheit von informell beschäftigten Erwerbspersonen können an zwei unterschiedlichen Punkten ansetzen: Eine naheliegende
Lösung wäre, die Ursachen ihrer überdurchschnittlich hohen Risiko-Verletzbarkeit zu
beseitigen, indem ihnen Zugang zum formellen Sektor und seinen Systemen der sozialen Sicherung erleichtert wird.233 Die Alternative hierzu besteht darin, gezielt die Risiko-
Management-Möglichkeiten innerhalb des informellen Sektors in seiner derzeitigen
Form zu fördern.
In vielen Fällen dürfte es sinnvoll sein, beide Strategien parallel zu verfolgen. Selbst
wenn es möglich wäre, sämtliche informell beschäftigten Personen nach und nach in
den formellen Sektor zu integrieren, so müssten doch Anstrengungen unternommen
werden, um die während der Übergangszeit im informellen Sektor Verbliebenen besser
vor Risiken zu schützen. Umgekehrt lässt sich wahrscheinlich durch die Förderung der
Risiko-Management-Möglichkeiten von informell Erwerbstätigen niemals das Niveau
an sozialer Sicherheit erreichen, das im formellen Sektor besteht – schon alleine, weil
dadurch die überdurchschnittlich hohe Bedeutung von Risiken für die informell Beschäftigten nicht verringert wird.234
4.3.1 Abbau der Unterschiede zwischen den Sektoren
Die erste Strategie zielt darauf ab, die Beschäftigten des informellen Sektors zumindest
partiell in den formellen Sektor zu integrieren – allerdings nicht durch eine Formalisierung des informellen Sektors, sondern durch eine vorsichtige Deregulierung des formellen Sektors.
Die entwicklungspolitischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass
sich der informelle Sektor kaum formalisieren lässt. Er entzieht sich konsequent jedem
in diese Richtung gehenden Versuch. Für die allermeisten Entwicklungsländer ist somit
das Ziel einer vollständigen Homogenisierung aller Bereiche der Ökonomie auf absehbare Zeit unrealistisch. Zudem stellt sich die Frage, ob man Unternehmer und Arbeitnehmer des informellen Sektors tatsächlich in die Formalität zwingen und dadurch den
Motor zerstören soll, der den Sektor und die in ihm stattfindenden Wirtschaftsprozesse
am Laufen hält – einen Sektor, in dem in vielen Entwicklungsländern ein erheblicher
Anteil des Volkseinkommens entsteht.235
Stattdessen sollte der Zugang zu den Märkten des formellen Sektors für die informell
Beschäftigten erleichtert bzw. attraktiver gemacht werden. Es geht also um den Abbau
233 Vgl. Canagarajah / Sethuraman (2001, 41 und 44).
234 Vgl. Beattie (2000, 134); Schmidt / Getubig (1992, 172 f.).
235 Vgl. Maldonado (1999a, 2 f.).
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von Barrieren, die den Zugang von Teilen der informell beschäftigten Erwerbsbevölkerung zu den Märkten des formellen Sektors verhindern, bzw. um die Reduktion der
Kosten der Formalisierung von Unternehmen und Erwerbsverhältnissen, die den Zugang von anderen Teilen der informell beschäftigten Erwerbsbevölkerung zum formellen Sektor unattraktiv machen.
Hiermit ist keine vollständige Deregulierung gemeint, sondern die Abschaffung bzw.
Neufassung von Regeln, die sich eher negativ denn positiv auf die Effizienz der Ressourcenallokation in der Ökonomie und die Verteilung der Einkommen auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen auswirken. Anstatt die bestehenden Rechtsnormen auch auf
den informellen Sektor anzuwenden sollten die Rechtsnormen an die jeweiligen Rahmenbedingungen der Ökonomie und damit auch an die Bedarfe der bislang informell
Beschäftigten angepasst werden.
Eine Deregulierung des formellen Sektors ist aus sozialpolitischer Sicht nicht grundsätzlich positiv zu bewerten, selbst wenn sie den Zugang von informell Beschäftigten zu
den Erwerbsmöglichkeiten des formellen Sektors erleichtert. Bspw. kann eine Liberalisierung des Arbeitsrechts (Kündigungsschutz, Mindestlöhne, Vorschriften zum Schutz
vor Gefahren am Arbeitsplatz) auf der einen Seite positive Auswirkungen auf Erwerbstätige aus dem informellen Sektor haben, da sie die Anreize für formelle Unternehmen
zu neuen Investitionen und zur Einstellung zusätzlicher Mitarbeiter verbessert. Auf der
anderen Seite bringt sie aber eine größere soziale Unsicherheit für die bereits im formellen Sektor beschäftigten Personen mit sich. In manchen Fällen dieser Art kann daher
eine Entscheidung über das Für und Wider nur auf Basis einer Interessenabwägung gefällt werden.
Jedoch sind vielfach auch Kompromisslösungen denkbar, die weniger auf eine Dedenn auf eine Regulierung im formellen Sektor hinauslaufen. Sie bestehen darin, bestehende Regeln durch andere zu ersetzen, die demselben Ziel dienen und ähnlich positive
Auswirkungen auf die soziale Sicherheit im formellen Sektor haben, jedoch deutlich
geringere negative Effekte für die bislang informell beschäftigten Erwerbspersonen und
deren Zugang zu den Märkten des formellen Sektors. So gibt es zu zahlreichen staatlichen Richtlinien, die zu Verzerrungen und Diskriminierungen auf den Arbeitsmärkten
führen, Alternativen, die aus verteilungs- und auch aus allokationspolitischer Perspektive sinnvoller erscheinen. Teilweise sind sie sogar effektiver – zumindest hinsichtlich
ihrer vordergründigen Ziele. Bspw. haben sich Abfindungszahlungen der Unternehmen
an entlassene Mitarbeiter, deren Höhe mit der Dauer des gekündigten Beschäftigungsverhältnisses korreliert, als ein wirtschafts- und sozialpolitisch besseres Instrument erwiesen als starre Kündigungsfristen. Ebenso sind zielgruppen- oder branchenspezifische
Lohnsubventionen einem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn vorzuziehen.236
4.3.2 Systeme der sozialen Sicherung für die Beschäftigten des informellen Sektors
Der Fokus dieser Arbeit ist allerdings die Verbesserung der sozialen Sicherheit im informellen Sektor selbst. Hierbei handelt es sich um die zweite Strategie zur Verringerung der Risiko-Verletzbarkeit der informell Beschäftigten. Ihr Ziel besteht darin, die
Lücke zu schließen, die in Entwicklungsländern typischerweise im Bereich des informellen Sektors im Gesamtgefüge der sozialen Sicherungssysteme besteht.
236 Vgl. World Bank (1995, 70–79).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nur die Hälfte aller Menschen weltweit ist gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Ernteausfall abgesichert. Dies gilt v.a. für Beschäftigte im informellen Sektor. Lange wurde übersehen, dass hierin nicht nur ein soziales sondern auch ein ökonomisches Problem besteht, da Menschen ohne soziale Sicherheit besonders vorsichtig handeln und zum Beispiel Investitionen in Bildung und Produktionskapital meiden. Sie scheuen die hiermit verbundenen zusätzlichen Risiken und haben Angst, dass ihnen das investierte Geld bei Zahlungsschwierigkeiten nicht kurzfristig zur Verfügung steht.
Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Funktionsweise moderner und traditioneller Systeme der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern und zeigt auf, warum viele von ihnen für informell Beschäftigte ungeeignet sind. Es diskutiert, welche Strategien sich eignen, um die soziale Sicherheit im informellen Sektor zu verbessern und geht insbesondere auf das Potenzial von Kleinstversicherungen ein. Diese zeichnen sich durch niedrige Beitragssätze, flexible Zahlungsmodalitäten und begrenzte Leistungen aus und sind somit ganz an die Möglichkeiten und Bedarfe von Beziehern niedriger Einkommen angepasst, ohne auf Subventionen angewiesen zu sein.