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Fortsetzung Kasten 1 (Fünf Ansätze zur Erklärung der Informalität)
„Institutionalismus“: Abschließend sei noch ein fünfter Erklärungsansatz erwähnt, der „Institutionalismus“ genannt werden soll. Er erklärt das Phänomen der Informalität damit, dass einerseits der Staat
in vielen Entwicklungsländern unfähig sei, die Einhaltung seiner Gesetze und Verordnungen bei allen
Unternehmen und Erwerbsverhältnissen zu kontrollieren, und dass andererseits viele Unternehmer und
Arbeitnehmer unzureichend über die für sie geltenden Normen bzw. deren Vorteile informiert seien.
Zudem bestehen solche Vorteile auch nur in wenigen Fällen, so dass die Formalisierung gar nicht erforderlich erscheint (unabhängig davon, ob sie mit einem geringen oder großen Aufwand verbunden
ist). h
Quelle:
a Vgl. Beattie (2000, 130); Blunch / Canagarajah / Raju (2001, 5 f.); Hemmer (1988, 188–204); Nohlen / Nuscheler (1993, 42 f.).
b Vgl. Maes (2003, 41).
c Vgl. Maldonado (1999a, 3 und 5).
d Vgl. Beattie (2000, 131); BMZ (1999b, 4); Canagarajah / Sethuraman (2001, 12 und 28 f.); Holzmann / Packard / Cuesta (1999, 5 f.).
e Vgl. Elsenhans (1986); Elsenhans (1990, 337 f.); Nohlen / Nuscheler (1993, 44 f.).
f Vgl. Karl (2000, 54); Lautier (2000, 72); Maloney (2003, 12 f.).
g Vgl. u. a. Maloney (2003) zu Lateinamerika und Maldonado (1999b) zu Subsahara-Afrika.
h Vgl. Karl (2000, 53); Maldonado (1999a, 3 f.).
zu kompliziert, zu aufwändig und zu langwierig und Arbeitnehmer-, Umwelt- und
Verbraucherschutzvorschriften sind zu rigide und verursachen zu hohe Kosten.213
In vielen Ländern sind die Zugangsbarrieren zum formellen Sektor aber auch intendiert. Ihr Ziel ist es, die bereits im formellen Sektor etablierten Unternehmen und Erwerbstätigen vor Konkurrenten zu schützen, die ohne die Barrieren in immer größerer
Zahl auf die Märkte des formellen Sektors treten und dadurch den Wettbewerb auf diesen Märkten intensivieren und die Preise drücken würden. In fast allen Entwicklungsländern stammen die politischen Entscheidungsträger aus der städtischen Mittelschicht
oder aber aus der Oberschicht, die ihre Einkommen beide v. a. aus dem formellen Sektor beziehen und somit zu den Hauptnutznießern der Zutrittsbarrieren gehören.214
4.2 Informalität und Risiko-Verletzbarkeit
Informalität hat einen hohen Preis. Nicht alle informell erwerbstätigen Personen sind
arm und überproportional verletzbar durch Risiken, jedoch besteht eine eindeutig positive Korrelation zwischen der Informalität einer Erwerbstätigkeit und der Einkommensarmut und Risiko-Verletzbarkeit der von dieser Erwerbstätigkeit lebenden Personen. In
Abschnitt 2.4 wurde bereits argumentiert, dass Haushalte und Individuen einerseits aufgrund von Risiken materiell verarmen können und dass einkommensschwache Haushalte und Individuen andererseits überdurchschnittlich verletzbar durch Risiken sind, und
sich darüber hinaus besonders risikoavers verhalten und daher der Einkommensarmut
nur schwer entfliehen können.
213 Vgl. Canagarajah / Sethuraman (2001, 13); Maldonado (1999a, 3 und 5); Maloney (2003, 13 f.).
214 Vgl. Develtere / van Durme (2000); Nohlen / Nuscheler (1993, 44 f.).
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Im Folgenden soll nun gezeigt werden, dass die Informalität einer Erwerbsaktivität
ein weiteres Glied in diesem Teufelskreis darstellen kann (Abbildung 11): Oftmals haben die Armen keinen Zugang zum formellen Sektor. Ihnen bleibt daher nichts anderes
übrig, als im informellen Sektor erwerbstätig zu werden. Umgekehrt erzielen die Beschäftigten des informellen Sektors tendenziell kleinere Einkommen als Erwerbstätige
im formellen Sektor und sind überproportional verletzbar durch Risiken.
In Abschnitt 2.4.1 wurde dargelegt, dass der Grad der Risiko-Verletzbarkeit eines
Haushalts oder Individuums (i) von der Relevanz und Signifikanz von Risiken und
(ii) von seinen Risiko-Management-Möglichkeiten abhängt, i. e. von der anfänglichen
Kapitalausstattung des Haushalts bzw. Individuums und seinem Zugang zu angemessenen Systemen der sozialen Sicherung. Nach beiden Kriterien sind informell Beschäftigte stärker verletzbar durch Risiken als Erwerbstätige im formellen Sektor.
Jede Strategie, die auf die Bekämpfung von Armut bzw. die Verbesserung von sozialer Sicherheit abzielt, muss daher v. a. die spezifischen Probleme des informellen Sektors berücksichtigen und in besonderem Maße auf informell erwerbstätige Gruppen fokussieren.215
Relevanz und Signifikanz von Risiken
Risiken haben für die im informellen Sektor erwerbstätigen Personen und deren Angehörige eine größere Bedeutung als für Haushalte und Individuen, die in erster Linie von
Erwerbseinkommen aus dem formellen Sektor leben. Sie sind mehr Risiken ausgesetzt,
die Eintrittswahrscheinlichkeit dieser Risiken liegt höher und auch die möglichen Folgen sind gravierender als für die Beschäftigten des formellen Sektors. Dies liegt vor
allem an den für den informellen Sektor charakteristischen instabilen Einkommens- und
Beschäftigungsverhältnissen:
Unternehmer des informellen Sektors sind Risiken ausgesetzt, die für Unternehmer
des formellen Sektors nicht bestehen oder weitaus weniger bedeutsam sind. Zum einen
handelt es sich hierbei um ökonomische Risiken: Die Nichtrestriktion des Zutritts führt
zu einem intensiveren Wettbewerb und dadurch zu sehr kleinen, volatilen Gewinnmargen. Jede auch noch so kleine Preisänderung auf den Märkten kann für die Produzenten Verluste herbeiführen. Informelle Unternehmer sind somit besonders verletzbar
durch Konjunkturen. Zum anderen bestehen rechtliche Unsicherheiten. Da sich informelle Unternehmen außerhalb des staatlichen Ordnungsrahmens bewegen, fehlt ihnen
die staatliche Anerkennung, die erforderlich ist, um Ansprüche gegenüber dem Staat
geltend zu machen oder gegenüber anderen privaten Akteuren vor Gericht durchzusetzen. Die Unternehmer sind somit der Willkür der Verwaltung und der Justiz ausgeliefert. Zudem leiden sie unter Einschränkungen, was den Zugang zu Kapital, Boden,
Technologie und Know-how angeht.216
215 Vgl. Beattie (2000, 132); Canagarajah / Sethuraman (2001, 8 und 16).
216 Vgl. Blunch / Canagarajah / Raju (2001, 14–20); Canagarajah / Sethuraman (2001, 28–35 und 72–
75).
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Abbildung 11: Zusammenhang zwischen Risiko-Verletzbarkeit, Armut und Informalität
Quelle: eigener Entwurf
Arbeiter auf eigene Rechnung und Hausangestellte leiden ebenfalls unter den genannten ökonomischen und rechtlichen Unsicherheiten. Bei ihnen kommt allerdings
noch hinzu, dass ihr Einkommen von einem (oder zumindest sehr wenigen) Kunden
bzw. dessen (deren) Aufträgen abhängig ist. Aufgrund des starken Wettbewerbs im informellen Sektor können diese Kunden die Preise diktieren und auch auf andere Weise
die Arbeiter bzw. Hausangestellten ausbeuten. Groß ist bspw. bei Frauen die Gefahr der
sexuellen Ausbeutung.217
Die Arbeitnehmer des informellen Sektors sind vor allem aufgrund der Instabilität ihres Beschäftigungsverhältnisses verletzbar. Oftmals verfügen sie weder über einen
schriftlichen noch über einen mündlichen Arbeitsvertrag, so dass ihnen jederzeit mit
sofortiger Wirkung und ohne Anspruch auf Entschädigung gekündigt werden kann.
(Selbst mit einem mündlichen Arbeitsvertrag wäre ein etwaiger gesetzlicher Kündigungsschutz auf dem Rechtsweg kaum durchsetzbar, da mündliche Verträge vor Gericht
nicht belegt werden können.)
Selbst ihren Lohn können Arbeitnehmer ohne schriftlichen Arbeitsvertrag nicht
einklagen, so dass die Arbeitgeber jederzeit die Höhe der Entlohnung herabsetzen
oder die Lohnauszahlung gänzlich unterschlagen können. Ebenso können die Arbeitgeber die Arbeitszeiten willkürlich bestimmen und staatliche Vorschriften zum
Schutz am Arbeitsplatz missachten, da informelle Beschäftigungsverhältnisse vom
Staat und vor Gericht nicht anerkannt werden. Lange Arbeitszeiten, der Umgang mit
gefährlichen Stoffen und das Arbeiten ohne Unfallschutz und Schutzkleidung erhöhen das Risiko von Arbeitsunfällen, berufsbedingten Erkrankungen und einer vorzeitigen Erwerbsunfähigkeit.218
217 Vgl. Canagarajah / Sethuraman (2001, 33–35); Dror / Jacquier (1999, 1).
218 Vgl. Beattie (2000, 131); World Bank (2000a, 145); Klemp (1992, 48).
mehrheitlich geringes
Einkommen
erschwerter Zugang zum
formellen Sektor
Informelle
Erwerbstätigkeit
Eingeschränkte
Möglichkeiten
der sozialen
Sicherung
Hohe Risiko-
Verletzbarkeit
Einkommensarmut
Risiko-averses
Verhalten
Häufiger
Eintritt von
Risiken
Höhere Risikoeintrittswahrscheinlichkeit
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Hierzu trägt auch der harte Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten des informellen Sektors bei: Protestiert der informell beschäftigte Mitarbeiter eines informellen oder auch
formellen Unternehmens gegen die Behandlung durch den Arbeitgeber, so muss er mit
seiner sofortigen Entlassung rechnen. Da die informell Beschäftigten zumeist über keine
Ausbildung verfügen, können sie jederzeit durch anpassungsbereitere Erwerbstätige
ersetzt werden. Hinzu kommt, dass sie oftmals sehr einfache Tätigkeiten verrichten, bei
denen sie kaum etwas dazulernen und somit ihre Erwerbsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt durch ihre Berufspraxis auch nicht verbessern (dead lock-Situation).219
Möglichkeiten des Risiko-Managements
Zugleich bestehen für die im informellen Sektor erwerbstätigen Personen besonders
große Probleme beim Umgang mit ihren Risiken. Weder verfügen sie über hinreichend
große Einkommen und Vermögen, um die möglichen Folgen von Risiken leicht ex post
bewältigen zu können, noch haben sie Zugang zu angemessenen Instrumenten der Risiko-Prävention und der antizipierenden Risiko-Abfederung: Typischerweise klafft in
Entwicklungsländern eine Lücke im Gesamtgefüge der sozialen Sicherungssysteme, die
in erster Linie die in den Städten wohnenden und außerhalb der Landwirtschaft arbeitenden informell Beschäftigten und deren Angehörige betrifft. Sowohl die Landbevölkerung als auch die von formellen Erwerbstätigkeiten lebende Stadtbevölkerung ist sozial besser abgesichert.220
In ländlichen Regionen bieten Solidargemeinschaften vielfach noch einen gewissen
Schutz vor Risiken wie z. B. hohem Alter oder Einkommensausfall durch Erwerbsunfähigkeit. Traditionelle Werte und soziale Verhaltensnormen haben hier einen noch höheren Stellenwert als in den Städten und die persönlichen Beziehungen zwischen Verwandten, Nachbarn und Freunden sind noch vergleichsweise stark und belastbar. Insbesondere die Bewohner abgelegener Dörfer sind aufeinander angewiesen und können
sich nicht aus dem Weg gehen. Auf der Basis einer generalisierten Reziprozität unterstützen sie einander bei Bedarf durch interpersonelle Transfers. Zudem sind sie in der
Lage, Naturalienvorräte anzulegen und ihre Einkommensquellen (z. B. ihre landwirtschaftlichen Anbauprodukte) zu diversifizieren, und können dadurch zahlreiche Risiken
abfedern. Das größte Problem stellen für sie Gesundheitsrisiken dar, da ländliche Regionen oftmals unzureichend mit Gesundheitsdienstleistungen versorgt werden. Empirische Untersuchungen bestätigen, dass nachbarschaftliche Transfers umso bedeutsamer
sind und umso stärker auf einer generalisierten Reziprozität beruhen, je ländlicher die
Wohngegend, je stabiler die Einkommen, je homogener die Bevölkerungsstruktur und
je traditioneller die Wirtschaftsweise und die Wertvorstellungen sind.221
Andererseits bestehen in ländlichen Regionen Risiken wie z. B. Dürre, Überschwemmung, Sturm, die für Stadtbewohner keine so große Bedeutung haben. Nur in
sehr wenigen Ländern bestehen Systeme der sozialen Sicherung, die einen angemessenen Schutz vor solchen Risiken bieten.
Im städtischen Raum helfen sich Nachbarn, Freunde und Verwandte ebenfalls gegenseitig, doch der Umfang und die Zuverlässigkeit der interpersonellen Transfers ist noch
kleiner als innerhalb von Dorfgemeinschaften, weil traditionelle Werte und persönliche
Beziehungen eine geringere Bedeutung haben. Hinzu kommt, dass die Städter ihr Ein-
219 Vgl. Canagarajah / Sethuraman (2001, 34 f.).
220 Vgl. Fuchs (1985, 60 f.); Maes (2003, 42 f.).
221 Vgl. Coudouel et al. (2002, 514 ff.); Fuchs (1985, 58 ff.); Morduch (1999); Wright (1999).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nur die Hälfte aller Menschen weltweit ist gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Ernteausfall abgesichert. Dies gilt v.a. für Beschäftigte im informellen Sektor. Lange wurde übersehen, dass hierin nicht nur ein soziales sondern auch ein ökonomisches Problem besteht, da Menschen ohne soziale Sicherheit besonders vorsichtig handeln und zum Beispiel Investitionen in Bildung und Produktionskapital meiden. Sie scheuen die hiermit verbundenen zusätzlichen Risiken und haben Angst, dass ihnen das investierte Geld bei Zahlungsschwierigkeiten nicht kurzfristig zur Verfügung steht.
Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Funktionsweise moderner und traditioneller Systeme der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern und zeigt auf, warum viele von ihnen für informell Beschäftigte ungeeignet sind. Es diskutiert, welche Strategien sich eignen, um die soziale Sicherheit im informellen Sektor zu verbessern und geht insbesondere auf das Potenzial von Kleinstversicherungen ein. Diese zeichnen sich durch niedrige Beitragssätze, flexible Zahlungsmodalitäten und begrenzte Leistungen aus und sind somit ganz an die Möglichkeiten und Bedarfe von Beziehern niedriger Einkommen angepasst, ohne auf Subventionen angewiesen zu sein.