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2.4.2 Armut
Neben der Verletzbarkeit von Haushalten und Individuen durch Risiken muss auch der
Begriff „Armut“ definiert und für die Zwecke dieser Studie operationalisiert werden.
Vielfach wird Armut im Kontext von Fragen der sozialen Sicherung noch immer (zumindest implizit) mit Einkommensarmut gleichgesetzt, obwohl sich in der internationalen entwicklungspolitischen Diskussion schon seit längerem ein multidimensionales
Verständnis von Armut durchgesetzt hat, das auch nicht-materielle Aspekte mit einbezieht.
Im Folgenden werden vier gängige Definitionen von Armut vorgestellt: der income
approach, der basic needs approach, der capabilities approach und der human rights
approach. Dabei wird diskutiert, inwieweit sie bei der Erörterung von Fragen der sozialen Sicherung geeignet erscheinen.
Der income approach: Die sicherlich älteste Definition der Armut fußt auf ausschließlich monetären Kriterien. Sie interpretiert Armut als einen Mangel an Einkommen bzw. als ein unzureichendes Konsumniveau. Relativ arm sind nach diesem Verständnis Haushalte, deren Einkommen um einen bestimmten Anteil (häufig 25 oder
50 %) unter dem Einkommen eines Durchschnittshaushalts in derselben Region bzw. im
jeweiligen Land liegt. Absolut arm ist hingegen, wessen Einkommen unterhalb eines
bestimmten Niveaus liegt, das als „absolute Armutsgrenze“ bezeichnet wird. Diese
Grenze liegt bei dem Einkommen, mit dem ein Haushalt mit einer bestimmten Zahl von
Mitgliedern bei gegebenen Preisen gerade noch die Konsumausgaben tätigen kann, die
sein Überleben sicherstellen.39
Der Vorteil dieses Ansatzes ist, dass er auf einem eindimensionalen Kriterium beruht
und somit einen Vergleich der Intensität von Armut bei unterschiedlichen Haushalten
(aber auch in unterschiedlichen Ländern und Regionen) zulässt. Zudem lassen sich die
hierfür erforderlichen Daten relativ leicht ermitteln.
Der basic needs approach: Frühe Kritiker einer rein monetären Definition von Armut wandten ein, dass der Konsum eines Haushalts nicht nur durch sein Einkommen
limitiert wird, sondern auch durch das Angebot an den vom Haushalt nachgefragten
Gütern. Bspw. führt ein höheres Einkommen nicht notwendigerweise auch zu einer besseren Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen, Bildung, Trinkwasser oder Verkehrsmitteln. Die Kritiker schlugen vor, Armut als einen Zustand zu definieren, in dem
ein Mensch seine grundlegendsten Bedürfnisse nicht befriedigen kann, wobei „Basic
needs may be interpreted in terms of minimum specified quantities of such things as
food, clothing, shelter water, and sanitation that are necessary to prevent ill health, undernourishment and the like...”40 Einige Vertreter des Grundbedürfnisansatzes gingen so
weit, auch immaterielle Bedürfnisse (sog. „second floor-needs“) mit einzubeziehen. Sie
argumentierten, dass jeder Mensch neben physiologischen schließlich auch psychische,
soziale und kulturelle Bedürfnisse hat wie z. B. nach Sicherheit, Liebe, Achtung, Anerkennung, Harmonie, Unterhaltung und sozialen Kontakten.41
Der Grundbedürfnisansatz konnte sich allerdings nicht durchsetzen, was nicht zuletzt
an seinem umfassenden Anspruch liegt. Um Armut messen zu können, entwarfen seine
39 Vgl. Shaban / Al-Botmeh (1995, 3); World Bank (1990, 40 f.).
40 Streeten et al. (1981, 23). Vgl. auch Lipton / Ravallion (1995, 2566).
41 Vgl. Hemmer (1988, 3 f.).
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Verfechter umfangreiche Indikatorensysteme42, die alle Bedürfnisse des Menschen erfassen sollten. Dabei wurden drei Probleme deutlich: (i) Die Bedürfnisse von Menschen
aus unterschiedlichen Kulturkreisen divergieren, so dass standardisierte Indikatorensysteme gar nicht zulässig sind. (ii) Der Grad der Befriedigung von nichtmateriellen Bedürfnissen lässt sich nicht messen und auch bei materiellen Bedürfnissen ergeben sich
zahlreiche methodische und Datenerhebungsprobleme. (iii) Mit mehrdimensionalen Indikatoren können Vergleiche nur dann angestellt werden, wenn Konsens über die Gewichtung der Einzelindikatoren besteht.43
Der capabilities approach: Andere Kritiker des income / consumption approach betonen, dass der Konsum von Gütern nicht als Endzweck verstanden werden dürfe, sondern nur Mittel zum Zweck sei. Er eröffne lediglich Entscheidungsfreiheiten (capabilities), i. e. die Möglichkeit, bestimmte Aktivitäten durchzuführen.44 Im Einzelnen werden
hierbei unterschieden:
— economic capabilities (Einkommen, Konsum, Vermögen),
— human capabilities (Gesundheit, Bildung, Nahrung, Wasser, Wohnraum),
— political capabilities (Freiheit, Stimme, Einfluss, Macht),
— socio-cultural capabilities (Status, Würde, Dazugehörigkeit, kulturelle Identität)
und
— protective capabilities (Sicherheit vor Risiken und vor Gefährdungen jeglicher
Art).
Nach dem capabilities-approach, der maßgeblich von Amartya Sen45 geprägt wurde,
ist somit die unzureichende soziale Sicherheit eines Haushalts, i. e. seine Risiko-
Verletzbarkeit selbst, eine von fünf Dimensionen der Armut (vgl. Abbildung 4).
Der Ansatz hat sich auf der internationalen Ebene seit dem Weltsozialgipfel in Kopenhagen 1995 weitgehend durchgesetzt, was bspw. im Weltentwicklungsbericht 2000 /
2001, in der Millennium Declaration der United Nations (UN) von 2000 und in den
Leitlinien zur Armutsbekämpfung des Development Assistance Committee (DAC) der
Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) von 2001 deutlich
wird.46
Das Problem des Ansatzes besteht darin, dass es nahezu unmöglich ist, die Entscheidungsfreiheiten (Möglichkeiten) eines Haushalts bzw. Individuums zu operationalisieren und zu messen.
Der human rights approach: Parallel zum Bedürfnis-Ansatz bildete sich ein Ansatz
heraus, bei dem Armut als Mangel an Rechten definiert wird. Zu diesen Rechten zählen
die Verfechter des Ansatzes bspw. das Recht auf Erhalt der Existenz, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Freiheit, das Recht auf Arbeit und angemessene
Arbeitsbedingungen, das Recht auf Bildung, den Anspruch auf nichtdiskriminierende
Behandlung und das Recht auf soziale Sicherheit. Ein Großteil dieser Rechte spiegelt
Grundbedürfnisse eines jeden Menschen wider, jedoch bestehen zwei ganz entscheidende Unterschiede zwischen dem Grundbedürfnis- und dem Menschenrechtsansatz:
42 Vgl. z. B. Adelman / Morris (1967); UNRISD (1970).
43 Vgl. Nohlen / Nuscheler (1993, 106).
44 Vgl. Lipton / Ravallion (1995, 2566 f.).
45 Vgl. Sen (1981).
46 Vgl. World Bank (2000a); IMF et al. (2000); OECD-DAC (2001).
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Abbildung 4: Die international gängige Definition von Armut
Quelle: Entwurf entsprechend OECD-DAC (2001)
So betont der Menschenrechtsansatz, dass jeder Mensch Rechte hat, die ihm in der
Menschenrechtscharta der UN völkerrechtlich zugesichert wurden. Maßnahmen, die die
Befriedigung von Grundbedürfnissen verbessern, haben somit, nach dem Verständnis
des Menschenrechtsansatzes nicht den Charakter von Almosen, sondern dienen der Umsetzung von Rechten. Der Menschenrechtsansatz ist also sehr viel politischer: Er definiert auch materiell wohlhabende Personen als arm, wenn ihnen die grundlegendsten
demokratischen Freiheits- und Mitspracherechte in ihrem Staat abgesprochen werden
oder wenn sie keinen Zugang zu Instrumenten der sozialen Sicherung haben.
Auch bei der Beschäftigung mit Fragen der sozialen Sicherheit sollten diese unterschiedlichen Definitionen von Armut im Blick bleiben, weil sie die verschiedenen Aspekte dieses Phänomens hervorheben. Auch in dieser Studie soll die Vielschichtigkeit
dessen, was Armut ausmacht, nicht in Vergessenheit geraten. Darum wird, wo immer
dies erforderlich oder sinnvoll erscheint, auch auf nichtmonetäre Erscheinungsformen
von Armut hingewiesen.
In vielen Fällen muss aber aus praktischen Gründen auf einen eindimensionalen Indikator zurückgegriffen werden, wie ihn der income approach zur Definition von Armut
anbietet. Unterschiedliche Untersuchungen haben gezeigt, dass die Einkommensarmut
von Haushalten und Individuen sehr stark mit anderen Aspekten der Armut korreliert
und somit eine sehr hohe Aussagekraft aufweist.47 Hinzu kommt, dass viele Systeme der
sozialen Sicherung ohnehin nur finanzielle Kompensationen leisten und daher auch nur
vor materiellen Risikoschäden und vor rein materieller Armut schützen können (unter
Einschluss der materiellen Folgewirkungen von primär immateriellen Schäden wie z. B.
47 Vgl. Lipton / Ravallion (1995, 2567).
40
einer Krankheit oder eines Todesfalles). In solchen Fällen ist es zulässig, Armut mit
Einkommensarmut gleichzusetzen. Dies ist hingegen inakzeptabel, wenn Systeme der
sozialen Sicherung grundsätzlich auch vor immateriellen Auswirkungen von Risiken
schützen könnten. Dann nämlich verstellt ein Gleichsetzen von Armut und Einkommensarmut den Blick auf alternative Strategien der sozialen Sicherung, die auch zur
Bekämpfung von nichtmaterieller Armut beitragen könnten.
2.4.3 Risiken als Armutsfaktoren und die Armutsfalle
Nun stellt sich die Frage, welcher Zusammenhang überhaupt zwischen den Risiken
bzw. der Risiko-Verletzbarkeit von Haushalten und Individuen auf der einen und ihrer
Armut auf der anderen Seite besteht und welche Konsequenzen sich hieraus ergeben.
Eine ganz eindeutige Antwort hierauf gibt die Studie „Voices of the Poor“, die als
Hintergrundbericht für den Weltentwicklungsbericht 2000/2001 erstellt wurde. Sie beruht auf den Aussagen von armen und armutsgefährdeten Menschen in unterschiedlichen Ländern der ganzen Welt, denen die Frage gestellt wurde, was für sie Armut ist,
warum sie arm bzw. armutsgefährdet sind und woran es ihnen mangelt, um ihre Situation zu verbessern.48
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Risiken und die Verletzbarkeit durch Risiken für den Einzelnen einen von drei zentralen Faktoren der Armut darstellen (vgl. Abbildung 5). Armut kann demnach zurückgehen auf
— einen Mangel an Sach-, Finanz-, Human- und Sozialkapital bzw. an Einkommen
aus solchem Kapital („lack of income and assets“),
— unzureichende Rechte und begrenzte Möglichkeiten des Zugangs zu Märkten
und anderen Institutionen sowie der Einflussnahme auf politische Entscheidungen („voicelessness and powerlessness“) und
— eine hohe Verletzbarkeit durch Risiken („vulnerability“).
Hierzu kann man folgende Überlegung anstellen: Jeder Haushalt und jedes Individuum kann Einkommen aus zwei Quellen beziehen: seiner reinen Arbeitskraft und dem
Ertrag seines Kapitals. Bei diesem Kapital kann es sich (i) um Finanzkapital (Sparguthaben, Aktien, vermietete Immobilien, Spekulationsgegenstände etc.), (ii) um produktives Sachkapital (Maschinen, Produktionsanlagen, Geschäftsräume), (iii) um Humankapital in Form von guter Gesundheit (für eine hohe Arbeitsproduktivität) und Fähigkeitskapital (Bildung, Know-how, Geschicklichkeiten, Berufserfahrungen usw.) oder (iv) um
Sozialkapital (soziale Kontakte, Beziehungen, Geschicklichkeit im sozialen Umgang,
Einbindung in soziale Netzwerke) handeln. Jeder dieser Vermögensposten kann genutzt
werden, um Kapitaleinkommen zu generieren oder das Erwerbseinkommen zu verbessern. Verfügt ein Haushalt über keinerlei Kapital dieser Art, so kann er nur durch einfache, unqualifizierte Arbeit Einkommen erwirtschaften. Armut kann daher auf einen
Mangel an Kapital zurückzuführen sein.
48 Vgl. World Bank (2000a, 34).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nur die Hälfte aller Menschen weltweit ist gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Ernteausfall abgesichert. Dies gilt v.a. für Beschäftigte im informellen Sektor. Lange wurde übersehen, dass hierin nicht nur ein soziales sondern auch ein ökonomisches Problem besteht, da Menschen ohne soziale Sicherheit besonders vorsichtig handeln und zum Beispiel Investitionen in Bildung und Produktionskapital meiden. Sie scheuen die hiermit verbundenen zusätzlichen Risiken und haben Angst, dass ihnen das investierte Geld bei Zahlungsschwierigkeiten nicht kurzfristig zur Verfügung steht.
Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Funktionsweise moderner und traditioneller Systeme der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern und zeigt auf, warum viele von ihnen für informell Beschäftigte ungeeignet sind. Es diskutiert, welche Strategien sich eignen, um die soziale Sicherheit im informellen Sektor zu verbessern und geht insbesondere auf das Potenzial von Kleinstversicherungen ein. Diese zeichnen sich durch niedrige Beitragssätze, flexible Zahlungsmodalitäten und begrenzte Leistungen aus und sind somit ganz an die Möglichkeiten und Bedarfe von Beziehern niedriger Einkommen angepasst, ohne auf Subventionen angewiesen zu sein.