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rung der Staatsgeschäfte benötigt wird.665 Tun sie sich positiv hervor, können sie in
höhere Ebenen aufsteigen, in denen sicheres und sensibles Agieren vorausgesetzt
wird.
II. Berührungspunkte mit der Abweichungsgesetzgebung
1. Der Primat der unteren Ebenen – eine verfassungshistorische Note
Schon die Zielvorstellungen der Reformdebatte während der Bundesstaatskommission gingen, bei unterschiedlicher Akzentsetzung durch die Vertreter von Bund und
Ländern,666 dahin, durch eine Reföderalisierung der Kompetenzordnung die politische Verantwortung eindeutiger zuzuordnen, um die Transparenz politischer Entscheidungsprozesse zu erhöhen und somit insgesamt die ordnungspolitischen Potentiale des Föderalismus für die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes neu zu
erschließen.667 Die Einführung der materiellen und formellen Abweichungsgesetzgebung kann in diesem Sinne als eine der auffälligsten Stärkungen der Landesparlamente gelten. Ihnen ist es fortan erlaubt, in speziellen Bereichen bereits ergangenes Bundesrecht für ihren Einflussbereich in der Anwendung zu verdrängen, in dem
sie eigenes Recht setzen, das die Stelle des verdrängten Bundesrechts einnimmt.
Landesrecht triumphiert hier also über Bundesrecht – eine Vorstellung, mit der sich
vor allem während der Beratungen der Bundesstaatskommission nur die Wenigsten
anfreunden konnten.668 Vom staatsorganisatorischen Standpunkt aus schien die Abweichungsoption dem von Art. 31 GG geprägten System der Kompetenzordnung zu
widersprechen, das im Kollisionsfall den uneingeschränkten Vorrang von Bundesrecht vorsah.669 Die Einordnung der länderseitigen Zugriffsrechte als systemfremd
ist dabei zutreffend, wenn man als Vergleichsmaßstab die neuere Geschichte des
deutschen Staatswesens zu Grunde legt. Art 13 WeimRV, Art. 2 S. 1 RV 1871 und §
66 der Paulskirchenverfassung von 1849 kannten sämtlich den Vorrang des territorial und personell umfassenderen vor dem kleineren, spezielleren Rechtskreis.670 Weitet man allerdings den Fokus und betrachtet auch die weiter zurückliegenden Verhältnisse der Staatsebenen zueinander, so kommt man zu der Erkenntnis, dass der
Geltungsvorrang von Rechtssätzen der „höheren“ Regelungsstufe keine historische
Selbstverständlichkeit darstellt. Vielmehr gibt es in weiter zurückliegenden Zeiten
Beispiele für ein diametral entgegengesetztes Verhältnis: Stadtrecht brach Land-
665 Laufer, in: Laufer, Föderalismus, S. 85; Zippelius, Allg. Staatslehre, § 39, I, 2.
666 Zu den unterschiedlichen Positionen, siehe Haug, DÖV 2004, 190 (190 ff.).
667 Dittmann, in: Gornig/Kramer/Volkmann, Staat – Wirtschaft – Gemeinde, S. 253 (S. 255); zu
den Zielsetzungen einer föderalen Ordnung, siehe unter historischem Blickwinkel Deuerlein,
Föderalismus; siehe auch Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof, HStR II (2004), § 29, Rn. 11 f.
668 Siehe beispielsweise die Stellungnahmen von Kirchhof, Zur Sache 1/2005, Kom-Drs. 11, S.
6; und Schneider, Zur Sache 1/2005, AU 86, S. 6.
669 Zum Verhältnis von Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG und Art. 31 GG siehe oben Kapitel 2, C. IV. 2.
670 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 25 (m.w.N.).
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recht, das wiederum das gemeine Recht brach.671 Erst im 16. und 17. Jahrhundert hat
die Gesetzgebung des Reiches einen gewissen Vorrang gegenüber den Partikularrechten erlangt.672 Salvatorische Klauseln wie etwa in der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 (Peinliche Gerichtsordnung Karls V.) machten es teilweise aber für
die Territorialherren immer noch unmöglich, ohne Mitwirkung ihrer Landstände das
eigene Recht aufzuheben und führten damit das althergebrachte Verständnis von der
Statutentheorie fort. Soweit das Reichsrecht in Vorschriften des Privat- oder Strafrechts salvatorische Klauseln enthielt, entsprach dies der Anerkennung einer generellen Subsidiarität des Reichsrechts gegenüber den nachgeordneten Rechtskreisen.673
Das Beispiel Österreichs hat gezeigt, dass die derogatorische Kraft der Bundesgegenüber den Landesnormen auch in der Gegenwart keine bundesstaatsdogmatische Notwendigkeit darstellt. Das Fehlen einer dem deutschen Art. 31 GG ähnlichen
Anordnung folgt für den österreichischen Bundesstaat allerdings aus der Auffassung, dass sich das Verhältnis von Bund und Ländern nicht als ein solches der Überund Unterordnung darstellt, sondern als ein Nebeneinander, das auf Grund der strikten Trennung der Kompetenzsphären möglich wird (Parität).674 In diesem Sinne mögen die vorangegangenen Hinweise den Stimmen, die die Abweichungsgesetzgebung als Fremdkörper im deutschen bundesstaatlichen Gefüge bezeichnen, als hermeneutisches Regulativ dienen. Wenn die Einordnung der Abweichungsoptionen
der Länder als systemfremd im Zusammenhang mit der Entwicklung seit dem 19.
Jahrhundert ihre Berechtigung hat, so muss anerkannt werden, dass die Möglichkeit
des Vorranges von Gliedstaatenrecht vor Bundesrecht keineswegs einen Widerspruch zum staatlichen Mehrebenengefüge an sich beinhaltet. Vielmehr bietet die
deutsche Verfassungsgeschichte Beispiele für einen Primat der territorial nachgeordneten Ebenen, den die Abweichungsgesetzgebung in gewisser Weise ebenfalls
verwirklicht.
2. Der lernende Föderalismus
Als liberales Gegenkonzept zum kooperativen Föderalismus675 kann die Idee des
Wettbewerbsföderalismus676 bezeichnet werden. Sie geht davon aus, dass ein wirksamer Föderalismus auch von Anregung, Profilierung und Konkurrenz auf horizontaler Ebene zwischen den Gliedern lebt, woraus eine immer bessere, nützlichere
671 Für eine eingehendere Betrachtung, siehe Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte Bd. 2, S. 357
f.; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 26.
672 Schneider, Gesetzgebung, Rn. 650.
673 März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 46 f.
674 Siehe zu diesem Themenkomplex oben Kapitel 3, C. II. und III.
675 Grundlegend zum Begriff des kooperativen Bundesstaates Kisker, Kooperation im Bundesstaat, S. 49 ff.; Hesse, in: Ritterspach/Geiger, Festschrift für Gebhard Müller, S. 141 ff..
676 Zum Begriff des Wettbewerbsföderalismus siehe Zenthöfer, Wettbewerbsföderalismus, S.
106 ff.; Klatt, in: Meier-Walser/Hirscher, Krise und Reform des Föderalismus, S. 64 ff.
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Aufgabenerfüllung für die Bürger hervorgehe.677 Dabei darf der Begriff des Wettbewerbs in diesem Zusammenhang nicht falsch verstanden werden. Es handelt sich
nicht um einen Wettbewerb im wirtschaftlichen Sinne. Hierfür fehlt es schon an den
Voraussetzungen. Weder bieten die Länder ihre „Leistungen“ auf einem „Markt“ an,
noch sind sie frei in ihren Entscheidungen, andere in ihren Preisen zu unterbieten
oder in der Qualität zu überbieten. Staaten erfüllen Aufgaben im Allgemeininteresse
und dabei auch solche, die niemand freiwillig übernähme.678 Sie können sich nicht
auf rentable Geschäfte konzentrieren, wenn sie nicht ihre Aufgabe, das Wirken im
Sinne des Gemeinwohls, aufgeben wollen. Bei dem Ziel, „Wettbewerb“ zwischen
den Ländern anzustreben, kann es sich also nicht um ein wirtschaftlich motiviertes
Leitmotiv des Föderalismus handeln. Mit „Wettbewerb“ ist hier vielmehr ein Element der Bundesstaatslehre gemeint, das in der Vergangenheit zu Unrecht an Bedeutung verloren hat. Die Länder sollen um die besten Lösungen gemeinsamer oder
auch punktueller Probleme wetteifern und dabei Spielräume für innovative, gegebenenfalls auch nonkonformistische Entscheidungen besitzen. Vielfalt politischer, kultureller und sozialer Kräfte und Initiativen sind seit jeher Merkmale eines zukunftsträchtigen Bundesstaates.679 Das Ziel besteht also nicht in einer Einheitlichkeit der
Lebensverhältnisse, sondern in einer regional bezogenen Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse gemäß den Präferenzen der jeweiligen Bevölkerungsteile.680 Die
durch den hier gemeinten Wettbewerb ausgelöste Konkurrenz der bundesstaatlichen
Ebenen untereinander (vertikal, wie horizontal) wird dabei nicht um ihrer selbst betrieben, sondern mit dem Ziel einer Optimierung staatlichen Handelns im Interesse
von besseren Lebensbedingungen, der Modernisierung der einzelnen Länder, politischer Innovation sowie sachnaher Problemlösungen.681 Knapper formuliert könnte
man diese Abläufe auch als „lernenden Föderalismus“ beschreiben. Dies sind Optimierungskräfte, die in einem Einheitsstaat nicht in diesem Maße greifen können und
in einem unitarischen Bundesstaat vernachlässigt werden. Würde beispielsweise die
Bildungspolitik durch den Bund vereinheitlicht, bestünde zumindest eine erhebliche
Gefahr der Nivellierung nach unten.682 Das Belassen der Entscheidungsräume auf
den unteren Ebenen weckt deren Ehrgeiz, die Leistung in jenen Sektoren zu steigern,
in denen sie von den Nachbargliedern überflügelt werden. Ein Punkt, der im übrigen
Hand in Hand mit dem bereits angesprochenen der personellen Experimentierfelder
geht. Wettbewerb ist kein Abstraktum, sondern wird von Personen getragen. Der
Wille der politischen Akteure, die eigene Position zu etablieren, ist an Erfolge in der
Positionierung des Gliedstaates geknüpft, wodurch Synergieeffekte entstehen. Ein
nicht übersteigerter Wettbewerbsföderalismus ist also im Interesse aller: Auf diese
677 Schmidt-Jortzig, DÖV 1998, 746 (749).
678 Bull, DÖV 1999, 269 (275).
679 Vogel, in: Handbuch des Verfassungsrechts, 1041 (1093). Bezüglich des deutschen Bundesstaates wurde hingegen eine Stabilitätsfixierung bemängelt, die das Bewährte dem Innovativen vorzieht, siehe Schultze, in: APuZ 13-14/2005, 13 (19).
680 Klatt, in: Meier-Walser/Hirscher, Krise und Reform des Föderalismus, S. 64 (S. 71).
681 Klatt, in: Meier-Walser/Hirscher, Krise und Reform des Föderalismus, S. 64 (S. 71).
682 Haug, DÖV 2004, 190 (197).
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Weise wird ein Maximum an Motivation zur bestmöglichen Erledigung öffentlicher
Aufgaben geschaffen.
Dennoch wird der Begriff des Wettbewerbsföderalismus dabei häufig als Aufkündigung der Solidarität zwischen den Ländern verstanden und provoziert damit
„reflexartige Abwehrreaktionen“.683 Dies dürfte damit zusammenhängen, dass der
Wettbewerb um Modelle in seiner Funktion nicht durchdrungen wird und sofort auf
eine Fehlvorstellung vom Begriff eines wirtschaftlichen Wettbewerbs im oben skizzierten Sinne rekurriert wird. Diese Haltung wird in ernüchternder Weise von der
bereits erwähnten, im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung durchgeführten Befragung
der Bevölkerung zur Rolle der deutschen Bundesländer dokumentiert und provoziert.684 So sollten die Befragten angeben, in welchen Bereichen sie Wettbewerb für
begrüßenswert hielten. Sie hatten dabei die Wahl zwischen den Varianten „zwischen
den Bundesländern“, „zwischen Städten und Gemeinden“, „zwischen Ländern der
EU“ und „zwischen Großunternehmen“.685 Während die Variante „zwischen Großunternehmen“ deutliche Zustimmung genoss, wurde ein Wettbewerb zwischen den
Bundesländern von mehr als der Hälfte der Befragten abgelehnt. Das verwundert bei
der Art der Fragestellung jedoch auch nicht allzu sehr, suggeriert sie doch eine Vergleichbarkeit des Wettbewerbs der freien Marktwirtschaft mit dem Wettbewerb um
Regelungslösungen durch Hoheitsträger und malt einen ruinösen Wettlauf der Bundesländer nach unten an die Wand.
Mit der Vollendung des europäischen Binnenmarktes hat der Bundesgesetzgeber
gleichzeitig seine Funktion eingebüßt, gleichmäßige Wettbewerbsvoraussetzungen
für alle auf dem deutschen Markt agierenden Unternehmen zu sichern. Was einheitlich geregelt werden sollte, muss heute auf europäischer Ebene geregelt werden.
Umgekehrt gewinnen in der europäischen Standortkonkurrenz Spezialisierungsvorteile an Bedeutung, die bei der heterogenen Wirtschaftsstruktur der Bundesrepublik
regional differenzierende Lösungen vorteilhaft erscheinen lassen.686 Es dürfte sich
bei der Handhabung der Abweichungsgesetzgebung mittelfristig herausstellen, dass
diese für einen intraföderalen Wettbewerb um neue Regelungsmodelle durchaus geeignet ist. Der große Unterschied innerhalb der konkurrierenden Gesetzgebung zwischen der aktuellen Rechtslage und der vor 2006 ist die teilweise Nichtgeltung der
Sperre des Art. 72 Abs. 1 GG für die Bundesländer. Im Rahmen der Gebiete, die der
Abweichungsgesetzgebung unterfallen, bleiben die Länder trotz vorangegangener
Bundesregelung zur eigenen Normsetzung befugt. Aus diesem Umstand folgt die
Möglichkeit des Nebeneinanderstehens von bis zu 16 verschiedenen Regelungsmodellen. Eine solche Vielfalt der Lösungsansätze stellt eine zentrale Kapazität der föderalen Ordnung dar. Wenn man unterstellt, dass nicht jedes Regelungsmodell auf
Anhieb auch eine gelungene Problemlösung darstellt, so kann die Wahrscheinlich-
683 Herzog, APuZ 50/2006, 3 (4).
684 Dokumentation der Befragung „Bürger und Föderalismus – Eine Umfrage zur Rolle der Bundesländer“, siehe oben unter Kapitel 4, B. II. 2.
685 aaO, S. 25.
686 Scharpf, APuZ 50/2006, 6 (8).
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keit, dass im deutschen Bundesstaat in den Bereichen der Abweichungsgesetzgebung richtige Lösungen gefunden werden, als siebzehnmal687 höher angesehen werden, als wenn nur ein einziger Lösungsansatz zur Verfügung stünde.688
Das Finden richtiger (guter) Lösungsmodelle wird durch das Abweichungsmodell
des Art. 72 Abs. 3 GG nicht nur wahrscheinlicher. Gegenüber einer einheitlichen
Bundeslösung bestehen auch Vorteile in Bezug auf die Zeitspannen, die zur Datengewinnung durch das „trial and error“-Prinzip eingerechnet werden müssen. Während sich beispielsweise bei einer abweichenden Regelung des Wasserhaushalts689
durch sechs Bundesländer sieben Regelungsvarianten gleichzeitig dem Praxistest
unterziehen müssen, kann sich im Bereich der Abfallwirtschaft690 im Falle einer
bundeseinheitlichen Regelung in derselben Zeit nur ein einziges Lösungsmodell in
der Praxis behaupten. Durch die parallele Geltung verschiedener landesrechtlicher
Modellvarianten kann also eine Vielzahl an Daten innerhalb relativ kurzer Zeit gewonnen werden. Durch die Möglichkeit der gegenseitigen Verdrängung von Bundes- und Landesrecht gem. Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG steigt auch die potentielle Frequenz der neuerlichen Modellanwendung. Beide Regelungsebenen haben jederzeit
die Möglichkeit, bereits gewonnene Erfahrungen mit anderen Regelungsvarianten in
ein aktuelles Normierungsmodell einfließen zu lassen, ohne etwa abwarten zu müssen, bis die Gebietskörperschaft, die die momentane Gesetzeslage verantwortet, die
Regelung zur Ersetzung freigibt (wie beispielsweise beim nie genutzten Art. 72 Abs.
4 GG).
Die Erfahrungen von Bund und Ländern mit verschiedenen Lösungsansätzen
können also nicht nur schneller gesammelt, sondern auch schneller verarbeitet werden, als wenn die Sachbereiche nur einer Regelungsebene zugeteilt wären. Diese
Vorteile stechen also prinzipiell gegenüber der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes und der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz ohne
Abweichungsrecht hervor. In diesen Bereichen wird durch eine ergangene Bundesregelung die Möglichkeit zur entsprechenden Datengewinnung eingeschränkt. In
abgemilderter Form bestehen solche Vorzüge der Abweichungsgesetzgebung auch
gegenüber der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz der Länder. Bei letzterer
ist prinzipiell die parallele Erprobung 16 verschiedener gesetzgeberischer Lösungswege möglich. Allerdings hängt die Verarbeitung gewonnener Erfahrungen in einem
neuen Modell nicht von zwei potentiellen Akteuren ab, sondern exklusiv von nur
einem. Die Regelung der entsprechenden Materien ist somit „nur“ einem Wettbewerb der Länder untereinander unterworfen, nicht jedoch einem solchen zwischen
Bund und Ländern. Dieser Vergleich darf nicht im Sinne einer Werbung für eine
Rückführung ausschließlicher Landeskompetenzen missverstanden werden. Er soll
687 Eine Regelungsmöglichkeit des Bundes plus 16 Regelungsmöglichkeiten durch die Länder.
688 Herzog, APuZ 50/2006, 3 (4).
689 Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung, Art. 74 Abs. 1 Nr. 32 GG mit Abweichungsmöglichkeit durch die Länder nach Art. 72 Abs. 3 GG.
690 Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung, Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG, der nach einer
Regelung durch den Bund insoweit nach Art. 72 Abs. 1 GG für die Länder gesperrt ist.
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lediglich die grundsätzlichen Potentiale der Abweichungsgesetzgebung veranschaulichen, die im Bereich der Datengewinnung bezüglich der Qualität neuer Regelungsmodelle und deren Umsetzung liegen. Der sachliche Umfang der Experimentiermöglichkeiten durch die Abweichungsgesetzgebung ist freilich auf wenige materielle Bereiche beschränkt. Mit einigen Aspekten des Umwelt- und Hochschulrechts
sind sogar nur zwei Politikfelder betroffen.691 Die momentane Ausgestaltung könnte
jedoch ein „Fuß in der Tür“ für zukünftige Ausweitungen der Abweichungsmaterien
sein.692 Durch ihr „trial and error“-Konzept und die Möglichkeiten zur schnellen
Gewinnung von Erfahrungswerten, stellt sich die Abweichungsgesetzgebung als
Element eines lernenden Föderalismus dar.
Konflikte eines Landes mit dem Bund oder der Länder untereinander, die dabei
auf Grund der Nutzung der Abweichungsmöglichkeiten aus Art. 72 Abs. 3 GG und
Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG entstehen könnten, müssen darüber hinaus auch nicht negativ
bewertet werden. Sie bergen Profilierungspotential für die politischen Akteure. Diese können Landespolitik nicht nur um ihrer selbst vertreten, sondern sie auch als
Ressource für den Konflikt beziehungsweise Dialog mit dem Bund nutzen. Die
Schnittstelle zwischen der Anwendung von Bundes- und Landesrecht, die die Abweichungsgesetzgebung darstellt, könnte sich hier als besonders lohnend herausstellen, um Erfahrungen mit der gesetzgeberischen Handhabe auf Landes-, wie auch
Bundesebene zu sammeln.
E. Die Abweichungsgesetzgebung als Element eines asymmetrischen Bundesstaates
Die Bundesstaatlichkeit ist darauf angelegt, zwei Zielrichtungen miteinander zu verbinden. Zum einen soll die Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse im Bundesstaat
berücksichtigt werden, zum anderen soll aber auch eine gewisse Einheitlichkeit erreicht werden. Wendet man sich zum Aspekt der zu fördernden oder zu erhaltenden
Vielfältigkeit, so ist damit eine Abwesenheit von völliger Gleichheit, also die Existenz von Ungleichheiten zwischen den Gliedern des bundesstaatlichen Gebildes verbunden. Für diesen Umstand ist in der Literatur der Begriff der Asymmetrie geprägt
worden.693 Spiegelbildlich steht demnach eine große Homogenität oder Gleichheit
im Bundesstaat für dessen Symmetrie.694 Hinsichtlich des Begriffes der Asymmetrie
ist zwischen einer de facto Asymmetrie und einer de jure Asymmetrie zu unterscheiden:
Die de facto oder tatsächliche Asymmetrie bezieht sich dabei auf faktische Gegebenheiten innerhalb des Bundesstaates, wie etwa geographische Besonderheiten,
691 Für das Umweltrecht siehe Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (251).
692 Diese Hoffnung hegt auch in Bezug auf eine zukünftige Modifizierung der Abweichungsgesetzgebung Scharpf, APuZ 50/2006, 6 (11).
693 Vgl. Watts, Ronald, Comparing federal systems, S. 63 ff.; Tarlton, Charles, Symmetry and
asymmetry as elements of federalism, in: Journal of Politics 27 (1965), S. 861 (S. 869).
694 Tarlton, in: Journal of Politics 27 (1965), S. 861 (S. 867).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit der 2006 in Kraft getretenen „Föderalismusreform I“ ist es den Ländern im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung möglich, Regelungen zu erlassen, die Bundesgesetzen widersprechen. Neben den Fragen die durch diese Neuerungen aufgeworfen werden, analysiert der Autor die Möglichkeiten und Grenzen des Modells sowie mit einem Blick ins Ausland ähnliche Konzepte. Er gelangt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der bundesdeutschen Kompetenzsystematik durch die erhöhte Bewegungsfreiheit der Länder, Elemente eines lernenden Föderalismus hinzugefügt werden und leistet hiermit einen Beitrag zu der Diskussion um das Abweichungsmodell, die sich bisher noch auf keinen reichhaltigen Erfahrungsschatz beziehen kann.