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dem Vertrauensschutz des Normadressaten ergeben. Dieser wird vor allem für zwei
Bereiche des legislativen Tätigwerdens des Staates relevant: Zum einen für rückwirkende Gesetze und zum anderen für solche Gesetze, die zwar für die Zukunft gelten,
dabei aber auf bereits entstandene Sachverhalte einwirken.336 Machen sich Bund
oder Länder im Bereich der Abweichungsgesetzgebung an die erneute Normierung
eines Regelungsgebietes, so können hierdurch bestehende Rechtspositionen der
Normadressaten tangiert werden, die durch die vorangegangene Normierung der anderen Regelungsebene begründet wurden. Da der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Vertrauensschutz aus der Sicht des betroffenen Normadressaten zu begreifen
ist, wird auch deutlich, dass rückwirkende beeinträchtigende Regelungen den
Normunterworfenen im selben Maße betreffen, ganz gleich, ob diese von derselben
oder einer anderen Regelungsebene getroffen wurden. Maßgeblich ist allein der
Umstand, dass diese Regelungen in der Lage sind, auf erworbene Rechtspositionen
einzuwirken. Dass die Beeinträchtigung dabei von einer anderen Regelungsebene
ausgeht als die ursprüngliche Begründung der Rechtsverhältnisse, kann nicht dazu
führen, dass das Prinzip des Vertrauensschutzes nicht anwendbar ist. Dieser Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips würde ansonsten punktuell pervertiert. Allerdings
wird auch klar, dass das Gebot des Vertrauensschutzes damit nicht die Funktion einer spezifischen Schranke für die Ausübung der Befugnis aus Art. 72 Abs. 3 GG erfüllt. Vielmehr gelten für diesen Bereich genau dieselben Erfordernisse des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes, wie sie auch sonst bei den durch andere Kompetenzarten legitimierten Neuordnungen eines Rechtsgebietes gelten.337 Der Vertrauensschutz des Normunterworfenen wirkt hier also als Schranke bezüglich des „Wie“ der
Regelung im selben Maße, wie bei allen anderen Arten des gesetzgeberischen Tätigwerdens auch. Er weist jedoch keinen spezifischen Bezug zum Charakter der
Abweichungsgesetzgebung als real konkurrierende Gesetzgebungskompetenz auf.
V. Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse
In der Vergangenheit hat das Kriterium der „Gleichheit der Lebensverhältnisse“ im
Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung erheblich zur Unitarisierung der Gesetzgebung beigetragen. Einerseits als positiv gesetzliche Barriere, die es dem Bund ermöglichte, bundeseinheitliche Gesetze zu erlassen und andererseits als faktische
Barriere, da die Länder sich legislativ selbst bundesweit koordinierten, um ersterem
zuvor zu kommen. Als positiv gesetzliche Schranke kann dieses Kriterium jedoch
für die Abweichungsgesetzgebung nicht fungieren, da die in Art. 72 Abs. 2 GG aufgezählten Regelungsgebiete nicht deckungsgleich mit denen des Art. 72 Abs. 3 GG
sind. Eine Rolle könnte das Kriterium der Gleichheit der Lebensverhältnisse allenfalls noch als selbstverfügte Schranke der Länder spielen. Doch das ist eher fraglich.
336 Siehe Maurer, in: Isensee/Kirchhof, HStR III (1996), § 60, Rn. 10 ff.
337 Für den Bereich der Ersetzungsbefugnis der Länder nach Art. 72 Abs. 4 GG hebt dies ohne
eingehendere Erörterung auch hervor: Degenhart, NVwZ 2006, 1209 (1211).
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Denn der Druck für die Länder, einander deckungsgleiche Regelungen zu erlassen,
besteht im Bereich des Art. 72 Abs. 3 GG nicht in der Form, wie er im Bereich des
Art. 72 Abs. 2 GG besteht. Der Bund kann in jenen Regelungsgebieten, für die ein
Abweichungsrecht besteht, den Ländern nicht in der Form zuvor kommen, dass die
Schranke des Art. 72 Abs. 1 GG gälte. Dies ist nur für die Regelungsgebiete des Art.
74 Abs. 1 Nrn. 1 – 27 GG der Fall. Eine Vorab- Selbstkoordinierung der Länder zur
Erreichung eines bundesweit einheitlichen Regelungszustandes ist in den Bereichen
des Art. 74 Abs. 1 Nrn. 28 - 33 GG also überflüssig. Die Ausbildung einer faktischen Schranke für die Abweichungsgesetzgebung durch das Kriterium der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse ist also nicht zu erwarten.
VI. Höherrangiges Recht
Der verfassungsändernde Gesetzgeber machte – ohne dass dies einer Klarstellung
bedurft hätte – deutlich, dass die Landesgesetzgeber in Ausübung ihres Abweichungsrechtes an verfassungs-, europa- und völkerrechtliche Vorgaben in gleicher
Weise gebunden sein sollen wie der Bund.338 Durch die zusätzliche Bindung an einfaches Bundesrecht und Landesverfassungsrecht, sind die Länder hier allerdings ein
Stück unfreier als der Bund. Wie auch für den Bereich des Vertrauensschutzes konstatiert wurde, weist diese Bindung des Gesetzgebers jedoch lediglich einen Bezug
zum gesetzgeberischen Tätigwerden an sich auf.339 Hinsichtlich des Umstands, dass
Bund und Länder im Bereich der Abweichungsgesetzgebung quasi real um die
Normierung der betreffenden Rechtsgebiete konkurrieren, ergeben sich jedoch keine
spezifischen Implikationen.
VII. Zusammenfassung
Die Abweichungsbefugnis aus Art. 72 Abs. 3 GG ist nicht schrankenlos. Für die
Länder ergeben sich aus dem Verfassungstext selbst bereits Einschränkungen in
Form der abweichungsfesten Sektoren. In diesen Bereichen sind die Länder nicht
von der Schrankenwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG befreit und können hier dementsprechend von vornherein nicht von vorausgegangenen Bundesgesetzen abweichen. Eine Sonderstellung unter den abweichungsfesten Sektoren hat – zwar nicht
hinsichtlich der Wirkungsweise, jedoch in Bezug auf seine systematischen Implikationen – Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG, der den Ländern abweichende Regelungen für
den Bereich der „Grundsätze des Naturschutzes“ vorenthält. Diese Aussperrung der
Länder aus den Grundsatzfragen des Naturschutzes, rückt den Kompetenztitel des
338 BT-Drs. 16/813, S. 11. Siehe auch Rengeling, DVBl 2006, 1537 (1542); Sannwald, in:
Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, Art. 72, Rn. 8i.
339 Das hebt auch hervor: Huber, in: Blanke/Schwanengel, S. 21 (31).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit der 2006 in Kraft getretenen „Föderalismusreform I“ ist es den Ländern im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung möglich, Regelungen zu erlassen, die Bundesgesetzen widersprechen. Neben den Fragen die durch diese Neuerungen aufgeworfen werden, analysiert der Autor die Möglichkeiten und Grenzen des Modells sowie mit einem Blick ins Ausland ähnliche Konzepte. Er gelangt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der bundesdeutschen Kompetenzsystematik durch die erhöhte Bewegungsfreiheit der Länder, Elemente eines lernenden Föderalismus hinzugefügt werden und leistet hiermit einen Beitrag zu der Diskussion um das Abweichungsmodell, die sich bisher noch auf keinen reichhaltigen Erfahrungsschatz beziehen kann.