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III. Die Rechtsfolgenanordnung des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG
1. Der Anwendungsbereich
Zunächst ist der von Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG umfasste Anwendungsbereich zu beleuchten. Der durch das 52. ÄndG eingefügte Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG lautet: „Auf
den Gebieten des Satzes 1 geht im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht das jeweils spätere Gesetz vor.“ Er regelt damit die Rechtsfolgen für den Fall, dass ein
Land von seinem in Satz 1 verbrieften Recht zur Abweichung von Bundesrecht Gebrauch macht oder Gebrauch gemacht hat und der Bund seinerseits neu regelt. Für
Regelungen des Bundes, die Sachgebiete des Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG betreffen und
zeitlich nach denen eines Landes ergehen, ergeben sich keine Besonderheiten. Hier
greift samt und sonders Satz 3. Auf der anderen Seite werden aber nicht sämtliche
Landesregelungen umfasst, die zeitlich nach denen des Bundes erlassen werden. Zu
denken ist hier im Besonderen an Landesnormen, die auf Grund des Art. 74 Abs. 1
Nr. 29 GG (Naturschutz und Landschaftspflege) erlassen werden. Für diesen Bereich gestattet Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG den Ländern zwar die abweichende Regelung, dies jedoch nicht ausnahmslos. Unter anderem sollen hier die Grundsätze
des Naturschutzes von einer Abweichung durch die Länder ausgeschlossen sein. Legiferieren die Länder nun in der Weise, dass sie zwar keine Grundsätze an sich regeln (dann würde sogleich Art. 72 Abs. 1 GG eingreifen180), in ihren Normen aber
jenen durch den Bund festgelegten Grundsätzen widersprechen, so tritt über Art. 72
Abs. 1 GG eine Sperrwirkung dergestalt ein, dass für das Landesrecht, welches den
Bundesgrundsätzen inhaltlich widerspricht, die Befugnis zur Gesetzgebung fehlt. Im
Umfang der vom Bund vorgegebenen Grundsätze des Naturschutzes verlieren die
Länder die Möglichkeit zur autonomen Rechtsetzung. Ein Rückgriff auf Art. 31 GG
ist also nicht notwendig. Es stellt sich insoweit also eine ähnliche Lage dar, wie sie
auch bei der mittlerweile abgeschafften Kompetenzart der Rahmengesetzgebung
auftreten konnte. Allerdings war bei Art. 75 GG a.F. der Rückgriff auf die Kompetenzverteilungsregeln des VII. Abschnittes zur Bereinigung von inhaltlich widersprechendem Bundesrahmenrecht und ausfüllendem Landesrecht schon deshalb geboten, weil Art. 31 GG wegen der unterschiedlichen Normadressaten181 nicht zur
Anwendung kommen konnte.182 Im Fall der inhaltlich den Bundesgrundsätzen widersprechenden Landesgesetzgebung ist also der Anwendungsbereich des Art. 72
Abs. 3 S. 3 GG nicht eröffnet, da es bereits an einem gültigen Landesgesetz fehlt.
180 Wie schon für den Bereich der früheren Rahmengesetzgebung bedarf es also insoweit keines
Rückgriffs auf Art. 31 GG, siehe Rozek, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 75, Rn. 31.
181 Zwar waren gem. Art. 75 Abs. 2 GG a.F. in eng umrissenen Ausnahmefällen auch unmittelbar geltende Bundesrahmenvorschriften möglich. In diesen Fällen hätten Bundesrahmenrecht
und konkretisierendes Landesrecht tatsächlich die selben Normadressaten gehabt. Ein Rückgriff auf Art. 31 GG wäre dann gleichwohl nicht notwendig gewesen, siehe zu diesem Themengebiet Rozek in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 75, Rn. 31 ff.
182 Rozek, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 75, Rn. 32; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 161.
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Für seinen Erlass mangelte es dem Land bereits an der Gesetzgebungskompetenz.
Für die anderen in Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG aufgeführten änderungsfesten Bereiche
ergibt sich dasselbe Ergebnis, allerdings auf einem einfacheren Weg. Sollten die
Länder in diesen Bereichen trotz der Sperre Regelungen erlassen, so wären diese –
entsprechend der Kompetenzverteilung in Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG – kompetenzwidrig zustande gekommen, mithin formell verfassungswidrig und schon deshalb nicht
anwendbar. Der Anwendungsbereich des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG wäre also auch hier
nicht eröffnet.
2. Der Anwendungsvorrang des späteren Gesetzes
Als Folge eines zeitgleichen Gegenüberstehens von Bundes- und Landesrecht auf
demselben Regelungsgebiet ordnet Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG an, dass das jeweils spätere Gesetz vorgehe. Denkbar wäre, dass das spätere das frühere Gesetz im Sinne
einer Derogation außer Kraft setzt. Eine spätere Bundesnorm würde dann die frühere
Landesnorm vernichten, eine spätere Landesnorm die frühere Bundesnorm in seinem Einflussbereich dauerhaft außer Kraft setzen.183 Denkbar wäre aber auch ein
Anwendungsvorrang der späteren Regelung im Sinne einer bloßen Suspension, die
die Möglichkeit eröffnet, dass einst verdrängtes Recht wieder aufleben kann. Was
nun unter dem Begriff des Vorgehens des späteren Gesetzes zu verstehen ist, lässt
sich aus Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Teleologie ableiten. Die Formulierung
lässt sich mit anderen Normen des Grundgesetzes vergleichen, die ähnliche Fallkonstellationen betreffen, so beispielsweise die Artt. 31 und 72 Abs. 1 GG.184 Hier
kann der Vergleich für die Fälle gezogen werden, dass ein zeitlich später ergangenes
Bundesgesetz ein früheres der niedrigeren Regelungsebene ablöst. Fälle, in denen
Landesrecht Bundesrecht ablöst, können nicht zum Vergleich herangezogen werden,
da diese innerhalb der Vergleichsnormen nicht vorstellbar sind. Für die Vergleichsnorm des Art. 72 Abs. 1 GG können sinnvollerweise nur die Rechtsfolgen für die
Fälle untersucht werden, in denen eine bereits existente Landesnorm durch Bundesrecht verdrängt wird. Jene Konstellationen, in denen ein früheres Landesgesetz nicht
ergangen ist und die Bundesregelung mithin lediglich Sperrwirkung für zukünftige
Landesgesetze entfaltet, bringen keinen vergleichenden Nutzen, da eine solche
Sperrwirkung im Bereich der Abweichungsgesetzgebung nicht vorgesehen ist.
Die Rechtsfolgenanordnung betreffend ist der von Art. 31 GG abweichende
Wortlaut erkennbar. Dieser spricht nicht von einem bloßen Vorrang, sondern davon,
dass Bundesrecht Landesrecht „bricht“. Auch der Vergleich mit Art. 71 Abs. 1 GG
zeigt Unterschiede. Hier wird für den Fall, dass der Bund von seiner konkurrieren-
183 Es wird vorliegend der Auffassung gefolgt, dass die Derogation einer Vorschrift ihr späteres
Wiederaufleben verhindert, siehe Creifelds Rechtswörterbuch „Derogation“, a.A. in Deutsches Rechtslexikon „Derogation“.
184 Diese Artikel verfolgen als Kollisionsnorm aber jeweils andere Strategien, siehe dazu B. III.
4. a).
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den Gesetzgebungskompetenz Gebrauch macht, den Ländern nachträglich die Befugnis zur Regelung des betreffenden Sachgebietes genommen, was zwangsläufig in
eine Verfassungswidrigkeit ex nunc mündet. Die Rechtsfolge der Gegenbeispiele
des Art. 31 GG und des Art. 71 Abs. 1 GG ist jeweils die Derogation des betreffenden Landesgesetzes. Bei Art. 31 GG fällt im Vergleich zum Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG
wie gesagt die schärfere Wortwahl auf, bei Art. 72 Abs. 1 GG ist es die Eindeutigkeit der Rechtsfolgenanordnung. Dieser Vergleich spricht dafür, als Rechtsfolge des
Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG keine Derogation, sondern lediglich eine Suspension des früheren Gesetzes der anderen Regelungsebene anzunehmen. Dies hätte zur Folge, dass
eine verdrängte Norm nach dem Wegfall des späteren Gesetzes, sei es durch Aufhebungsakt oder Ablauf eines Geltungszeitraumes, wieder auflebt. Dies deckt sich mit
der Konzeption der Abweichungsgesetzgebung. Hier wird abweichend von den ausschließlichen Regelungskompetenzen oder der konkurrierenden Vorrangkompetenz
des Bundes ohne Abweichungsmöglichkeit keiner Regelungsebene ein ausdrücklicher Vorrang von Seiten der Verfassung eingeräumt. Dies zeigt sich vor allem darin,
dass Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG lediglich auf das rein formelle Kriterium der Zeit abstellt.185 Ganz im Gegensatz zu Art. 31 GG, der Normkollisionen zum Vorteil des
Bundes auflöst. Auch Art. 72 Abs. 1 GG räumt den Geltungsprimus erkennbar dem
Bundrecht zu.
Zwar nicht bezüglich des Wortlautes, so aber in Bezug auf die Teleologie ist ein
Vergleich mit der Ersetzungsbefugnis der Länder nach Art. 72 Abs. 4 GG und Art.
125a Abs. 2 GG lohnend. Die Gegenüberstellung der Formulierungen ist wegen ihrer gemäßigten Wortwahl des Ersetzens tatsächlich wenig aufschlussreich. Eine Abstufung der Intensität kann nicht allein daran festgemacht werden. Jedoch ist der
Zweck der Ersetzungsvorschriften ein anderer, als der der Abweichungsbefugnis.
Sowohl Art. 72 Abs. 4 GG, als auch Art. 125a Abs. 2 GG zielen (wenngleich unter
verschiedenen Voraussetzungen) darauf ab, den Ländern Regelungsbereiche zurückzugeben, die der Bund wegen mittlerweile fehlenden Voraussetzungen nicht mehr in
dieser Form erlassen könnte. 186 Zwei Aspekte sprechen hier dafür, dass später erlassenes ersetzendes Landesrecht dem Bundesrecht nicht lediglich im Sinne eines Anwendungsvorranges vorgeht, sondern es im Einflussbereich des betreffenden Landes
außer Kraft setzt. Zum einen ist dies die Intention der Ersetzungsregelungen, Gesetzgebungsbefugnisse auf die Länder zurückzuverlagern. Sollte eine Erforderlichkeit im Sinne von Art. 72 Abs. 2 GG wieder aufkommen, so kann der Bund abermals regeln und die Länder büßen ihre Befugnis wieder ein. Dieses Exklusivitätsverhältnis im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung (ohne Abweichungsmöglichkeit) lässt einen bloßen Anwendungsvorrang als systemwidrig erscheinen. Zum
anderen geht es um die Ersetzung einer Bundesvorschrift, die auf Grund einer mittlerweile entstandenen Unvereinbarkeit mit den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2
GG gar nicht mehr in dieser Form erlassen werden könnte. Dies setzt die Möglich-
185 Oeter, in: Starck, Föderalismusreform, Rn. 32.
186 Siehe dazu sinngemäß Oeter, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 72, Rn. 116 ff.; Wolff,
in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 125a, Rn. 14 ff..
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keit für das betreffende Bundesrecht wieder zur Geltung zu kommen, sollte das ersetzende Landesrecht wieder wegfallen (also im Sinne einer bloßen Suspension),
ebenfalls dem Vorwurf der Systemwidrigkeit aus. Dies sind Umstände, die für die
Ersetzungsbefugnis ein Außer-Kraft-Setzen der Bundesvorschrift im betreffenden
Landesgebiet gegenüber einer bloßen Suspension als vorzugswürdig erscheinen lassen. Die Zugriffsbefugnisse in Art. 72 Abs. 3 GG hingegen sollen den Ländern
Handlungsspielräume offen halten, um eigene Konzeptionen zu verwirklichen und
auf ihre unterschiedlichen strukturellen Voraussetzungen und Bedingungen zu reagieren.187 Hier ist die Suspension des früheren Gesetzes die sinnvollere Variante.
Fällt beispielsweise das spätere Bundesrecht wieder weg, so kann das spezifischere
Landesrecht wieder aufleben. Der Umstand, dass die Länder über die Abweichungsoption ohnehin die Möglichkeit haben, die Bundesnorm durch einen erneuten Erlass
wieder zu verdrängen, nimmt diesem Argument nicht das Gewicht und spricht vor
allem nicht für die Rechtsfolgenanordnung der Derogation. Auch für den Fall, dass
eine spätere Landesnorm wieder aufgehoben wird, ist das Wiederaufleben der Bundesvorschrift zweckmäßig. In diesem Bereich geht es schließlich nicht um eine irgendwie geartete Rückverlagerung von Befugnissen. Vielmehr stehen Bund und
Länder miteinander in direkter Konkurrenz um die bessere Regelung. Ein präjudizierter Vorrang zugunsten einer Regelungsebene existiert nicht, weshalb eine dauerhafte Vernichtung der früheren Regelung auch nicht zielführend wäre. Vor allem bei
jungen Gesetzen, wie dem 52. ÄndG zum Grundgesetz, muss die Intention des Gesetzgebers besondere Berücksichtigung finden. Während der Arbeit der Kommission
war man sich früh einig, dass eine Abweichungsgesetzgebung lediglich einen Anwendungsvorrang auslösen, nicht aber das vorangegangene Gesetz in seiner Existenz vernichten solle.188 Auch in der späteren Gesetzesbegründung wird ausgeführt,
„ein vom Bundesrecht abweichendes Landesgesetz“ setze „das Bundesrecht für das
Gebiet des betreffenden Landes nicht außer Kraft, sondern“ habe „lediglich Anwendungsvorrang („geht vor“).“189
187 BT-Drs. 16/813, S. 11.
188 Siehe Zur Sache 1/2005, S. 95, 123; siehe auch speziell zum von den Ländern vorgeschlagenen Modell den Protokollvermerk AG1, 7. Sitzung, S. 48.
189 Gesetzesentwurf BR-Drs. 178/06, S. 30; BT-Drs. 16/813, S. 11 (wortgleich). Weiter wird
dazu ausgeführt: „Das bedeutet, dass z.B. bei Aufhebung des abweichenden Landesrechts automatisch wieder das Bundesrecht gilt. Novelliert der Bund sein Recht, zum Beispiel um neue
Vorgaben des EU-Rechts bundesweit umzusetzen, geht das neue Bundesrecht - als das spätere Gesetz - dem Landesrecht vor. Hebt der Bund sein Gesetz auf, gilt wieder das bisherige
Landesrecht. Die Länder ihrerseits können auch von novelliertem Bundesrecht erneut abweichen (im Beispielsfall aber nur unter Beachtung des auch für die Länder verbindlichen EU-
Rechts). Das Landesrecht geht dann wiederum dem Bundesrecht vor.“
67
3. Partielles Bundesrecht
Nachdem feststeht, dass sich die Rechtsfolgenanordnung in Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG
auf eine Suspension der früheren Vorschrift bezieht, also einen bloßen Anwendungsvorrang der späteren Norm aufstellt, bedarf es daran anschließend der Klärung, wie weit diese Rechtsfolge reicht. Bedeutet sie – um einen Begriff um die Derogation zu variieren – eine abrogative Suspendierung, also eine Verdrängung der
früheren Regelung des betreffenden Sachbereiches in seiner Gänze? Oder werden
lediglich jene Regelungen aus dem gesamten Regelungsgefüge in ihrer Anwendbarkeit verdrängt, die der späteren Norm tatsächlich widersprechen? Die Folge könnte
dann eine Gemengelage von Bundes- und Landesrecht innerhalb desselben Regelungsgebietes sein.190 Der Wortlaut des 72 Abs. 3 S. 3 GG spricht von Gesetzen.
Dies könnte dafür sprechen, dass tatsächlich das Regelungswerk als Ganzes durch
die neuere Vorschrift abgelöst werden soll. Die Verwendung von Bezeichnungen,
die auch einzelne Passagen betreffen könnten, wie etwa der Begriffe der Regelung
oder der Norm, unterblieb. Der Wortlaut an sich könnte also für eine vollständige
Verdrängung des Regelungswerkes sprechen. Die Erläuterungen zum in Bundestag
und Bundesrat eingebrachten Entwurf des Änderungsgesetzes zum Grundgesetz
sprechen davon, dass den Ländern mit der Abweichungsoption die Möglichkeit gegeben werden sollte, von Bundesgesetzen abweichende Regelungen zu erlassen.
Weiter wird ausgeführt, dass es den Ländern offen stehe, die Bundesregelung in ihrem Einflussbereich auch ohne Abweichung gelten zu lassen.191 Den Ländern sollte
eine Möglichkeit zur abweichenden Regelung gegeben werden, ohne sie gleichzeitig
dazu zu verpflichten.192 Diese Äußerungen lassen Rückschlüsse darauf zu, dass es
der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht im Sinn hatte, eine Abweichung nur im
Sinne einer rigorosen Ersetzung der gesamten Vorgängerregelung zuzulassen. Systematische Gesichtspunkte verstärken diesen Eindruck. So sieht Art. 72 Abs. 3 S. 1
GG innerhalb der von ihm aufgezählten Materien abweichungsfeste Sachfelder193
vor. Sollte der Bund diese Thematiken normiert haben, so ist es den Ländern verwehrt, hiervon abweichende Regelungen zu erlassen. Sie haben hierfür keine Befugnis (mehr). Dennoch erlassene Landesregelungen auf diesem Gebiet wären also von
vornherein nichtig, da formell verfassungswidrig. Da es den Ländern aber im verbleibenden Feld der Sachmaterie unbenommen ist, von der Abweichungsoption Gebrauch zu machen, würden sich infolge eines Dogmas der vollständigen Verdrän-
190 Dies bemängelten Häde, JZ 2006, 930 (933); Nierhaus/Rademacher, LKV 2006, 385 (389 f.);
Dietsche/Hinterseh, Ein sogenanntes Zugriffsrecht für die Länder, in: Jahrbuch des Föderalismus 2005, S. 187 (S. 204).
191 BT-Drs. 16/813, S. 11; BR-Drs. 178/06, S. 30.
192 Siehe dazu die Ausführungen des Vorsitzenden der Kommission Stoiber, 1. Sitzung 07.11.03,
Stenografischer Bericht, S. 5; Zur Sache 1/2005 S. 92 f..
193 Der oft – auch in den Gesetzgebungsmaterialien – verwendete Begriff der abweichungsfesten
Kerne ist etwas missglückt. Schließlich handelt es sich bei den von der Abweichungsoption
ausgenommenen Bereichen nicht um Kernbereiche der jeweiligen Sachgebiete, als vielmehr
um Einzelthematiken (von den Grundsätzen des Naturschutzes selbstverständlich abgesehen).
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gung des früheren Gesetzes unlösbare Probleme ergeben. Ein in Übereinstimmung
mit den Kompetenzvorgaben erlassenes Landesgesetz würde ein früheres Bundesgesetz komplett verdrängen, in das Regelungen zu abweichungsfesten Bereichen eingebunden sind. Die Verdrängung dieser Regelungen – auch wenn die Länder hierzu
keine Ausführungen in der Sache tätigen – würde eine Befugnis zur (hier negativen)
Bearbeitung der Materie voraussetzen. Eben diese haben die Länder aber nicht. Es
muss also möglich sein, dass die Länder punktuell von Bundesrecht abweichen, die
nicht betroffenen Bereiche des Bundesgesetzes dabei aber weiterhin Geltung beanspruchen.
Hier scheint sich jedoch ein anderer Systembruch aufzutun. So lief seit Geltung
des Grundgesetzes die Kompetenzaufteilung im Bereich der Legislative auf die exklusive Zuordnung einer Sachmaterie zu einer Regelungsebene, Bund oder Länder,
hinaus.194 Dies galt und gilt nach wie vor zum einen logischerweise für den Bereich
ausschließlicher Kompetenzen. Zum anderen war dieses System aber auch der konkurrierenden Gesetzgebung vor der Verfassungsreform 2006 zueigen und beansprucht demgemäß auch für jene ihrer Bereiche Gültigkeit, die seit der Reform von
einer Abweichungsoption der Länder nicht betroffen sind. Lediglich die von Art. 72
Abs. 3 S. 1 GG umfassten Bereiche machen hier eine Ausnahme. Will man hierin
einen Systembruch sehen, so fällt dieser allerdings weniger drastisch aus, als auf den
ersten Blick zu erwarten wäre. Schon die konkurrierende Gesetzgebung machte beispielsweise durch einfachgesetzliche Öffnungsklauseln ein Nebeneinander von
Bundes- und Landesrecht innerhalb derselben Sachmaterie möglich.195 Auch im Bereich der ehemaligen Rahmengesetzgebung konnten derartige Konstellationen auftreten, wenn etwa der Bund von seiner Ausnahmebefugnis zur Detailregelung aus
Art. 75 Abs. 2 GG a.F. Gebrauch machte. Dann nämlich konnte Landesrecht entgegenstehen, das in derselben Sache Regelungen vorsah.196 In der Gesamtschau der
Argumente muss richtigerweise davon ausgegangen werden, dass die Länder trotz
des missverständlichen Wortlautes des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG durch eine Abweichungsregelung nicht den gesamten vorangegangenen Bundesregelungskomplex ablösen, sondern lediglich jene Normen aus ihm, mit denen eine tatsächliche Normenkollision vorliegt. Der verbleibende Rest der Vorgängervorschrift bleibt dabei in
Kraft.
Diese Lesart betreffend den Umfang der Ersetzung einer Vorgängerregelung
durch eine neue Normierung der anderen Regelungsebene, macht allerdings ein
neues Kuriosum der Gesetzgebung möglich: Gestaffeltes, partielles Bundesrecht.
Dieses könnte entstehen, wenn der Bund nach einem teilweise abweichenden Landesgesetz nicht eine komplette Neufassung der Rechtsmaterie vornimmt, sondern
194 Siehe dazu Oeter, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 72, Rn. 3. Einen Systembruch
sehen hier u.a. Nierhaus/Rademacher, LKV 2006, 385 (390).
195 Maunz, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 72, Rn. 11 f., Rengeling, in: in Isensee/Kirchhof,
HStR IV (1999), § 100, Rn. 117. Siehe hierzu auch die Stellungnahme von Pestalozza i.R.d.
Expertenanhörung im Vorfeld der Reform, BR-Drs. 740, 741/91, S. 7.
196 Maunz, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 75, Rn. 15; März, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG
II, Art. 31, Rn. 69 ff.; Oeter, in: Starck, Föderalismusreform, Rn. 32.
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lediglich ein Änderungsgesetz erlässt, dass seine ältere Normierung betrifft. Hier
wiche zunächst das Landesgesetz von der älteren Bundesvorschrift ab, mit der Folge, dass im Einflussgebiet der Landesregelung partielles Bundesrecht gälte. Erließe
der Bund nun ein Änderungsgesetz, das nur Teile seiner vorangegangenen Regelung
abänderte, so würden diese – auch gegenüber den abweichenden Landesregelungen
neuen – Gesetzesteile wiederum (in dem Umfang, in dem sie denselben Sachverhalt
betreffen) Teile der Landesnormierung verdrängen. Das Ergebnis wäre also Bundesrecht, von dem in Teilen Landesrecht abweicht, das wiederum in Teilen von Bundesrecht verdrängt wird (gestaffeltes partielles Bundesrecht). Der Begriff der Staffelung bezieht sich dabei freilich mehr auf den zeitlichen Ablauf der Rechtsetzung, als
auf die Qualität der so gestaffelt aufgestellten Norminhalte an sich. Bezüglich ihrer
Zuordnung zur jeweils verantwortlichen Rechtssetzungsebene stellen sich die Norminhalte im Endeffekt ebenfalls als schlichtes partielles Bundesrechts dar.
Auch für das Phänomen des partiellen Bundesrechts hat sich die jüngere Literatur
um neue Begrifflichkeiten bemüht. So wurden unter anderem die neu kreierten Termini des „landesexternen“ und des „landesinternen“ partiellen Bundesrechts vorgestellt.197 So könne es vorkommen, dass lediglich in ein paar Ländern eine landesrechtliche Ersetzung vorgenommen wird, während die übrigen das Bundesgesetz beibehalten. Da dieses Bundesrecht also nur in einem Teil der Gliedstaaten anwendbar
sei, werde es zu partiellem Bundesrecht. Auf der anderen Seite könne ein Land auch
nur teilweise ersetzen, was dann landesinternes partielles Bundesrecht zur Folge habe. Der Nutzen dieser neuen Terminologie ist fragwürdig. Beide Begriffe bedienen
sich einer Sichtweise, die von den Gliedstaaten ausgeht. Für die Frage danach, ob
Bundesrecht gilt oder nicht, bietet sich für das Verständnis jedoch eine Sichtweise
vom Bund aus an. So kann gültiges Bundesrecht aus den Bereichen der Abweichungsgesetzgebung in den einzelnen Ländern ganz, teilweise oder eben gar nicht
Anwendung finden.198 Die Sichtweise vom Gliedstaat aus bringt vor allem für das
sogenannte „landesexterne partielle Bundesrecht“ keinen gesteigerten Nutzen, da
hier der Bezugspunkt zum „betrachtenden Bundesstaat“ fehlt. Beim landesexternen
Bundesrecht geht es vielmehr um eine In-Bezug-Setzung fremden gliedstaatlichen
Rechts mit Bundesrecht. Da darüber hinaus „landesexternes partielles“ Bundesrecht
gleichzeitig im jeweils anderen Gliedstaat auch die Eigenschaft „landesinternen partiellen“ Bundesrechts haben kann (falls dort partiell abgewichen wurde), bietet die
vorgeschlagene Terminologie weniger Erkenntnisgewinn, als Verwirrendes. Wird
hier von partiellem Bundesrecht gesprochen, so ist damit immer das Ergebnis einer
(nur) teilweisen Abweichung durch die Option des Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG eines
Gliedstaates von gültigem Bundesrecht gemeint. Der Begriff des partiellen Bundesrechts bezieht sich hier also immer auf den verbleibenden Rest des betreffenden
Bundesgesetzes, der nach einer Abweichung durch ein Bundesland in dessen Territorium noch anwendbar bleibt.
197 Uhle, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 72, Rn. 63.
198 Nicht „gelten“, da das betreffende Bundesrecht sehr wohl gültig ist, wegen Art. 72 Abs. 3 S.
3 GG gegebenenfalls aber (nur) nicht anwendbar sein kann.
70
IV. Systematische Einordnung des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG
1. Kollisionsvermeidung oder Kollisionsbereinigung
Die bundesstaatliche Ordnung unter dem Grundgesetz unterscheidet sich in dem
Punkt nicht von einem Einheitsstaat, als sie eine geschlossene Einheit199 darstellt
und als solche auf an sie herangetragene Fragestellungen immer (genau) eine Antwort parat haben muss. Im Sinne einer Widerspruchsfreiheit des Regelungssystems
muss also ein (zeitgleiches) Aufeinandertreffen verschiedener Normen zum selben
Regelungsgegenstand, die aber unterschiedliche Normbefehle enthalten, verhindert
werden. Es ist dabei ohne Belang, wie intensiv der Widerspruch ist, d.h. ob er nur
ein partieller oder ein totaler ist.200 Dem Gebot der Rechtssicherheit für den Rechtsanwender ist allerdings nicht Genüge getan, wenn die Kollision jedes Mal im Einzelfall aufgelöst wird. Die Rechtsordnung muss nicht nur einheitlich, sondern auch
berechenbar sein. Es muss also vielmehr von vornherein abstrakt festgelegt werden,
wie und mit welchen Folgen Normenkollisionen aufgelöst werden sollen.201 Auftreten können diese zum einen durch beiderseits vom selben Rechtsgeber erlassene Regelungen, die sich inhaltlich widersprechen. Solche Widersprüche werden nach den
römisch-rechtlich überkommenen ungeschriebenen allgemeinen Regeln entschieden:
So verdrängt das später in Kraft getretene, das ältere Gesetz202 und die speziellere
Norm geht der allgemeineren vor203. Sollten beide Konstellationen aufeinandertreffen, so kann die jüngere, allgemeinere Vorschrift die ältere, speziellere Vorschrift
nicht derogieren204.205 Diese Regeln bilden die Gruppe des einfachen Kollisionsrechts206 und entspringen den Geboten der Logik.
Normkollisionen sind aber auch zwischen Regelungen denkbar, die innerhalb eines föderalistisch organisierten Gebildes jeweils von unterschiedlichen Rechtssetzungsebenen erlassen wurden. Dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung gerecht
zu werden, ist im Bundesstaat also ungleich schwerer, als im Einheitsstaat, da hier
zwei Regelungsebenen mit Rechtssetzungsbefugnissen ausgestattet sind. Hierdurch
erhöht sich die Gefahr einer Normenkollision, das heißt inhaltlicher Normwidersprüche. Sollten beide Regelungsebenen zum selben Gegenstand Regelungen erlas-
199 Rüthers nennt die Einheit der Rechtsordnung ein „Suchbild“. Sie sei kein „vorgegebener objektiver Orientierungspunkt der Rechtsanwendung“, vgl. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 774.
Zum Begriff der Einheit der Rechtsordnung siehe auch März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 101 (m.w.N.).
200 Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 99 f.
201 März, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 31, Rn. 12.
202 Lex posterior derogat legi priori.
203 Lex specialis derogat legi generali. Rüthers sieht diese Regel als Unterfall einer “verdrängenden Gesetzeskonkurrenz” an. Deren Unterfälle seien Spezialität, Subsidiarität und Konsumtion, vgl. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 771.
204 Lex posterior generalis non derogat legi priori speciali.
205 Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 770 ff.; Hensel, in Anschütz/Thoma, Handbuch II, S. 314;
Maschke, Rangordnung der Rechtsquellen, S. 8.
206 März, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 31, Rn. 14 f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit der 2006 in Kraft getretenen „Föderalismusreform I“ ist es den Ländern im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung möglich, Regelungen zu erlassen, die Bundesgesetzen widersprechen. Neben den Fragen die durch diese Neuerungen aufgeworfen werden, analysiert der Autor die Möglichkeiten und Grenzen des Modells sowie mit einem Blick ins Ausland ähnliche Konzepte. Er gelangt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der bundesdeutschen Kompetenzsystematik durch die erhöhte Bewegungsfreiheit der Länder, Elemente eines lernenden Föderalismus hinzugefügt werden und leistet hiermit einen Beitrag zu der Diskussion um das Abweichungsmodell, die sich bisher noch auf keinen reichhaltigen Erfahrungsschatz beziehen kann.