116
P. Thüringen
1. Die Landesverfassung
Nach Art. 2 Abs. 4 der Verfassung des Freistaats Thüringen stehen Menschen mit
Behinderung unter dem besonderen Schutz des Freistaats. Das Land und seine Gebietskörperschaften fördern ihre gleichwertige Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft. In Art. 20 S. 3 der Verfassung ist darüber hinaus vorgesehen, dass Begabte,
Behinderte und sozial Benachteiligte in den Bildungseinrichtungen besonders zu
fördern sind.
Damit besteht auch in Thüringen eine über die Vorgaben des Art. 3 Abs. 3 S. 2
GG hinausgehende Verpflichtung des Staates zur aktiven Förderung behinderter
Menschen insbesondere in den Schulen des Landes.
2. Das Schulgesetz und die einschlägigen Ausführungsbestimmungen
Im Schulgesetz kommt § 53 Abs. 2 entscheidende Bedeutung zu. Danach findet der
gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf in enger Zusammenarbeit mit den Mobilen Sonderpädagogischen Diensten der
Förderschule und den Förderschulen statt. In S. 2 der Bestimmung wurde ausdrücklich festgeschrieben, dass grundsätzlich integrative Formen von Unterricht und Erziehung in allen Schulformen anzustreben sind, wobei Einzelintegration und Integrationsklassen als Formen des gemeinsamen Unterrichts besondere Erwähnung finden.
Allerdings wird dieser Grundsatz in § 53 Abs. 2 S. 4 ThürSchG sogleich wieder eingeschränkt, da die Schulen den sich dadurch ergebenden Förderbedarf (nur) erfüllen,
soweit eine angemessene personelle, räumliche oder sächliche Ausstattung vorhanden ist.253
Der in § 53 Abs. 2 S. 2 ThürSchG aufgestellte Grundsatz wird in § 1 Abs. 2 des
Förderschulgesetzes nochmals bestätigt. Danach werden Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, soweit möglich, gemeinsam mit Schülern ohne Behinderungen in der Grundschule, in den zum Haupt- und Realschulabschluss, zum Abitur oder auch in zu den Abschlüssen der berufsbildenden Schulen führenden Schularten
unterrichtet. Eine Überweisung in die Förderschulen ist nach S. 2 nur dann zulässig,
wenn die Betroffenen auch mit Unterstützung durch die Mobilen Sonderpädagogischen Dienste nicht oder nicht ausreichend gefördert werden können.254
Aus § 8 der einschlägigen Rechtsverordnung ergibt sich allerdings, dass es sich
beim gemeinsamen Unterricht gemäß § 53 Abs. 2 S. 2 ThürSchG um einen zielglei-
253 Vgl. dazu das Thüringer Schulgesetz (ThürSchG) vom 6.8.1993, ThürGVBl. S. 445, in der
Fassung vom 4.4.2007, ThürGVBl. S. 32.
254 Vgl. das Thüringer Förderschulgesetz (ThürFöSchG) vom 21.7.1992, ThürGVBl. S. 356, in
der Fassung vom 30.4.2003, ThürGVBl. S. 233.
117
chen Unterricht handelt. Eine zieldifferente gemeinsame Unterrichtung von Schülern
mit und ohne Behinderungen ist damit in Thüringen nicht vorgesehen.255
Aus § 9 ThürSoFöV ergibt sich weiterhin, dass der gemeinsame Unterricht (nur)
dort durchgeführt werden kann, wo die notwendigen personellen, sächlichen und
räumlichen Voraussetzungen gewährleistet sind. Dabei wird zum einen betont, dass
die Förderung aller Schüler sichergestellt sein muss. Zum anderen wird festgeschrieben, dass von Seiten der Pädagogen besonderes Augenmerk auf die soziale
Integration der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu richten ist.
Es liegen derzeit keine Daten darüber vor, wie viele Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf am Unterricht der allgemeinen Schulen teilnehmen.
In § 58 Abs. 1 S. 3 der Thüringer Schulordnung ist vorgesehen, dass Schülern mit
Behinderungen bei schulischen Prüfungen ihrer Behinderung entsprechende Erleichterungen gewährt werden. Damit besteht eine hinreichende Rechtsgrundlage für einen angemessenen Nachteilsausgleich.256
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Rechtslage in Thüringen den
Vorgaben der Behindertenrechtskonvention nur sehr unvollkommen entspricht. Insbesondere fehlt es an Möglichkeiten für einen gemeinsamen zieldifferenten Unterricht. Um den Anforderungen der Behindertenrechtskonvention Genüge zu tun,
müssten die bestehenden integrativen Unterrichtsangebote deutlich ausgebaut werden. Derzeit ist der inklusive Unterricht im Sinne der Behindertenrechtskonvention
in Thüringen allenfalls eine seltene Ausnahme.
255 Vgl. die Thüringer Verordnung über die sonderpädagogische Förderung (ThürSoFöV) vom
6.4.2004, ThürGVBl. S.482.
256 Vgl. dazu die Schulordnung für die Grundschule, die Regelschule, das Gymnasium und die
Gesamtschule (ThürSchulO) vom 20.1.1994, ThürGVBl. S. 185, in der Fassung vom
7.4.2004, ThürGVBl. S. 494.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Recht auf Bildung gilt auch für Menschen mit Behinderungen. Die vorliegende Abhandlung untersucht den Inhalt und die Reichweite des Rechts auf Bildung aus Art. 24 der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen und untersucht die Frage, ob und inwieweit die Schulsysteme der deutschen Länder den Vorgaben dieser Konvention genügen. Die von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete Behindertenrechtskonvention beschränkt sich nicht darauf, allgemein die Menschenrechte zu bekräftigen, die auch in anderen Menschenrechtsabkommen gewährleistet sind. Vielmehr garantiert sie für Menschen mit Behinderungen auch ein Recht auf Inklusion in das öffentliche Leben im Allgemeinen wie in das Bildungssystem im Besonderen, in dem der gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung der Regelfall ist.