@article{2016::zu_diesem_, title = {Zu diesem Heft – Tauchen vor Delos}, year = {2016}, note = {Ephesus in Ionien war neben Milet die bedeutendste griechische Siedlung in Kleinasien und ist heute mit der beeindruckenden Celsusbibliothek, den Gebäuden des Stadtrats, dem Prytaneum, dem Trajanbrunnen und einer Reihe hauptsächlich vom österreichischen archäologischen Institut der Erde entborgenen privaten Wohnanlagen eine der am besten erhaltenen Stadtruinen aus der griechischen Antike. Als Hafenstadt einstmals gegründet, liegt sie heute aufgrund von 3.000 Jahren Ablagerungen von Staub und Flusssand des Kleinen Mäander mehrere Kilometer landeinwärts nördlich von Kusadasi, ist ein attraktives Touristenziel und besitzt seit 2015 den Status eines Weltkulturerbes. Zu den historisch bedeutsamen Einwohnern zählten nicht nur der Apostel Paulus, der dort mehrere Jahre seines Lebens verbrachte, davon einige im Gefängnis, wo er die Römerbriefe schrieb, sondern auch, fast 500 Jahre vorher, der Vorsokratiker Heraklit, der der lokalen Oberschicht entstammte und als „der Dunkle“ in die Geschichte der Philosophie eingegangen ist. Heraklit wurde von Hegel und Goethe verehrt und Wilhelm Nestle, der Herausgeber des Standardwerks über die Vorsokratiker, bezeichnete ihn als den tiefsinnigsten der vorsokratischen Denker. Von Heraklit sind nur Fragmente überliefert, über die Sokrates gesagt haben soll, „was ich verstanden habe, ist edel gedacht, und ich glaube, auch das, was ich nicht verstanden habe. Um sie wirklich zu begreifen, müsste man ein delischer Taucher sein“. Heraklit suchte das einfache Leben, lehnte die ihm aufgrund seiner Herkunft zustehende Stellung als Oberpriester ab und überließ sie seinem jüngeren Bruder und wies auch ein Angebot des persischen Königs zurück, als Philosoph an seinen Hof zu kommen, mit den Worten: „Ich fliehe die Sättigung alles angebornen Neides […], da ich mit wenigem, was mir gefällig ist, zufrieden bin.“ In seiner Philosophie wandte sich Heraklit vor allem gegen die oberflächliche Logik der Identität, die in ihrem Bemühen, die Dinge bei einem klaren Namen benennen zu wollen, alles auf ein statisch Eindeutiges und Normierbares zu reduzieren, letztlich doch stets auf die Widersprüchlichkeit des Lebens und der Geschichte stößt. Sein Ansatz war dialektisch und prozessorientiert, und wenn er davon sprach, dass niemand zweimal in denselben Fluss steigen kann, dann wies er damit auch auf die Vergeblichkeit jener Suche nach klaren analytisch unterscheidbaren und isolierbaren Einheiten hin, die zum Kennzeichen der Naturwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert geworden ist. Ihr Fehler ist: „Sie verstehen es nicht, wie das Verschiedene unter sich übereinstimmt.“ Im festen Glauben an das „Wissen ist Macht“ des Bacon und den sukzessiven Fortschritt bei gleichzeitiger Zurückdrängung der als fremd und feindlich begriffenen Natur werden jede neue Skipiste und jede neu gegen die Dunkelheit installierte städtische Laterne als heldenhafte Befreiung gefeiert: „Zu der das All regierenden Vernunft, mit der sie es fortwährend zu tun haben, setzen sie sich in Widerspruch, und das, worauf sie tagtäglich stoßen, erscheint ihnen fremd,“ könnte man mit Heraklit meinen. Die Naturwissenschaften sehen sich längst nicht mehr als Wissenschaft der Aufklärung, sondern nur noch als Helfer bei der Schaffung künstlicher und scheinbar berechenbarer Umwelten, in der permanent Innovationen nach ökonomischen oder nach Sicherheitsgesichtspunkten installiert werden. „Warum wollen Sie eigentlich mehr über die Natur wissen? Wissen wir nicht jetzt schon genug?“ Erwin Chargaff, einer der Begründer der Molekularbiologie kannte die Antwort auf diese scheinbar naive Frage genau: „Nein, wir wissen nicht genug; aber wenn es soweit ist, so werden wir die Natur verbessern, wir werden sie ausbeuten. Wir werden die Meister des Weltalls sein“.}, journal = {Leviathan}, pages = {3--8}, author = {}, volume = {44}, number = {1} }