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13. Schluss
13.1 Zusammenfassung
Den Ausgangspunkt der Arbeit bildete die bekannte These, dass der Verbesserung der
deutsch-tschechischen Nachbarschaft sowie der Veränderung in der Mentalität oft die
Vergangenheit, eine unterschiedliche Auffassung hinsichtlich der historischen Prägestempel sowie die Position des jeweils Anderen in den Vergangenheitsdiskursen im
Wege stehen. Diese These wurde differenziert untersucht und ließ sich insgesamt für
die beiden Länder (ihre Grenzräume im Westen respektive im Osten) in unterschiedlichem Maß und an Hand verschiedener Begründungen im Prinzip bestätigen. Das gilt
auch für die Annahme, dass Geschichte in den beiderseitigen Beziehungen nach wie
vor eine wichtige Rolle im Sinne eines aktuellen relevanten Maßstabes sowie als zentraler Bezugsrahmen politischer Argumentation spielt.
Im ersten Teil der Arbeit bot ich einen Überblick über die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der Forschung zu Vergangenheitsdiskursen, zum Zentralbegriff der
historischen Politologie. Schwerpunkt der Darstellung waren dabei zunächst die theoretischen Leistungen, die Beiträge der Politikwissenschaft und relevanter Bezugswissenschaften (Soziologie, Geschichte) im Zuge eines wachsenden wissenschaftlichen
Interesses an der Vergangenheitspolitik (Kapitel 1,2). Auf der Grundlage bisheriger
Erkenntnisse sind anschließend die für die Vergangenheitsdiskurse charakteristische
Symmetrie zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, ihre Orientierungsfunktion sowie deren Integration ins menschliche Bewusstsein über Teil-Ganzes-Beziehungen vorgestellt worden.
Im nachfolgenden historischen Teil der Untersuchung wurden die wichtigsten Ereignisse der deutsch-tschechischen Beziehungen der letzten 100 Jahre präsentiert. Es
zeigte sich, dass das Zusammenleben von Tschechen und Sudetendeutschen während
der Ersten Republik vor allem eine Kon? iktgemeinschaft war. Angespannte Situation
und Misstrauen herrschten zudem auch in den politischen bilateralen Beziehungen,
bezogen auf die Weimarer Republik und die Tschechoslowakei. Der Zweite Weltkrieg
sowie die ihm vorangegangenen Ereignisse schufen tiefe Irritationen, die heute vor
allem bei einem Teil der älteren Generation in Tschechien noch nicht überwunden
sind. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung war zwar im Blick auf ihr Ausmaß
sowie die Opferzahlen nicht mit den tschechischen Verlusten der Protektoratszeit zu
vergleichen, doch hinterließ sie ebenfalls Unrechtsgefühle bei den Betroffenen.
Ergebnis der mehrere Jahre andauernden diplomatischen Diskussionen über die
strittigen deutsch-tschechischen Vergangenheitsfragen war die auf Staatsebene erreichte Deutsch-tschechische Erklärung von 1997, die vor allem in der tschechischen
Öffentlichkeit sowie in der deutschen und tschechischen Medienlandschaft zu einer
Beruhigung beigetragen hat. In den nachfolgenden Jahren setzte sich die Bundesrepublik uneingeschränkt für den Beitritt der Tschechischen Republik zur NATO und Eu-
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ropäischen Union ein. Vor allem die Tatsache, dass die Bundesregierungen im Endeffekt die Forderungen der Heimatvertriebenen nicht unbedingt unterstützen wollten,
führte schließlich trotz der von Deutschland durchgesetzten Einschränkungen, die Öffnung des Arbeitsmarkts für tschechische Bürger betreffend, zu einer deutlichen Verbesserung des Deutschlandbildes (im Vergleich zur Wahrnehmung der Österreicher).
Einen Schwerpunkt bildete das Thema Nachbarschaft in der regionalen Perspektive.
Im Kalten Krieg waren zum Beispiel Bayern und Tschechen keine selbstständig handelnden Akteure. Beide gehörten jeweils einem anderen Machtblock an. Das verfremdete deutlich ihre Beziehungen und verschlechterte die gegenseitige Wahrnehmung
über die gemeinsame Grenze hinweg. Die Zeit nach 1989 war daher auch auf dieser
Ebene von der Bemühung um eine Überwindung der beidseitig vorhandenen Vorurteile und Feindbilder und um die schrittweise Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen gekennzeichnet.
Die Kapitel zehn bis zwölf meiner Untersuchung machten nun mit den Erkenntnissen unserer qualitativen Untersuchung im bayerisch-böhmischen Grenzraum bekannt.
Sie wurde in der zweiten Jahreshälfte 2004 durchgeführt und mit Hilfe der grounded
theory und anderen gängigen Methoden der Sozialforschung ausgewertet. Aus den
Ergebnissen geht hervor, dass Deutsche und Tschechen der jeweiligen Grenzländer
zwar ihre eigene Geschichte kennen, die Historie der deutsch-tschechischen Beziehungen insgesamt bleibt ihnen jedoch fast unbekannt. Etwas mehr interessieren sich
dafür Tschechen, und zwar vor allem Angehörige der ältesten und jüngsten Generation.
Die Vergangenheitsdiskurse in Deutschland und Tschechien (immer bezogen auf
die betreffenden Grenzräume) weisen – um die zentrale Leitfrage dieser Arbeit jetzt
prägnant zu beantworten – einige strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf:
Auf der bayerischen Seite dominieren die regionale Historie und die Landesgeschichte. Deutschland erscheint dabei als ein viel größerer Staat als Tschechien. Deshalb
werden die Ereignisse der gesamtdeutschen Vergangenheit seltener erwähnt, weil sie
auf die dortigen Städte und Regionen keinen Ein? uss ausüben. In der Tschechischen
Republik überwiegt dagegen die nationale Geschichte. Die regionale wird wiederum
gerade in den Grenzgebieten zum großen Teil verdrängt. Dass dort Deutsche gelebt
haben und dass sie vertrieben wurden, ist zwar bekannt, mehr Kenntnisse davon hat
jedoch nur ein kleiner Teil der Grenzlandbevölkerung. In erster Linie sind es lokale
Eliten und Personen mit höherer Schulbildung. Die regionale Geschichte bleibt meist
verborgen und wird nur schrittweise entdeckt, vorwiegend von der jüngeren Generation.
Große Unterschiede gibt es dabei in der Wahrnehmung der bedeutendsten Ereignisse der allgemeinen deutsch-tschechischen Vergangenheit des 20. Jahrhunderts. Bereits
die Kontakte zwischen der Weimarer Republik und der Tschechoslowakischen Republik werden von Bayern und Tschechen jeweils anders beurteilt. Während die Bayern
davon ausgehen, dass es rege Beziehungen vor allem im Grenzland gab, bei denen die
Deutschen aus den tschechoslowakischen Grenzgebieten eine wichtige Vermittlerrolle gespielt hätten, halten die heutigen Tschechen dieses Zusammenwirken für eine direkte Bedrohung der damaligen ?SR. Überwiegend wird die Meinung vertreten, dass
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die deutschen Grenzgänger aus Böhmen in der Zeit kurz vor dem Münchner Abkommen dem Land gegenüber gefährlich geworden seien, denn sie erhielten dort Waffen
und dienten nach ihrer Rückkehr der Hitlerpropaganda.
Das Dritte Reich sowie die Ereignisse während des Zweiten Weltkrieges in der
Tschechoslowakei werden diesseits und jenseits der Grenze negativ beurteilt. Den
Zeitzeugen auf beiden Seiten ist dabei gemeinsam, dass sie nur ungern über ihre Erlebnisse sprechen. Die Bayern wünschen diesbezüglich sehr häu? g einen Schlussstrich unter der NS-Vergangenheit. Diese steht jedoch, wie sich zeigte, gerade im Mittelpunkt dieser Vergangenheitsdiskurse. Aus den Interviews geht hervor, dass der Nationalsozialismus meist im Zusammenhang mit dem Nationalstolz erscheint. Während
die ältere Generation dieses Wort meidet und als Hindernis für eine Verständigung gerade die NS-Vergangenheit ansieht, will die junge Generation vor allem auch ein „normales“ Verhältnis zur eigenen Nation anstreben. Sie wünscht außerdem, andere Völker
sollten endlich damit aufhören, den Deutschen immer wieder den Nationalsozialismus
vorzuwerfen. In der mittleren Generation (40 bis 60 Jahre) ? nden sich im bayerischen
Grenzraum freilich ziemlich viele, die die Art und Weise kritisieren, wie sich die Deutschen mit der Bewältigung des Nationalsozialismus auseinandersetzen. Andere Altersgruppen beschäftigen sich dagegen viel seltener damit. Auch wenn dafür kein quantitativer Beleg vorliegt, darf auf Grund unserer Feldstudie im bayerischen Grenzland
vermutet werden, dass der Anteil der Schlussstrich-Befürworter sowie derjenigen, die
für einen gesunden Nationalstolz plädieren, größer ist als im bundesdeutschen Durchschnitt (s. Kap. 11.2). Dies kann ebenfalls mit Hilfe der qualitativen Methode erhärtet
werden, die es bei den Interviews ermöglicht, jederzeit und direkt nachzufragen, um
ad hoc formulierte Antworten zu erhalten und sich auf keine vorgefertigten verbalen
Reaktionen verlassen zu müssen.
Die Bayern besitzen freilich wenige Kenntnisse über die Entwicklung im Protektorat Böhmen und Mähren während des Krieges. Der Begriff „Protektorat“ ist kaum
bekannt. Auf der anderen Seite steht ein Großteil der ältesten tschechischen Grenzlandbevölkerung auf Grund der während des Krieges gemachten Erfahrungen den
Deutschen kritisch gegenüber. Mit jeder neuen Generation schwächt sich jedoch dieses ethnische Kon? iktpotential deutlich ab. Die Jüngeren halten die deutsche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus für abgeschlossen. Doch warnen auch sie
vor dem Anwachsen des Neonationalismus in Deutschland. Auf der anderen Seite prägen das Münchner Abkommen, die darauf folgende Protektoratszeit und die vierzigjährige kommunistische Diktatur das tschechische Geschichtsbewusstsein des 20.
Jahrhunderts, insofern sich in den breiten Bevölkerungsschichten der sogenannte
Münchner Komplex dieses kleinen Staates ausgebildet hat, der im 20. Jahrhundert gerade mit den Deutschen um sein Überleben kämpfte.
Die Vertreibung der Sudetendeutschen ist das nächste wichtige Ereignis der deutschtschechischen Beziehungen, bei dem sich die Einstellungen der Bayern und Tschechen
freilich unterscheiden. Die meisten bayerischen Befragten halten sie nämlich für ein
Unrecht, während sie in Tschechien als ein gerechtfertigter Akt dafür angesehen wird,
dass sich eben viele Sudetendeutsche am NS-Regime beteiligt haben. Bis auf die Heimatvertriebenen selbst plädieren dann sowohl Bayern wie auch Tschechen für einen
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Schlussstrich unter dieser Vergangenheit. Beide lehnen mehrheitlich die Forderungen
der Vertriebenen ab.
Der Kalte Krieg vertiefte schließlich das Desinteresse am jeweils Anderen. Die bereits existierenden Feindbilder wurden auf beiden Seiten, vor allem aber durch das
kommunistische Regime, verfestigt. Sie hinterließen im tschechischen kommunikativen Gedächtnis tiefe Spuren. Die Zeit des realen Sozialismus deformierte bei einem
Teil der Menschen freilich auch das moralische Bewusstsein und hatte schwere Folgen
für ihr Historizitätsbewusstsein. Vor allem das Bild des Deutschen als Aggressoren hat
bei der älteren Generation bis in die heutige Zeit überlebt. Dies verursacht wiederum
ihre ausgesprochene Skepsis gegenüber der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit
sowie der europäischen Integration. Solche Befürchtungen sollte man meiner Meinung nach nicht unterschätzen, denn sie lassen sich leicht in der Politik instrumentalisieren, wie es 2002 an der Kampagne zu den Wahlen ins tschechische Abgeordnetenhaus zu sehen war. Auf der bayerischen Seite wuchs dagegen während des Kalten
Krieges dramatisch die Angst der Grenzlandbevölkerung vor einem eventuellen Angriff der Sowjetunion. Da die Tschechoslowakei Bestandteil des Ostblocks geworden
war, bezog sich diese Furcht auch auf sie.
Abgesehen von der nicht lange dauernden Euphorie unmittelbar nach 1989 überwog auch nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Fall des Eisernen Vorhangs die negative Wahrnehmung des Anderen. Die bereits existierenden Feindkonstruktionen erhielten neue, meist ökonomische Inhalte und ihr Abbau gelingt heute nur
langsam. Es besteht jedoch die Hoffnung, dass die intensiver werdende grenzüberschreitende Zusammenarbeit sowie die vertiefte Integration ohne gegenseitige Einschränkungen und Übergangsregelungen diese Feindbilder schrittweise beseitigen
wird.
Wenn Bayern und Tschechen nach der deutsch-tschechischen Geschichte gefragt
werden, akzentuieren beide zu sehr die negativen Ereignisse. Die Bayern orientieren
sich darin jedoch weniger als die Tschechen. Bei einem kleinen Teil ist zum Beispiel
die Erinnerung an die Hussiten vorhanden, insbesondere an ihre Einfälle in die bayerischen Grenzgebiete. Die Beziehungen zwischen der Weimarer Republik und der
Tschechoslowakischen Republik werden für sehr intensiv gehalten. Der Grenzraum
sei für sie zu einem Vermittlungsraum geworden. Die Tschechen hinwiederum sehen
genau diese Kontakte als problematisch. Für sie bildeten sie ein Vorspiel zur Katastrophe des Münchner Abkommens. Auf der anderen Seite wurde das tradierte negative
Bild der Tschechen bei vielen Bayern, in das mit dem Ausbruch des Kalten Krieges
noch die reale militärische Bedrohung hinzugekommen. Sie wurde teilweise mit dem
Widerstand breiter tschechischer Bevölkerungsschichten gegen die russischen Besatzer und das aufgezwungene kommunistische Regime im Jahr 1968 abgeschwächt. Die
fast riesig zu nennende Angst der Grenzlandbewohner und die Vorstellung, dass sie
die nächsten sein werden, die von den Sowjets besetzt werden könnten, verschwand
zwar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Doch begann die Grenze zwischen den
beiden Staaten auf einmal erneut für Befürchtungen zu sorgen, die diesmal eine rein
wirtschaftliche Dimension bekamen.
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Die bayerische Grenzlandbevölkerung nahm deshalb den Eintritt der Tschechischen
Republik in die Europäische Union mit besonderer Vorsicht und Skepsis auf. Die Einführung von Übergangsregelungen hinsichtlich der Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts für tschechische Bürger betrachtete sie als eine Notwendigkeit, die die etwas
angespannte Situation in den wirtschaftlich sowieso unterentwickelten bayerischen
Grenzlandkreisen etwas beruhigen sollte. Falls sich nach Ablauf dieser Schutzbestimmungen Prognosen der tschechischen Soziologen erfüllen, wonach die Arbeitsmobilität der tschechischen Bürger (auch derjenigen aus den Grenzgebieten) sowieso nicht
groß ist und die meisten nicht zur Aufnahme einer Tätigkeit ins westliche Nachbarland
migrieren oder pendeln dürften, könnte sich das Bild der Tschechen deutlich verbessern. Der Abbau negativer Vorstellungen müsste somit langfristig viel zur Schaffung
einer kooperativen nachbarschaftlichen Mentalität beitragen.
Die Tschechen verfügen heute über ziemlich gute Kenntnisse, was die deutschtschechische Vergangenheit betrifft, auch wenn sie ein Teil der Älteren vor allem durch
die ideologische Brille des Kommunismus sieht. Für viele basiert dabei die Historie
ihres Landes, die vom „heiligen Wenzel“ bis zur Vertreibung reicht, auf der sogenannten ewigen Auseinandersetzung mit den Deutschen. In den Vergangenheitsdiskursen
sind deshalb gesammelte negative Meinungen zum westlichen Nachbarn vorhanden.
Beide, Deutsche und Tschechen, sind dabei nicht im Stande, positive Ereignisse der
bereits Jahrhunderte währenden Nachbarschaft zu benennen. Intensive Beziehungen
auf den Gebieten der Kunst und des Handels kommen in den Aussagen nur selten vor.
Als positiv bezeichnen viele Tschechen die Deutsch-tschechische Erklärung von 1997,
die beruhigend auf breite Schichten gewirkt habe. Denn bis dahin hatten tatsächlich
viele – entsprechend der vorher genannten langfristigen negativen Erfahrungen und
dem erwähnten „ewigen“ Misstrauen gegenüber Deutschland – ernsthafte Angstgefühle angesichts einer möglichen Rückkehr der Sudetendeutschen. Hinsichtlich der so
genannten sudetendeutschen Frage ist diesseits und jenseits der Grenze – bis auf den
Großteil der davon selber Betroffenen – eine Schlussstrich-Tendenz zu beobachten,
was die Forderungen der Vertriebenen betrifft. Zwar wird ihr während der Vertreibung
erlebtes Leid anerkannt und viele Deutschen (hier Bayern) sowie ein kleiner Teil der
Tschechen halten für ein Unrecht, was ihnen angetan wurde, doch wünschen auch sie
letztlich das Ende der Diskussion.
Was die Kenntnis der Geschichte des jeweiligen Nachbarlandes betrifft, überwiegen auf beiden Seiten jene, die nur mangelhaftes Wissen besitzen. In Tschechien ist
der Anteil derer, die mindestens über eine Grundorientierung in der Geschichte
Deutschlands bzw. Bayerns verfügen, etwas größer. Dafür gibt es mehrere Gründe:
Zum einen kann man nicht die Tatsache leugnen, dass der westliche Nachbar vor allem
für seine Wirtschaftskraft ein Referenzland und Vorbild für viele Tschechen ist. Das
weckt automatisch Interesse. Zum anderen spielte Deutschland insbesondere im 20.
Jahrhundert in der Weltgeschichte eine bedeutende Rolle, was sich ebenfalls an den
guten Grundkenntnissen zeigt. Auch im Unterricht kann man auf beiden Seiten diese
Asymmetrie beobachten. Selbstverständlich wird deshalb in den tschechischen Schulen der Geschichte des anderen Landes viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt als umgekehrt. Dass die meisten bayerischen Grenzlandbewohner nicht einmal die grundle-
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genden Ereignisse und Daten der nachbarlichen historischen Entwicklung kennen, ist
für die Tschechen umso trauriger, weil vermutet werden kann, dass dann, je weiter
man von der Grenze nach Westen geht, die tschechische Vergangenheit noch weniger
bekannt sein dürfte.
Die vielen Feindbilder, die sich Deutsche und Tscheche geschaffen haben, basieren
bekanntlich auf der fälschlichen Verallgemeinerung realer Erlebnisse. Sie prägen freilich leider die Nachbarschaft auch weiterhin, weil sich Deutsche und Tschechen, Bayern und Böhmen zu wenig kennen. Erst, wenn beide einander mehr und mehr Aufmerksamkeit schenken, können auch diese abgebaut werden. Wann in die gegenseitigen Beziehungen endlich die kooperative nachbarschaftliche Mentalität einkehrt,
bleibt jedoch eine offene Frage für weitere Forschungen. Vorerst ist nur klar, dass das
Interesse für eine Verbesserung der Kontakte und Einstellungen bei beiden Bevölkerungsgruppen insgesamt als nicht sehr hoch einzuschätzen ist.
Hinsichtlich der Erweiterungen des Themas durch mögliche weiterführende Forschungsfragen bietet sich zum einen ein vertieftes und intensiveres Studium der Biographien der Erlebnisgeneration unter Anwendung der Methode der biographischen
Interviews an. Die Art und Weise, wie die Zeitzeugen die Ereignisse erlebt haben,
kann bereits damit verglichen werden, wie ihre Kinder und die Enkel dazu stehen.
Auch die Ansätze für mögliche theoretische Vertiefungen sind zahlreich. von meinem
eigenen wissenschaftlichen Interesse abgesehen bleiben nach wie vor die Erinnerungskultur und damit die Art und Weise gültig, wie sich in beiden Ländern die eigene Geschichte und die des anderen Volkes in bestimmten Gedächtnisorten manifestiert.
Auch wäre ein Vergleich zwischen Tschechien und den alten respektive neuen Bundesländern möglich, die Erinnerungsdynamik betreffend. Oder bei den Geschichtswahrnehmungen die Beachtung der Differenz zwischen Zentrum und Peripherie, also
im Blick auf das jeweilige Landesinnere und die diversen Grenzländer.
13.2 Empfehlungen für den deutsch-tschechischen Dialog
Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist nicht nur die Behandlung der Vergangenheitsdiskurse und der derzeitigen Situation der Vergangenheitspolitik sowie deren Bewertung. Es soll auch versucht werden, über die oben erfolgte Interpretation hinaus einen
kurzen Ausblick auf mögliche weiterführende Handlungsansätze zu geben.
In erster Linie sollte selbstverständlich auf die Vermeidung von Feindbildern geachtet werden. Eine Vorreiterrolle hätten hier Politiker, Akademiker, Journalisten und
Multiplikatoren zu übernehmen. Jedoch zeigt sich immer wieder, dass unter ihnen
noch viele sind, die sehr bewusst negative Stereotypen der Tschechen in Deutschland
oder der Deutschen in Tschechien p? egen und die Geschichte als Waffe benutzen. Vier
Jahrzehnte lang waren genau solche Feindkonstruktionen Hauptfaktor in der Legitimierung des kommunistischen Systems sowie des ganzen Kalten Krieges. Ihre Minimalisierung oder gar ihr vollständiger Abbau im heutigen politischen Dialog sind unbedingt noch intensiver anzustreben.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In den deutsch-tschechischen Beziehungen spielt die Geschichte eine wichtige Rolle. Sie wird zum einen als Argument für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft benutzt, zum anderen aber auch als Waffe, um die andere Seite möglichst negativ darzustellen.
Die Arbeit untersucht an Hand eines qualitativen Datenmaterials die Funktion der Vergangenheitsdiskurse in der deutsch-tschechischen Nachbarschaft.