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12. Die Grenze und der Nachbar
12.1 Das Leben an der Grenze
12.1.1 Die Grenze vor 1945
Wenn man sich mit dem Ein? uss der historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts auf
die Wahrnehmung der Grenze beschäftigt, sollen im Zentrum der Aufmerksamkeit
vorwiegend die Jahre 1938, 1939, 1945, 1948, 1968, 1989 und 2004 stehen. Die damit
verbundenen geschichtlichen Diskontinuitäten bestimmten die Einstellungen der Demarkationslinie gegenüber und beein? ussten ihre Perzeption sowie das Leben (nicht
nur) in beiden Grenzländern.
Im Laufe der Gespräche mit unseren bayerischen Interviewpartnern stellte sich immer wieder heraus, dass sie die Scheidung zwischen ihrem Land und der Tschechoslowakei aus der Zeit vor 1945 nicht besonders wahrnehmen. Sie wird nur selten thematisiert. Das hat zwei Gründe. Erstens be? nden sich unter den Befragten nur wenige
Zeitzeugen. Zweitens wird hier keine richtige Grenze wahrgenommen, da „sowohl bei
uns wie auch drüben doch Deutsche gelebt haben“ (31,w). Die Zeit vor 1945 erwähnen öfter jene, die auf Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ländern hinweisen möchten. Die besten Kenntnisse und die meisten Erinnerungen haben dabei die Vertriebenen. Das tschechische Untersuchungsgebiet bezeichnen sie als Egerland. Sie sagen,
dass „dort alles gleich war wie bei uns“. Mit „bei uns“ meinen sie ihr jetziges Zuhause in Bayern. Das Egerland wird positiv als ein reiches Industriegebiet dargestellt. Erwähnt werden Eger oder die „riesengroße Industriestadt Aš“ sowie die dortigen Textilfabriken.
Über die Grenze als solche sprechen nur einige. Das ist wiederum verständlich,
denn nur wenige der Heutigen lebten vor 1945 und verfügen noch über direkte Erinnerungen. Von den nach 1945 Geborenen wird der Zustand vor 1945 bereits nicht
mehr angesprochen. Die ältesten Befragten oder ihre Eltern hatten meist keine besonderen Probleme mit der Überwindung der Grenze.
Eine Interviewpartnerin, die aus dem Landkreis Hof stammt, machte dabei auf den
Protestantismus als Verbindungselement zwischen Hof und Aš aufmerksam. Ihr Vater
sei zwar ein Bayer, er wurde aber in der Zwischenkriegszeit in Asch kon? rmiert. Das
kam daher, weil sein Geburtsort, „kirchengemäß zu Aš gehört hat. Denn der ganze
Bereich Ascher Zipfel, so nennt sich dieser Landstrich hier, der war ja protestantisch
und das ist eine der wenigen Gegenden oder überhaupt die einzige in ganz Böhmen
hier, die protestantisch war und wir haben kirchenmäßig zu Aš gehört“. (46,w) Der
Vater sei während des Kalten Krieges einige Male nach Aš gefahren, heißt es weiter.
Er wollte sich die Kirche ansehen, in der er kon? rmiert wurde. Sie stand aber nicht
mehr, da sie irgendwann abbrannte. „Wir haben nur das Lutherdenkmal noch vorgefunden, der Friedhof war vernichtet, es waren Tennisplätze drauf, also es war etwas
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schockierend dann auch.“ Die über die Grenzen hinweg bestehenden Kontakte erwähnt eine andere Interviewpartnerin: „Meine Mutter erinnerte sich erst daran, dass
der Stoff ihres Kon? rmationskleides aus Aš stammte. Und dass sie zum Tanzen rüber
gelaufen sind.“ (40,w) Der bayerisch-böhmische Übergangsraum vor 1945 wird von
fast allen als grenzenlos angesehen.
Die Erinnerungen der tschechischen Interviewpartner an die Zeit vor 1945 sind
freilich auch nur bruchstückartig. Hier kann man die Zeitzeugen in zwei Gruppen einteilen. In die erste gehören die ununterbrochen in dieser Region Lebenden. Es geht
hauptsächlich um Bürger deutscher Nationalität und um Tschechen, die dort ebenfalls
schon vor der Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung ansässig waren. Wenn
Erinnerungen an die Situation vor Ort aus der Zeit bis 1945 auch bei jenen Befragten
auftauchen, die erst nach Kriegsende hierher kamen, dann basieren sie auf vermittelten
Erzählungen oder auf weniger authentischen Mitteilungen aus dem Gedächtnis. Am
häu? gsten wird erzählt, wie während der Wirtschaftskrise die Bürger deutscher Nationalität hinüber „ins Reich“ zum Arbeiten gingen, wie die mit Hitler sympathisierenden Sudetendeutschen dort den Umgang mit der Waffe gelernt haben oder dass „[…]
die Grenze hier vor dem Krieg historisch mehr oder weniger frei war, weil hier Deutsche lebten und drüben auch.“ (28,w) Im Folgenden eine der typischen Mitteilungen:
„Früher war die Grenze nicht geschlossen, weil auf dieser und auf der anderen
Seite Deutsche gelebt haben. Viele aus Bayern haben zum Beispiel bei uns eingekauft und einige von uns pendelten über die Grenze zur Arbeit.“ (84,m)
Diese erzählte „Realität“ entsprach wohl eher der Situation in den letzten Jahren der
Ersten Tschechoslowakischen Republik, denn vor dieser Zeit gab es zwischen den ethnischen Deutschen auf beiden Seiten doch eine gewisse Unterscheidung. Neben der
Zugehörigkeit zu einem anderen Staat spielten insbesondere die starke Besinnung der
böhmischen Deutschen auf die österreichische Monarchie (sie bezeichneten sich als
Alt-Österreicher) und die unterschiedliche wirtschaftliche Dynamik in beiden benachbarten Regionen eine Rolle. Trotzdem kann man, wie die Beispiele zeigen, in der darauf folgenden Zwischenkriegszeit von einer gewissen grenzüberschreitenden Gemeinschaft sprechen, da der Staatsgrenze keine ausschließlich trennende Funktion
zugeschrieben wurde. Es entstanden sogar einige deutsch-tschechische Vereinigungen,
die in Bereichen wie Tourismus Kontakte zwischen beiden „Völkern“ initiierten. Allgemein betrachtet stellte jedoch die unmittelbare Nachbarschaft der tschechoslowakischen Deutschen zu Deutschland eine potentielle Bedrohung der weiteren Existenz der
neuen Tschechoslowakei dar. Daran ließen die Befragten – egal welcher Nationalität
– auch gar keinen Zweifel. Ein Interviewpartner deutscher Nationalität aus der Tachauer Region bemerkte dazu:
„Na und im Jahre 1933 oder 1934 begann Hitler plötzlich mit dem Bau der
Autobahnen. Und dann haben wir einen großen Fehler gemacht, denn wir lie-
ßen unsere Leute über die Grenze gehen. Dort haben sie Mark bekommen und
glauben Sie mir, sie haben dort damals ziemlich gutes Geld verdient. Bei uns
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bekam man zehn Kronen pro Woche. An den Werktagen waren alle im Reich
und am Samstagmittag kamen alle zurück.“ (85,m)
Aus seiner Lebensgeschichte ist mehrfach die Identi? zierung mit der Tschechoslowakei spürbar (ingroup: Und dann haben wir einen großen Fehler gemacht, denn wir
ließen unsere Leute über die Grenze gehen). Deutschland betrachtet er als Fremdland.
Er und seine Eltern waren über die Entwicklung des Nachbarlandes nach der Macht-
übernahme Hitlers informiert. Der Befragte war kein entschiedener Kämpfer für oder
gegen den Nationalsozialismus. Er hält es heute aber für einen Fehler, dass Sudetendeutsche zum Arbeiten hinüber gegangen sind, und er macht für diese Situation die
tschechoslowakischen Organe schuldig, die in den mehrheitlich von Deutschen bewohnten Randgebieten der Ersten Republik die auf Grund der Weltwirtschaftskrise
entstandene Arbeitslosigkeit nicht ausreichend bekämpften.
Viele seiner Mitbürger deutscher Nationalität aus der Zwischenkriegs- und Kriegszeit identi? zierten sich jedoch nicht mit diesem Staat, wie man den Wahlergebnissen
von 1935 und 1938 entnehmen kann, als die irredentistische und von Hitlerdeutschland ? nanziell unterstützte Sudetendeutsche Partei ihre Erfolge feierte. Für die Wahrnehmung der Grenze bis 1945 bedeutet das, dass sich diese Bürger verschiedentlich
für ihre Nichtanerkennung eingesetzt haben. Spätestens seit 1938 sahen die meisten
deutschen politischen Repräsentanten ihr politisches Ziel im Anschluss der Heimatgebiete an das Reich. Einige von ihnen kamen ins Reich, wurden dort von der auf vollen
Touren laufenden antitschechoslowakischen Propaganda beein? usst, erhielten Waffen
usw. Der Wunsch dieser Deutschen erfüllte sich – wie bekannt – mit der Unterzeichnung des Münchener Abkommens Ende September 1938. Die Grenze selber ist dann
während des Zweiten Weltkrieges explizit nicht mehr thematisiert worden. Mit der
Verschmelzung des Sudetenlandes mit dem Reich verschwand sie einfach. Bei ihrer
Beseitigung fanden jedoch zahlreiche Feiern statt.
12.1.2 Der Eiserne Vorhang
Der Eiserne Vorhang war der Umschlag ins Gegenteil. Jetzt entstand eine Grenze als
unüberwindbare Barriere zwischen dem kapitalistisch sowie marktwirtschaftlich orientierten Westdeutschland und der Tschechoslowakei mit real-existierendem Sozialismus. Das System zwang die Menschen, umzudenken und ihre Lebenswelt neu zu de-
? nieren. Der alltägliche kleine Grenzverkehr, die Praktizierung eines Berufs im Nachbarland, die P? ege althergebrachter Traditionen wie grenzüberschreitende Wallfahrten,
oder das verwandtschaftliche Band nach Böhmen oder Bayern hinüber - all dies gehörte jetzt der Vergangenheit an. Auf der einen Seite lebten die Guten, auf der anderen
die Bösen. „Das war halt früher, das war einfach der Feind, der da drüben war. Und
wir waren herüben. Ich meine, bei uns ist es ein gängiger Ausdruck, der Feind“ (57,w),
wie eine Befragte aus der Oberpfalz erklärt. Die Bevölkerung auf beiden Seiten musste schnell lernen, die Unterscheidung zwischen diesen zwei ideologisch unterschiedlichen Welten als etwas Natürliches und De? nitives zu betrachten. Das Land am Rand
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References
Zusammenfassung
In den deutsch-tschechischen Beziehungen spielt die Geschichte eine wichtige Rolle. Sie wird zum einen als Argument für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft benutzt, zum anderen aber auch als Waffe, um die andere Seite möglichst negativ darzustellen.
Die Arbeit untersucht an Hand eines qualitativen Datenmaterials die Funktion der Vergangenheitsdiskurse in der deutsch-tschechischen Nachbarschaft.