188
politischen Engagiertheit auszuweichen. Viele kauften alte Häuser in den ehemaligen
sudetendeutschen Gebieten und sanierten damit die verfallenen Bauten. Denn in der
Zeit des Kommunismus konnten die Menschen eigentlich so richtig bauen, wie sie
sich das vorstellten. In den Städten wurden viele Plattenbauviertel geschaffen. Die
einzige Möglichkeit, wie sie ihre eigenen Vorstellungen vom Wohnen etwas realisieren konnten, war auf dem Lande gegeben. Die Chata ermöglichte, ähnlich wie die
Datsche in der DDR oder die Datscha in Russland, die Ausübung individueller Tätigkeiten im kollektivierten Staat. Sie befriedigte ein wenig die Sehnsucht nach Privateigentum und Individualismus. Zudem stand sie etwas weniger unter Kontrolle und
Aufsicht der Staatsorgane.
„Als in den sechziger Jahren das mit den Wochenendhäusern angefangen hat,
begannen sich die Gebiete doch etwas zu füllen, auch wenn nur an den Wochenenden. Und endlich kümmerte sich jemand um die Häuser. Meistens aber
war es schon zu spät, sie wurden zu gefährlichen Ruinen und mussten abgetragen werden. Viele Gemeinden wurden dem Erdboden gleich gemacht. Das sieht
man zum Beispiel westlich von Lesná. Manchmal sieht man dort zwar noch die
Reste der Grundmauer, aber sonst ist da nichts mehr geblieben.“ (62,m)
Die Befragten sind sich dessen bewusst, dass in den Nachkriegsjahren mit der Liquidierung der Ortschaften auch gewaltige Veränderungen der Kulturlandschaft vor sich
gingen. Sie haben deswegen in der Regel Verständnis dafür, wenn die Vertriebenen an
der Stelle nicht mehr existierender Dörfer Denkmäler errichten und Erinnerungen an
ihre Heimat p? egen. Sie wissen, dass die Sudetendeutschen regelmäßig hierher zurückkehren und sogar Festakte oder Wallfahrten veranstalten. Es ist aber auch offensichtlich, dass die Mehrheit der tschechischen Einheimischen solchen Aktivitäten mit
ziemlicher Gleichgültigkeit begegnet. Die Tätigkeit der Landsmannschaft im kulturellen Bereich wird dabei durchaus bemerkt. Sie steht in einem direkten Gegensatz zu
ihren sonstigen politischen Aktivitäten, die wiederum abgelehnt werden.
11.4 Das Jahr 1968
Während auf der tschechischen Seite den Reformversuchen und den Ereignissen des
Prager Frühlings keine wichtige Rolle für die Gestaltung der deutsch-tschechischen
Beziehungen beigemessen wird, bedeuten die Ereignisse, die am späten Abend des 20.
Augusts in der beginnenden Besetzung der Tschechoslowakei durch Truppen des Warschauer Paktes gipfelten, für die bayerischen Gesprächspartner einen bedeutenden
historischen Meilenstein. Fast jeder Befragte, der sich daran erinnern kann, verbindet
mit dem Jahr 1968 – neben der 68er-Bewegung in der Bundesrepublik – den Panzereinmarsch in die Tschechoslowakei. Mehr präsent ist das Thema in Interviews bei
Personen mit höherer Schulbildung. Der Prager Frühling gehört in Bayern zu den am
meisten bekannten historischen Ereignissen in der Tschechoslowakei:
189
„Das war der Prager Frühling. Nicht nur die 68er–Bewegung bei uns. Da hat
sich in Prag dieser Student am Wenzelplatz verbrannt. Der Hintergrund war
wohl, da Tschechien irgendwelche Freiheiten oder Lockerungen durchsetzen
wollte. Und dann sind wohl die Russen einmarschiert. An diese Bilder kann ich
mich auch noch erinnern in der Zeitung, wo also die Panzer nach Prag kamen.
Damals 10 Jahre alt, da hatte ich Angst, Panzer machen einem Kind Angst.
Russland war für uns damals der große Bedroher.“ (47,w)
„Der Prager Frühling spielte sich ja praktisch vor unserer Haustür ab. Wir
hatten ein ganz großes Mitgefühl mit den Menschen, die hier zu Recht aufbegehrten gegen die kommunistisch sowjetische Fremdherrschaft. Wir hatten
auch Verständnis für diejenigen, die hier unter Druck ihre Heimat verließen,
um ihre eigene Haut zu retten und hier ein neues Leben aufbauten und damit
uns bereicherten, indem sie ihr Wissen, ihre beru? iche Qualität bei uns mit einbrachten.“ (69,m)
Die Interviewpartner haben oft noch die Bilder aus den Medien in Erinnerung. Sie
halten die Ereignisse für „einen guten Anfang“, bedauern, dass die Reformwelle niedergeschlagen wurde, und verurteilen „die Brutalität, mit der man im Osten vorgegangen ist“ (64,m). Die Bevölkerung hat sich dabei, wie man den Erinnerungen der bayerischen Befragten entnehmen kann, mit den Tschechen und Slowaken solidarisiert.
Ein Interviewpartner nennt es einen „unübersehbaren Solidaritätseffekt“ (69,m). Seine
Worte bestätigen zahlreiche in der Regionalpresse erschienene Reaktionen, aus denen
ein Mitgefühl mit den Menschen deutlich wurde. Die Interviewpartner fragen dabei,
was das für ein Regime sei, das nur mit Hilfe von Panzern und bewaffneten Soldaten
aufrechterhalten werden kann. Der Prager Frühling führte ihrer Meinung nach zu „einem gewaltigen Zu? uss von geistig hochstehenden Leuten aus Tschechien in die Bundesrepublik. Also das war schon etwas, was man hier [in der Region] hautnah erlebt
hat“. (69,m) Die Befragten rückten den damaligen August oft auch in einen Zusammenhang mit dem Ungarnaufstand von 1956 und verglichen die Auswirkungen beider
Momente auf ihr Land und ihre engere Heimat. Tiefer betroffen waren sie freilich von
der Situation im Nachbarland, da diese Okkupation vor der eigenen Haustür geschehen ist. Kaum jemand kannte allerdings die politischen Führer der Tschechoslowakei,
Dub?ek oder Svoboda kamen nur selten in den Gesprächen vor.
Die Intervention von 1968 ließ nur wenige Bayern in Ruhe. Ein Großteil von ihnen
fürchtete, dass die Sowjetunion nicht in der Tschechoslowakei aufhört, sondern weiter
nach Bayern durchbricht, „wenn sie schon da drüben ist mit Panzern und mit den Fliegern“ (70,m). Einige Befragten verfolgten von der Grenze aus die Anwesenheit sowjetischer Panzer und hatten Angst vor einem Grenzkon? ikt, der sich zu einem Krieg
ausweiten könnte. Sie beobachteten auch, wie die in ihrer Nähe (insbesondere im
Fichtelgebirge) stationierten amerikanischen Einheiten auf die Situation mit intensiven Vorbereitungen reagierten, um einem eventuellen Angriff zu begegnen. Der Grenzraum konnte somit im Falle eines militärischen Kon? iktes unmittelbares Kampfgebiet
werden. Das alles erhöhte die Unruhe der Menschen. Diese neuartige Sicht auf die
Grenzlage und die Neugründung von Garnisonen hatte zur Folge, dass die einst von
190
den Nationalsozialisten geschürte Angst vor dem Osten wieder aufkam und weiter tradiert wurde. Die damalige Alltagserfahrung stellt auch ein Hindernis in der Neugestaltung der gegenseitigen Beziehungen nach 1989 dar:
1968 war ich in Bayreuth und hatte in der Nacht vorher Dienst und ging am
Morgen um halb acht ins Bett. Gegen zehn oder elf weckt mich meine Frau auf
und sagt, dass in Prag die Russen einmarschiert sind. Ich bin hochgeschreckt
aus dem Schlaf. Ich wusste überhaupt nicht, was los ist, was, bricht der dritte
Weltkrieg aus oder was läuft da ab? (69,m)
Damals sind bei uns die Ängste übergeschwappt, dass wir die nächsten sind,
die gehen. Das war damals so schlimm, dass also teilweise die Leute auf gepackten Koffern geschlafen haben. F: Haben sie befürchtet, dass sie ja wegziehen müssen? Also weiter nach Westen? A: Ja, ja. Da hat es, soweit ich mich
erinnere, noch eine Prophezeiung gegeben von Mühlhiasl, bis Nürnberg. Also
haben wir schauen müssen, dass wir weiter wegkommen als wie Nürnberg. Das
war also damals wirklich die Angst. (80,w)
Das erste Mal hab ich mich 1968 bei der Volkshochschule für einen Tschechisch-Kurs angemeldet. Ich habe das Lehrbuch noch zuhause. Dann war das
Ende des Prager Frühlings, damit machte ich das Buch zu, und dachte: das
Kapitel sei abgeschlossen. F: Wie haben Sie den Prager Frühling erlebt? A:
Mit sehr gemischten Gefühlen. Ich fragte mich, kommt jetzt der Krieg? Ich war
zwar schon älter, also nicht mehr mit ganz so vielen Ängsten, doch ich habe das
mit sehr gemischten Gefühlen erlebt. Es hat mich beeindruckt, ich habe gesehen, wie viele rüber ge? ohen sind, und den Weg hierher gesucht haben. F: Und
wie erlebten Sie die Monate vor der Niederschlagung? A: Es waren wieder soviel Drohgebärden da, es war schon bedrückend. (57,w)
„Ich kann mich zum Beispiel noch gut erinnern, beim Prager Frühling, das
war also bei uns sehr aufgewühlte Stimmung und es sind damals sehr viele Befürchtungen wach geworden, jetzt sind wir dann dran. Das war also, für uns ist
es wirklich, äh, Tschechien mit Russland im Rücken, war für uns der Feind. Vor
dem musste man sich hüten.“ (80,w)
Die Meinung der Bayern, dass die Tschechen Feinde ihrer Grenzheimat seien, relativierte sich dann paradoxerweise infolge der Ereignisse des Jahres 1968. Die bayerische Bevölkerung zeigte Sympathien für den Widerstand der tschechoslowakischen
Bürger gegen die Truppen des Warschauer Paktes. Das führte dazu, dass fortan stärker
als zuvor zwischen dem tschechoslowakischen kommunistischen Regime und den Unterdrückten unterschieden wurde. Diese Differenzierung war bisher kaum vorhanden,
das Bild des „Feindes“ umfasste vorher sowohl die Staatsmacht als auch die Menschen. Das Bild des tschechischen (oder böhmischen) Feindes sollte sogar bis zum
Ende des Ost-West-Kon? iktes aktuell bleiben. Mit dem Ende der ideologischen Trennung Europas ist es jedoch immer noch nicht verschwunden. Es modi? zierte sich zu
einer ausgeprägten Vorsicht und Skepsis gegenüber Tschechien.
191
Wenn die Befragten der östlichen Seite über die deutsch-tschechischen Beziehungen sprechen, wird das Jahr 1968 ausdrücklich gar nicht erwähnt. Einige von ihnen
erinnern sich, dass Tachau und Eger von Truppen der DDR besetzt worden seien. Da
aber die Anwesenheit deutschsprachiger Soldaten unter der Bevölkerung für Unruhe
sorgte, zogen sie sich bald wieder zurück und in beide Regionen sind dann die Sowjets
einmarschiert. Eine Befragte deutscher Nationalität freute sich über die Reformbewegung in der Tschechoslowakei und erinnerte daran, dass in Eger in den 1960er Jahren
die ersten Zusammenschlüsse von Angehörigen der deutschen Minderheit statt? nden
konnten. Diese Zeit wird als Lockerung bezeichnet. „Das haben auch wir hier im
Grenzland gespürt. Die Menschen hielten hier zusammen, vorher hielten sie sich gegenseitig in Schach“ (72,w) Diese Aktivitäten der Deutschen wurden aber mit der
Niederschlagung der Reform verboten, so dass of? zielle Begegnungen und die Gründung eigener Vereinigungen von Angehörigen der deutschen Minorität erst nach der
politischen Wende 1989 möglich wurden.
„Wir haben das Jahr 1968 in Deutschland erlebt. Nachdem wir in den Nachrichten gehört haben, was in der Tschechoslowakei passiert ist, wollten wir in
Deutschland bleiben. In Aš sind jedoch unsere Eltern geblieben und nach den
Erfahrungen des Jahres 1945 war uns klar, dass es ihnen sehr schlecht gehen
würde, wenn wir nicht zurückgekommen wären. Uns war klar, dass sie sie verschiedentlich beeinträchtigen würden, weil sie Deutsche sind. Und dann erlebten wir etwas Paradoxes. Wir waren die einzigen, die in die andere Richtung
gefahren sind, weil die meisten über die Grenze nach Westdeutschland strömten. Sie winkten aus dem Zug, hielten tschechoslowakische Flaggen, weinten
und schrien dabei: Es lebe die Tschechoslowakei. Damals hat der ganze Bahnhof in Schirnding geweint. (65,w)
11.5 Der Dialog nach 1989
Der Dialog nach 1989 ist nach Einschätzung der Befragten zu viel von der Vergangenheit beein? usst. Darin sind sich Bayern sowie Tschechen einig. In diesen Vergangenheitsdiskursen existieren zumindest drei Akteure: Deutsche, Tschechen und Sudetendeutsche. Dabei ist ebenfalls noch zwischen Bayern und Sudetendeutschen im Blick
auf die Geschichtswahrnehmung zu unterscheiden, denn einige historische Daten der
deutschen und tschechischen Geschichte werden aus einem anderen Blickwinkel gesehen und betrachtet. Schließlich hält es ein beträchtlicher Teil der westlichen Nachbarn nicht für richtig, wenn die Sudetendeutschen Forderungen gegenüber der tschechischen Seite erheben.
Abgesehen von diesen Diskussionen und der Suche nach der (den) Geschichtswahrheit(en) stellen die Kon? iktthemen ansonsten kein Hindernis für die Entwicklung
der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit dar (dazu mehr im Kapitel 12.2). Dabei
interessieren sich die Bürger diesseits und jenseits der Grenze kaum für die zwischenstaatliche Ebene des deutsch-tschechischen Dialogs. Etwas mehr sind die tschechi-
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In den deutsch-tschechischen Beziehungen spielt die Geschichte eine wichtige Rolle. Sie wird zum einen als Argument für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft benutzt, zum anderen aber auch als Waffe, um die andere Seite möglichst negativ darzustellen.
Die Arbeit untersucht an Hand eines qualitativen Datenmaterials die Funktion der Vergangenheitsdiskurse in der deutsch-tschechischen Nachbarschaft.