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Die Erlebnisgeneration erinnert sich ziemlich häu? g auch an die Todesmärsche, die
vom Konzentrationslager Flossenbürg her insbesondere durch die Region Tachov kamen und weiter in Richtung Böhmerwald gingen. Der Böhmerwald stellte nämlich für
die Nazis einen relativ sicheren Ort dar. Die Befragten haben die Bilder der neben den
Straßen liegenden Toten noch im Kopf. Diese Erinnerungen verstärkten damals zunehmend den Hass gegenüber den Deutschen, der dann bei einem Teil der Bevölkerung
in den übertriebenen nationalen Ausschreitungen während der Vertreibung gipfelte.
Im Gegensatz zu den repräsentativen Umfragungen fürchteten meine tschechischen
Interviewpartner nicht, dass in Deutschland der Nationalsozialismus wieder entstehen
könnte. Zwar zeigten sie Empörung über die Vorgänge am Heß-Grab in Wunsiedel, sie
bemerkten jedoch, es handle sich dort eher um Randgruppen. Der Neonationalsozialismus stellte für sie also keine Gefahr und Bedrohung der deutschen Demokratie dar.
Dagegen zeigen eben die erwähnten repräsentativen Meinungsumfragen in den tschechischen Grenzgebieten, dass die Hälfte der Tschechen ein Wiedererstarken der rechten Szene im Nachbarland befürchtet. Andererseits behauptet etwa ein gleicher Anteil,
dass sich das Land de? nitiv mit der Nazi-Vergangenheit auseinandergesetzt hat.412
11.3 Vertreibung und Neubesiedlung
Die Heimatvertreibung wird bei den Interviews oft erwähnt. Eine große Rolle spielt
sie in Erzählungen der tschechischen Befragten, die sich immer wieder darauf sowie
auf die Zeit beziehen, als „hier noch Deutsche gelebt haben“ (22,m). In Bayern sprechen darüber besonders die Vertriebenen selber. Dazu kommen einige, die weniger die
Vertreibung als vielmehr das Elend der regionalen Auffanglager erwähnen. Allgemein
scheint das Thema im nördlichen Teil des bayerischen Untersuchungsgebietes sehr
viel präsenter zu sein als in der südlichen Oberpfalz. Was die Landkreise Hof, Wunsiedel und Tirschenreuth betrifft, teilen die Befragten – besonders die Älteren - mehrheitlich die Meinung, dass den Sudetendeutschen „schreckliches Unrecht angetan
wurde“ (49,m) und dass sie „schweres Schicksal hatten“ (53,m). Sie zeigen auch Verständnis dafür, dass die Vertriebenen „so sehr an der Vergangenheit festhalten“ (63,w),
und halten dies für keinen Störfaktor in den deutsch-tschechischen Beziehungen. Sie
schätzen außerdem sehr die „großartige Leistung“ (53,m), dass es nach dem Krieg
gelungen sei, so viele Vertriebene zu integrieren. Diese Gesprächspartner antworten
viel emotionaler und zeigen sich betroffener als diejenigen aus den Landkreisen in der
Oberpfalz.
Dass das Thema der Heimatvertreibung im nördlichen Untersuchungsgebiet öfter
auftaucht, liegt zum einen daran, dass die Landsmannschaften und andere Organisationen der Vertriebenen dort viel aktiver sind als zum Beispiel in der Region Schwandorf,
wie der Berichterstattung sudetendeutscher Medien zu entnehmen ist. Zum anderen ist
aber auch nicht zu übersehen, dass die Integration der Heimatvertriebenen im Fichtel-
412 Ebd., S. 170f.
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gebirge und in der Oberpfalz unterschiedlich verlaufen ist. Während sie von den Interviewpartnern vor allem aus der südlichen Oberpfalz und dem Bayerischen Wald oft als
vollständige Assimilation an das Leben der „Einheimischen“ verstanden wird, hätten
die nördlicheren Sudetendeutschen kulturelle Autonomie, Tradition sowie anerkannte
Akteure aus ihren Verbänden geschaffen. Zentrum wurde Marktredwitz. Dort stehen
heute das Egerland-Haus und das Egerland-Museum. Dazu betreibt im unweit von
Marktredwitz gelegenen Hohenberg das Sudetendeutsche Bildungs- und Sozialwerk
eine Bildungsstätte, die ebenfalls das Wir-Gefühl der Betroffenen gestärkt hat.
Wenn die Befragten aus dem nördlichen Untersuchungsgebiet Bayerns danach gefragt werden, welche historischen Ereignisse sie mit Tschechien verbinden, dann fällt
den meisten eben die Heimatvertreibung ein. Sie erscheint als wichtiges Ereignis, das
sie und auch die Region stark beein? usst habe. An dieser Stelle möchte ich darauf verweisen, dass neben Furth im Wald gerade Wiesau im Oberpfälzer Landkreis Tirschenreuth Durchgangslager für die Sudetendeutschen war. Viele fanden dort ein neues Zuhause. Im Folgenden einige typische Aussagen über ihre Integration:
„Es kam ja jede Menge neuer Menschen. Das war alles neu für uns. Da war
ich aber noch zu klein. Es gibt seit damals eine Sudetenstraße bei uns. F: Wie
war der Umgang mit den Sudetendeutschen für Sie? A: Für mich völlig normal.“ (47,w)
„Ich kann verstehen, dass die Menschen verstört sind, weil sie ihre Heimat verloren haben. Aber ich denke, das ist eine Kollektivschuld, und die hatten sie
halt teilweise auszubaden. Sie sind ja entschädigt worden, und ich kann nicht
verstehen, dass jetzt wieder Forderungen erhoben wurden. Da bin ich absolut
dagegen.“ (47,w)
„Die Vertriebenen hatten in der Tschechoslowakei und dann auch bei uns ein
schweres Schicksal. Es ist schön, dass sie ihr Brauchtum noch aufrechterhalten, da hab ich überhaupt nichts dagegen. Aber was eben störend oder destruktiv ist, sind diese ewigen Forderungen nach Entschädigung.“ (53,m)
„Sie [Die Vertriebenen] haben also ihre Kultur hier mit rübergenommen, haben
die weitergetragen, aber haben irgendwo den Strich nicht gezogen mit der Vergangenheit. Also mit der Vergangenheit meine ich jetzt, nicht mit der Kultur
brechen, aber trotzdem zu sagen: so, das ist eine Zeit, die ist vorbei. Ich lebe
jetzt hier und integriere mich jetzt hier und habe keine Ansprüche auf irgendwelche Dinge, die ich mal hatte vor 50 oder 60 Jahren.“ (40,w)
Im Norden (Landkreise Hof, Wunsiedel und Tirschenreuth) ? nden sich sehr viel mehr
Aussagen, in denen ein Zusammenhang zwischen der heutigen Lage der Heimatvertriebenen und dem deutsch-tschechischen Dialog in den Grenzgebieten hergestellt
wird. Der Transfer wird als eine wesentliche Ursache für Missverständnisse und Kommunikationsprobleme zwischen Deutschen und Tschechen gesehen. Die von vielen
Sudetendeutschen gestellten Forderungen nach Besitzrückgabe werden zwar ähnlich
wie im Süden häu? g abgelehnt, aber doch öfter als „nachvollziehbar“ oder „verständ-
176
lich“ charakterisiert. Dabei zeigt sich wiederum, dass die jüngere Generation nur mangelhafte Kenntnisse über das Schicksal der aus der Tschechoslowakei stammenden
Deutschen hat. Für sie war wegen dem Zweiten Weltkrieg das Zusammenleben zwischen Deutschen und Tschechen in dem einen Land eigentlich nicht mehr möglich
gewesen. Einige bezeichnen die Vertreibung als die „einzige Möglichkeit“ (23,w) zur
Lösung der damaligen Kon? ikte. Die meisten Befragten – abgesehen vom Alter und
Bildungsgrad – denken im Hinblick auf die Forderungen der sudetendeutschen Organisationen, es sei nur noch „die Frage der Zeit, bis das nunmehr Geschichte ist“
(57,m). Im bayerischen Grenzraum würden sehr viele gerne „manchmal eine größere
Zurückhaltung [von Seiten der Vertriebenen] sehen, und man wünscht sich, dass also
hier keine Misstöne in Zukunft mehr zu hören sein werden“ (69,m)
Auch wenn die beiden Zugänge zum Thema nicht miteinander verglichen werden
können, überwiegt in der Feldstudie aus dem bayerischen Grenzraum deutlich mehr
als in der bundesweiten Erhebung die Auffassung, dass die Vertreibung eine Reaktion
auf die Verbrechen der Nazis zwischen 1939 und 1945 war. Die etwas anders gestellte Frage der Meinungserhebung des Instituts für Demoskopie in Allensbach lautete:
„Stimmen Sie dieser Aussage zu? Zu Flucht und Vertreibung wäre es doch nie gekommen, wenn die Deutschen im Zweiten Weltkrieg nicht so viele Verbrechen begangen
hätten. Deshalb brauchen sich die Regierungen von Tschechien, Polen und Russland
nicht zu entschuldigen.“ Diese Auffassung teilen 44 Prozent der Bundesbürger und 38
Prozent der Vertriebenen.413 Andere repräsentative Befragungen wie die von 2002 für
die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zeigen, dass das
Thema für 59 Prozent der bundesdeutschen Bürger immer noch aktuell ist.414 Als
Grund für ihre Einstellung nennen sie meist, dass es Flucht und Vertreibung auch heute noch gäbe. Sie bewegen offensichtlich die Menschen nicht weniger als andere Vorkommnisse der jüngeren deutschen Geschichte, die in den letzten Jahrzehnten wesentlich mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit seitens der Massenmedien und der Geschichtsschreibung standen. Die Vertriebenen und die Angehörigen ihrer Generation
der 60jährigen und älteren Deutschen sagen der Meinungsumfrage zufolge jeweils zu
rund zwei Dritteln ganz deutlich, dass sie diese Traumata weiterhin beschäftigen. Dieselbe Antwort gibt knapp ein Drittel der unter 30jährigen. Nur jeder zehnte Bundesbürger bekennt, das Ganze sei ihm gleichgültig, oder er stimmt der Aussage zu: „Ich
? nde es schlimm, dass ausgerechnet die Deutschen dieses Thema wieder hochbringen“. Seine Ausblendung stößt somit mehrheitlich noch auf Unverständnis.
Hierzu einige Kernpassagen der Interviewpartner aus dem bayerischen Grenzraum
zur Aktualität des Problems:
„Ich glaube nicht, dass es recht war. Aber bei den Folgen von damals würde
sich für mich die Frage stellen, ob ein Zusammenleben ohne Vertreibung möglich gewesen wäre. (…) Es gibt ja auch nicht nur Heimatvertriebene sondern
auch Heimatverbliebene, also Deutsche, die nach 1949 drin waren, wo die
413 Thomas Petersen (Fn. 15), S. 51.
414 Ebd., S. 46.
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Tschechen einfach zugemacht haben. […] Im Nachhinein muss man sagen,
müssen sich die, die vertrieben worden sind, sagen, sie haben hier das bessere
Los gezogen. Sie sind hier eingegliedert worden. Es ist ja nicht so, als wenn ein
Sudetendeutscher in der Bundesrepublik zweite Klasse oder so wäre. Er ist ja
voll eingegliedert in unsere Gesellschaft. Während die, die verblieben sind,
materiell nie das haben werden, was die haben, die vertrieben wurden. Deswegen sehe ich nicht ein, wenn einer hier wirklich das bessere Los gezogen hat,
jetzt noch Forderungen stellt auf Ausgleichszahlungen, und Rückgabe von
Recht, wo jetzt drinnen im Haus vielleicht einer zum Zittern anfangen muss. Da
habe ich überhaupt kein Verständnis dafür. […] Eine Frage der Zeit, bis das
nunmehr Geschichte ist.
[…]
Vor kurzem war wieder ein Leserbrief in der Zeitung, dass also die Vertreibung
eine Art Gegenreaktion [auf den Nationalsozialismus] war. Das sehe ich ganz
genau so.“ (57,m)
„Man kann doch nie im Leben allen alles zurückgeben, was ihnen mal genommen wurde. Das geht nicht. Das funktioniert auch nicht. Man muss einen
Schlussstrich ziehen, und von neuem anfangen. Das sage ich jetzt lockerleicht,
denn ich habe ja nichts verloren. Aber ich denke, es geht nur so. Auch wenn das
für die Betroffenen nicht schön ist. Ich denke, es ist notwendig.“ (40,w)
Ich glaube, drüben ist der Nationalismus noch stärker verbunden mit der Angst,
man könnte ihnen noch was wegnehmen. Die ist bei den Tschechen unterschwellig da, wenn die mit den Deutschen zu tun haben. […] Die Zeit und die
Erfahrung muss den Leuten zeigen, dass sie keine Angst mehr haben müssen.
Weder vor den Deutschen noch vor anderen. Das schleift sich dann von selbst
ein.“ (53,m)
F: Können Sie verstehen, dass die Bundesregierung da eher zurückhaltend bisher war, also eher diese Forderungen ablehnte? A: Ja, klar. Die tschechische
Stellungnahme kann ich auch verstehen. Es sind ja wahrscheinlich die Eigentümer, die das damals erworben haben, schon gar nicht mehr am Leben. F:
Mag sein, dass die Sudetendeutschen eher eine Randgruppe darstellen? A: Ich
kenne persönlich keine Sudetendeutschen. Ich möchte das nicht so bezeichnen.
Ich kenne Menschen, die damals ihre Heimat verloren haben. Das trenne ich
total, weil die nicht solche Forderungen stellen. Die wollen lediglich ihre Heimat wieder sehen. Und das ist gut. Aber ich trenne das von der Führung der
Sudetendeutschen, die Führung kritisiere ich. Dass die zu radikal sind und keine Ruhe geben. (47,w)
Im südlichen Untersuchungsgebiet wird oft der Unterschied zwischen „Einheimischen“ und „Heimatvertriebenen“ deutlich gemacht, wenn man direkt nachfragt. Die
Gesprächspartner weisen zum Beispiel darauf hin, dass viele Sudetendeutsche Protestanten waren und in die mehrheitlich katholischen Regionen Bayerns gekommen sei-
178
en. „Bei uns haben wir viele Sudetendeutsche. Das sind Mitbürger wie jeder andere
auch.“ (45,w) „Und wenn sie es nicht sagen würden, dass sie Sudetendeutsche sind“,
setzt eine andere Befragte fort, „dann wüsste das ja auch keiner, weil es da doch keinen Unterschied gibt“. (40,w) Viele halten es jedoch nicht für richtig, wenn
„diese sudetendeutsche Kultur so hochgehalten wird und dass immer so der
Aspekt da im Hintergrund schwillt: Wir möchten unsere Länder wieder, die wir
da drüben mal hatten. Das ? nde ich, das ist verkehrt. Da müsste man mal irgendwann einen Strich ziehen, auch als Sudetendeutscher und müsste sagen:
so, das war es gewesen. Jetzt ist es halt nun mal so gekommen, wie es gekommen ist, und jetzt ist die Zeit vorbei. Aus, Ende.“ (40,w)
Die Vertriebenen selber würden eigentlich selber sagen, sie wünschen sich als „Oberpfälzer“ zu fühlen. „Die fast gemeinsame Mundart [der Sudetendeutschen] mit den
Oberpfälzern verbindet mich schon mit der Oberpfalz.“ (68,m) Doch gleichzeitig bezeichnen sie das Egerland als ihre Heimat und suchen nach Gemeinsamkeiten zwischen den beiden benachbarten Regionen. Sie weisen darauf hin, dass sie mit der Vertreibung zwar alles verloren haben, dass aber für sie eine Rückkehr nicht in Frage
komme. Viele von ihnen behalten dennoch ein ausgesprochen intensives Heimatverständnis. Sie interessieren sich für die Entwicklung ihres einstigen Dorfes oder ihrer
Stadt, suchen dort Kontakte, nehmen an verschiedenen Fahrten dorthin teil usw.
Ein Beispiel dafür, wie es sich mit der Hoffnung der Vertriebenen auf Rückkehr
verhält, bietet eine Untersuchung unter den Heimatvertriebenen im Oldenburger Land.
Ein Teil von ihnen hatte von Anfang an keine Hoffnung auf Rückkehr (38 Prozent),
während der andere Teil erst durch historisch geschaffenen Bedingungen wie die Ostverträge die Hoffnung aufgab (11 Prozent). Wieder andere akzeptieren bis heute den
Verlust der Heimat nicht (33 Prozent). In dieser Erhebung deckt sich der Kreis der
Personen, die „von Anfang an“ die Hoffung auf Rückkehr aufgaben, fast komplett mit
dem Anteil derjenigen, die keine Beziehung zur früheren Heimat haben.415 Dazu die
Befunde aus unserem Untersuchungsgebiet:
„Als wir damals 1946 hier herkamen, wurden wir von der einheimischen Bevölkerung sehr schlecht aufgenommen. (…) Dann war da diese Schulspeisung,
da haben wir von den Amerikanern Kakao und dergleichen bekommen. Und die
einheimischen Mitschüler waren natürlich darüber nicht sehr begeistert, weil
sie selbst nichts bekommen haben. Aber als ich dann Lehrer und Schulleiter
war und wieder in dem Ort kam, da waren wir integriert.“ (68,m)
„F: Was ist für mich Heimat? A: Wenn man auf die Karte schaut, ist es natürlich Wiesau, das ist klar, das Zentrum ist Wiesau. (...) Ich bin gern in Eger,
wenn ich mit dem Auto rüber gefahren bin, da bin ich ins Kaufhaus rein gegangen, in die Apotheke rein gegangen, in Geschäfte rein gegangen, in die Metzgerei rein gegangen, habe mir alles angeschaut, habe mich auch mit manchen
415 Vgl. Hans-Ulrich Minke/Stefan Wenskat (Fn. 16), S. 48f.
179
Leuten unterhalten. Das war für mich wie wenn ich in Wiesau spazieren gehe,
so ungefähr ist das. Eger und Franzensbad, das selber gibt mir eigentlich mehr,
wie wenn ich in Wiesau durchgehe.“ (61,m)
„Die Tschechen haben drüben teilweise echt Angst [vor sudetendeutschen Ansprüchen]. Und die wissen nicht genau, wie das kommt: Die Tschechen haben
gemeint, die Deutschen seien freiwillig weg, und haben das zurückgelassen.
Aber es gibt Familien, die wieder rüber kommen und sagen, das sei der Schrank
des Opas und so weiter. Aber es gibt auch Tschechen, die haben ein ganz tolles
Verhältnis, da lädt man sich gegenseitig ein.“ (68,m)
„Ich war das erste Mal 1989 im Frühjahr in meinem Geburtsort. Das war ein
Erlebnis. Es war bei uns eine Euphorie. (...) Ich konnte mich noch an die Stra-
ßen erinnern. Allgemein war es ein sehr freudiges Gefühl, auf der anderen Seite sehr deprimierend. Da man gesehen hat, in welchem Zustand die Häuser, der
Friedhof usw. waren. Grabsteine umgeschmissen.“ (68,m)
Das Wissen um den Inhalt der Dekrete des Staatspräsidenten Edvard Beneš und deren
Problematik im Zusammenhang aktueller Diskussionen ist im ganzen Untersuchungsgebiet in Bayern gleichermaßen schwach ausgeprägt. Dasselbe gilt auch für andere
Themen wie mögliche Entschädigungszahlungen, Besitzansprüche oder das von der
Bundesregierung geplante Zentrum gegen Vertreibungen. Besondere Höhepunkte der
Debatten wie die einstige Losung des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, wonach die Tschechische Republik erst nach der Aufhebung der Dekrete der Europäischen Union beitreten könne, oder die Verbalattacke des tschechischen Ex-Ministerpräsidenten Miloš Zeman gegen die vertriebenen Sudetendeutschen416 sind dagegen weitgehend bekannt. Ihnen wird jedoch keine besondere Aufmerksamkeit
geschenkt.
„Es sind viele Schlesier bei uns. Obwohl die Schlesier, das ist nichts Besonderes mehr. F.: Ist das mit den Sudetendeutschen das Gleiche? A: Das sind Mitbürger wie jeder andere auch. F: Hier gibt es ja sehr viele Heimatvertriebene,
spielen diese Themen hier eine Rolle? A: Also in der Zeitung direkt nicht und
von den Menschen her wüsste ich auch nichts, aber ich meine, man hört es im
Fernsehen, dass oft alte Besitztümer jetzt wieder in Anspruch genommen werden sollen und die Leute drüben Angst haben, dass sie ihr Haus hergeben müssen, das hört man ab und zu. F: Aber kein spezielles Thema hier? A: Nein, eigentlich nicht.“ (45,w)
F: Wissen Sie etwas über das „Zentrum gegen Vertreibung? A: Tja, da kann ich
jetzt sehr viel dazu sagen, weil es schon in der Bibel anfängt mit Vertreibung.
Aber die Vertriebenen, ja sicher, mein Opa war auch ein Vertriebener. Der ist
in Böhmen aufgewachsen, dann war er wahrscheinlich ein Sudetendeutscher
416 Vgl. Die Welt vom 30. Januar 2002.
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oder nicht, also, ich nehme es an. Aber wie gesagt, wie der gestorben ist, war
ich noch relativ klein,. Ich meine, da haben wir auch nie drüber gesprochen.
(40,w)
„Wenn die [Tschechen] ein ähnliches Verhältnis hätten, zu ihrem Herrn Beneš
zum Beispiel, wie wir zu unseren ehemaligen politischen Führern und Größen
haben, dann wäre das ganze Verhältnis auch entspannter.“ (53,m)
Wie bereits erwähnt, weiß die mittlere und jüngste Generation oft gar nichts über die
Heimatvertreibung, oder ihre Kenntnisse sind nur bruchstückhaft. Die unter 30 Jahren
haben Flucht und Vertreibung nicht als prägendes Erlebnis erfahren und verfügen über
keinen besonderen persönlichen Bezug zu den Ereignissen. Das gilt auch für diejenigen, die Vertriebene im unmittelbaren Umfeld haben. Dem Allensbacher Institut für
Demoskopie zufolge sollen dabei die unter 30jährigen noch zu 24 Prozent und damit
nicht seltener als der Durchschnitt der Bevölkerung der ganzen Bundesrepublik jemanden in ihrer Familie zu den Heimatvertriebenen rechnen.417 Viele sagen, dass sie
zwar schon „mal darüber [die Vertreibung] in der Schule gehört“ hätten. Sie besitzen
also ein Temporalbewusstsein, halten es aber nicht für richtig, „wenn sie [die Vertriebenen] immer wieder die Geschichte betonen“ (45,w). Sie sehen darin sogar die Gefahr, dass dies „Ärger mit Tschechien verursachen kann, wenn es immer wieder hochgespielt wird“ (45,w).
In Tschechien sind Kenntnisse über die Vertreibung und Zwangsaussiedlung der
Sudetendeutschen durchaus bei allen Alters- und Bildungsgruppen vorhanden. Während die quantitativen repräsentativen Untersuchungen zeigen, dass in der Öffentlichkeit ein negatives Bild der Vertriebenen überwiegt und die Mehrheit die Entfernung
der Sudetendeutschen für eine gerechte Sache hält, bieten die Ergebnisse meiner qualitativen Befragung in den Grenzgebieten ein eher differenziertes Bild. Nach den repräsentativen Erhebungen des Soziologischen Instituts der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik aus dem Jahr 2005 sind 80 Prozent aller im
Grenzland lebenden Bürger der Auffassung, dass die Vertreibung – in den eigenen
Vergangenheitsdiskursen als „Abschub“ (odsun) bezeichnet“ - gerechtfertigt war.418
Für fast ein Drittel stellt die Auseinandersetzung mit dem Thema der Vertriebenen ein
offenes Problem dar. Wenn man bedenkt, dass noch im Jahr 1996 fast 90 Prozent der
Befragten aus den tschechischen Grenzgebieten die Sudetenfrage für offen gehalten
haben, ist es im Vergleich mit aktuellen Ergebnissen von 2005 zu einer deutlichen Abschwächung des Kon? iktpotentials der sudetendeutschen Frage in der öffentlichen
Meinung gekommen. Gleichzeitig kann aber beobachtet werden, wie der Anteil derjenigen wächst, die sich dazu nicht äußern können oder unentschieden sind. Es steigt
also die Zahl jener, die sich dafür nicht interessieren oder nicht genug Informationen
darüber haben. Hierher gehören vorwiegend Vertreter der jungen Generation, die zwar
417 Vgl. Thomas Petersen (Fn. 15), S. 21.
418 Lukáš Novotný (Fn. 22), S. 173.
181
immer öfter Vertreibung zum Thema ihrer Forschungen machen, in der Mehrheit jedoch nicht unbedingt daran interessiert sind.
Bei den Intensivinterviews wird ähnlich wie in den repräsentativen Befragungen
festgestellt, dass es „richtig ist, dass die Sudetendeutschen abgeschoben wurden“
(68,m). Mehrheitlich halten die tschechischen Befragten die Vertreibung also für eine
gerechte Sache, denn „dafür, was sie uns angetan haben, vor allem, wie sie Hitler ins
Land geholt haben, kann man ihnen nicht einfach leicht verzeihen“ (68,m). Doch viele haben Vorbehalte gegen die Durchführung dieses Transfers, insbesondere gegen die
Gewalt, zu der es „in unserer Region zwar nicht gekommen ist, sondern anderswo wie
in Ústí“ (68,m). Einen kleinen Kommentar dazu bietet eine Befragte deutscher Nationalität aus der Region Tachov:
„Hier wird viel über die unmittelbaren Nachkriegsereignisse vor dem Beginn
der of? ziellen Abschiebung gesprochen. Bei uns gab es so etwas zwar nicht wie
etwa in Prag oder Brno. Viele haben sich aber bekanntlich gegen die Deutschen gewandt. Heute kann man jedoch nur schlecht nachweisen, wer was und
warum gemacht hat. Aber damals waren einfach viele, ob Gute oder Schlechte,
gegen die Deutschen.“ (72,w)
In den repräsentativen Meinungsumfragen ist jedenfalls die Gruppe derjenigen, die
Art und Weise der Aussiedlung kritisch sehen, viel kleiner als in meiner Untersuchung:
Die befragten Bürger kennen beispielsweise die wichtigsten Orte mit tragischen Vorfällen wie Ústí nad Labem/Aussig, Postoloprty/Postelberg oder den sogenannten Todesmarsch von Brno/Brünn zur österreichischen Grenze, wo es Grausamkeiten an den
Entrechteten und Enteigneten gegeben hat. Doch keiner erkundigt sich danach, was
genau dort in der Zeit vorher geschah.
Die meisten Befragten im tschechischen Grenzgebiet halten überwiegend die Ablehnung der Abschaffung der sog. Beneš-Dekrete für richtig. Die Sondergesetzgebung
des Präsidenten Edvard Beneš, die in das Leben der Deutschen entscheidend eingriff,
wird von der Öffentlichkeit verteidigt, auch wenn keine große Übereinstimmung mit
den Maßnahmen vorhanden ist. Die Interviewpartner verweisen dabei auf die Entscheidung der Alliierten, die „doch die Abschiebung beschlossen haben. Wir, also
Beneš und die Exilregierung, spielten dabei eine ganz kleine Rolle“ (68,m). Einige
erwähnen sogar die bekannte Tatsache, dass Beneš die deutschsprachige Bevölkerung
der Tschechoslowakei zuerst gar nicht aussiedeln wollte und erst im Laufe der Zeit
sowie als Reaktion auf den anwachsenden NS-Terror im Protektorat seine Pläne geändert habe. Nichtsdestoweniger weigert sich die tschechische Öffentlichkeit nach wie
vor, die eigene Verantwortung für Flucht und Vertreibung einzugestehen. Die Feststellungen in der vorliegenden qualitativen Feldstudie stimmen also im Großen und Ganzen mit den Ergebnissen der repräsentativen Meinungsumfragen überein, denen zufolge mehr als drei Viertel der Bürger in den Grenzregionen die Aufhebung der Dekrete
zurückweisen und sich hinter die ablehnende Politik der tschechischen Regierung in
der sog. Sudetenfrage stellten.419
419 Lukáš Novotný (Fn. 22), S. 170ff.
182
Die Forderungen der sudetendeutschen Organisationen, etwa den direkten Dialog
mit der Prager Regierung zu eröffnen oder die Präsidialdekrete zu annullieren, bedeuten für 93 Prozent der befragten Tschechen in den Grenzgebieten ein Hindernis bei den
Bemühungen um den deutsch-tschechischen Ausgleich. Die Interviewpartner zeigen
außerdem mehrheitlich keine besondere Bereitschaft, über dieses Thema zu sprechen.
Die meisten wollen in den entsprechenden Absichten eine „Störung“ der gegenseitigen
Beziehungen sowie der Vergangenheitsdiskurse erkennen. Es ist insgesamt schwer
einzuschätzen, wie groß die Gruppe derjenigen überhaupt wäre, die eine Rückkehr der
Sudetendeutschen und die damit verbundene Besitzrückgabe befürchtet. Klar ist nur,
dass Ängste davor vorwiegend die ältere sowie politisch eher links eingestellte Generation hat.
„F.: Gibt es hier Befürchtungen hinsichtlich der Eigentumsrückgabe? A.: Ja,
bestimmt. Ich denke, diese Angst bleibt irgendwie in den Menschen, das ist einfach so. Andererseits muss man aber sehen, dass die Häuser oder die ganzen
Gemeinden nicht mehr stehen, in die die Deutschen zurückkehren würden. Viele dieser Häuser sind zusammengefallen. Sie waren Industrielle, aber viele
Fabriken sind heute geschlossen. Es ist kein einziger Betrieb bei uns offen geblieben. Was würden sie denn hier machen? Außerdem, wenn jemand tatsächlich kommen will, kann er es doch machen, wenn wir jetzt in der Europäischen
Union sind. Sie können kommen und hier eine Fabrik bauen. Ich weiß aber,
dass auch in den bayerischen Grenzgebieten viele Menschen entlassen wurden
und viele Fabriken schließen mussten. So wie bei uns gehen auch in Deutschland Menschen eher aus den Grenzgebieten weg.“ (68,m)
„Die Befürchtungen sind einfach weiterhin hier. Sie veranstalten doch immer
wieder ihre Zusammenkünfte, zu denen auch Stoiber kommt, und sie wollen alles zurück. Ihr Selbstbestimmungsrecht sorgt bei uns für Unruhe. Wobei es auf
die Menschen ankommt. Die Dreißigjährigen und Jüngeren machen sich damit
keinen Kopf. Die Älteren aber haben eine ernste Angst. Wundern Sie sich nicht,
wir sind zehn Millionen, bei ihnen sind es 82.” (66,m)
Eine interessante Bewertung der aktuellen Probleme zwischen Sudetendeutschen und
Tschechen bietet eine Befragte deutscher Nationalität aus der Region Aš. Für sie fehlen in dieser Auseinandersetzung einfach vernünftige und „realistisch denkende“ Menschen, die das Gemeinsame hervorheben würden. Stattdessen werde beim Dialog viel
zu viel gehetzt, und zwar in Deutschland sowie in Tschechien von Extrempositionen
aus.
F.:„Und was halten Sie von der Zielsetzung und den gestellten Forderungen
der Sudetendeutschen Landsmannschaft? A.: Das ist natürlich alles Blödsinn.
Sie sind die Ewiggestrigen und wissen gar nicht, wie die Realität ist und wie
sich schon viele ihrer Landsleute davon distanziert haben. Die selben Extrempositionen vertritt bei uns der Klub des tschechischen Grenzlands. Das sind
Menschen, die Scheuklappen haben und im Grunde genommen geht es ihnen
nur darum, die anderen abzuschrecken. Sie ? nden nur das Schlechte an den
183
Anderen und bauen darauf ihre Politik. Diese zwei Gruppen können sich nie
versöhnen, denn ihnen geht es nur um die unermüdliche Wiederbelebung von
Kon? ikten.
[...]
Ich selbst bezeichne mich nicht als Sudetendeutsche. Wir hatten hier einmal
Herrn Posselt zu Besuch. Wir haben für ihn echte böhmische Kuchen vorbereitet. Und er hat sich bei uns ganz normal benommen. Ich denke, wie man in den
Wald hineinruft, so schallt es heraus. Das ist Wasser auf die Mühlen der Politik. Aber da kann man sich nicht viel wundern. Von den dreiundhalb Millionen
der Sudetendeutschen sind die meisten nach Bayern gegangen. Und sie bilden
dort eine wichtige Gruppe. Deshalb verbreiteten sie dort verschiedene negative Sachen über die Tschechen. Aber in der Wirklichkeit bin ich fest davon überzeugt, dass die Menschen es nicht so böse meinen, wie es in unserer oder in
ihrer Presse dargestellt wird.” (65,w)
Diejenigen Befragten in Tschechien, die als erste bereits im Jahr 1945 in die Grenzgebiete gekommen sind, erlebten noch, wie die Situation vor der Vertreibung ausgesehen
hat. Unter den Deutschen herrschte eine besondere Spannung, doch das Zusammenleben mit ihnen sei für die meisten tschechischen Zeitzeugen in dem Untersuchungsgebiet ruhig gewesen. Diese tschechischen Neusiedler hätten freilich gemerkt, dass die
Auszusiedelnden in der Entrechtung und der Wegnahme des Eigentums ein großes
Unrecht gesehen haben. „Doch sie wussten, dass man dagegen nichts machen kann,
dass es die Entscheidung der Siegermächte ist. Einige haben meinen Eltern gesagt,
dass sie Beneš verstehen, denn Deutschland hat doch den Krieg verloren. Da habe ich
es ihnen aber nicht geglaubt“ (68,m). Beide Seiten, die im Grenzgebiet Einwandernden sowie die alteingesessenen Sudetendeutschen aus den Regionen Cheb und Tachov,
haben sich damals redlich um die Vermeidung von Kon? ikten bemüht. Die Befragten
erinnern sich außerdem, dass in jeder Stadt nur wenige deutsche Familien von der
Aussiedlung verschont blieben. Es handelte sich meist um wirtschaftlich unabkömmliche Personen oder Partner in deutsch-tschechischen Ehen.420
Ein großer Teil der Deutschen war schon ab Mai 1945 zu manuellen Tätigkeiten
zwangsverp? ichtet worden. Dies betraf weniger die wichtigen in der Industrie Arbeitenden, die in der Regel ihre Stellen behalten durften, sondern vielmehr Beamte,
Selbstständige und die Intelligenzschicht. Die Praxis der Zwangsarbeit erhielt eine legale Grundlage mit dem Präsidialdekret Nummer 71/1945 vom 19. September 1945
über die „Arbeitsp? icht von Personen, die die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft
verloren haben“. Die meisten deutschen Verp? ichteten hat man dazu im böhmischmährischen Landesinneren eingesetzt.
„Ich bin kein Freund der Kollektivschuld. Aber so was war hier einfach, das
muss man ehrlich sagen. Zum Beispiel der Arzt Procházka, er saß unten zwi-
420 Walter Piverka (Fn. 258).
184
schen der Tür, weil ich die Wohnung gleich neben ihn gehabt habe. Zu ihm kamen die Deutschen. Und er hat mit dem Kopf nach unten genickt und sagte:
befähigt, befähigt. Er hat nicht einmal geschaut, ob es Frau oder Mann war.
Alle Befähigten mussten dann zur Zwangsarbeit in das Landesinnere gehen.
Die Bauern gingen zum Beispiel in die Region um Nepomuk. Als die Abschiebung begonnen hat, kamen sie wieder zurück. Inzwischen waren viele ihre
Häuser schon besetzt. Ein Mann hat sich beschwert, dass der neue Besitzer ihm
nichts geben wollte, nicht einmal die Kleidung. Die Stadtverwaltung gab ihm
ein Papier, auf dem stand, er soll die notwendigste Unterbekleidung [svršky –
tschechisch heißt es Oberbekleidung] bekommen. Der Mann kam später weinend zurück und meldete, dass ihm der neue Besitzer alles, was sich oben befand, gegeben hat, Regale, Bilder usw. Sie mussten deshalb mit ihm gehen und
es selber dem Neusiedler erklären. Die Abschiebung war für die Deutschen
sehr schmerzhaft. (83,w)
Die älteren Befragten haben meist noch genaue Kenntnisse über den Verlauf der Vertreibung. Sie wissen zum Beispiel, wo die Sammelstellen der Abzuschiebenden waren,
wo sie sich versammelt haben und woher und wohin die Vertreibungstransporte gingen:
„Die meisten [Menschen, die nicht vertrieben wurden] waren Antifaschisten
oder Experten. Bei uns sind etwa drei Familien zurückgeblieben, weil die Männer in den Glashütten gearbeitet haben und somit unabkömmlich waren. Es
waren anständige Familien, mit den wir nie Problem gehabt haben. Ich habe
sie bei uns noch Ende der vierziger Jahre getroffen, doch dann nicht mehr,
denn sie sind dann von selbst weggegangen. Und diejenigen, die dann noch in
den fünfziger Jahren bei uns geblieben sind, die mussten sich assimilieren. Jedenfalls hatten sie kein leichtes Leben hier.“ (66,m)
Die Befragten sollten außerdem mitteilen, was sie von dem geplanten Projekt eines
Zentrums gegen Vertreibungen halten. Die Bayern hatten darüber offensichtlich keine
oder nur bruchstückhafte Informationen und äußerten sich dazu meist nicht. Wenn jemand etwas wusste, meist handelte es sich um ältere Personen, dann stellten sie die
Gegenfrage, „warum man ausgerechnet für die Vertriebenen ein Zentrum bauen soll.
Wir haben sie doch schließlich aufgenommen und sie haben sich integriert“ (32,w).
Aus den repräsentativen Ermittlungen unter den Heimatvertriebenen (nicht nur unter
den Sudetendeutschen) kann man jedoch erkennen, dass diese „Integration“ doch
ziemlich schwierig war. Ganze zwei Drittel meinten in der Meinungserhebung des Allensbacher Instituts für Demoskopie, durchgeführt im Auftrag des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, dass sie oder ihre Familien damit zunächst
Probleme gehabt hätten.421
Dazu kommt, dass nur wenige für die Entstehung der Erinnerungsstätte in Berlin
sind, „aber nur dann, wenn es nicht viel Geld kosten wird“ (63,m). Zu den Befürwor-
421 Vgl. Thomas Petersen (Fn. 15), S. 104.
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tern gehören vorwiegend die Vertriebenen selbst. In Tschechien wird über das Zentrum
ebenfalls nicht spontan gesprochen. Erst wenn man nachfrägt, ist festzustellen, dass
das Thema insbesondere einen Teil der älteren Generation beunruhigt. Nach der erwähnten Allensbacher Meinungsumfrage haben im Sommer 2002 25 Prozent der
Tschechen (und 38 Prozent der Polen) von diesem Vorhaben gehört. Die meisten davon (47 Prozent) sprachen sich gegen die Errichtung des Zentrums aus.422
Wenn sich die tschechischen Interviewpartner im Grenzraum dazu äußern, dann
verurteilen sie meist das geplante Vorhaben der Bundesregierung. Ähnlich wie in der
repräsentativen Umfrage sind die Kritiker des Zentrums bei allen Alters- und Sozialgruppen zu ? nden, doch die entschiedensten Gegner gehören zu den ältesten und politisch eher linkseingestellten Bewohnern der Grenzländer. In Bayern sowie in Tschechien einigt sich der Großteil der Bevölkerung darauf, dass das Zentrum nur „ein Unrecht zu Gunsten der anderen akzentuieren würde“ (60,m), wie ein tschechischer
Befragter sagt. Das Projekt würde damit eher für eine Spannung in den gegenseitigen
Beziehungen sorgen. Außerdem zeigt sich: Die Akzeptanz eines Zentrums gegen Vertreibungen ist sowohl in Deutschland als auch in der Tschechischen Republik stark
abhängig davon, was eigentlich entstehen soll – ein Museum, bei dem es nur um deutsche Heimatvertriebene geht, oder vielmehr eine Einrichtung für Vertriebene mehrerer
Nationen. Würde sie tatsächlich realisiert werden, dann wünschen die Befragten diesseits und jenseits der Grenze, dass das Ganze keine verletzenden Auswirkungen auf
den jeweiligen Nachbarn hat.
Aus den Aussagen der tschechischen Interviewpartner kann man weiterhin ersehen,
dass die Staatsmacht im Umgang mit den entvölkerten Regionen oft ratlos war. Die
Kommunisten warben zwar in den Medien dafür, dass es „immer ein böhmisches Gebiet war, doch das hat nicht viel geholfen, denn viele glaubten weiterhin, dass die
Deutschen wieder kommen und sich die Gebiete nehmen werden“. (68,m) Einige Regionen ließen die Machthaber gezielt unbesiedelt wie den westlichen Teil des Landkreises Tachov oder den Norden des Ascher Zipfels. Sie machten daraus Militär-
übungsplätze und richteten dort nach dem Ausbruch des Kalten Krieges einen Grenzstreifen ein. Aus den früher ziemlich dicht bewohnten Gegenden verschwand somit
langsam das Leben. Sie wurden zu einer Zone des Schweigens – und des Todes. Die
Befragten sprechen in ihren Erlebnissen vorwiegend über negative Erfahrungen mit
der Neubesiedlung. Als problematisch bezeichnen sie das Zusammenleben zwischen
den tschechischen und jenen Zuwanderern, vor allem denjenigen, die aus dem Osten
Europas kamen (Wolhynientschechen, Rumänientschechen, Ukrainer u.a.). „Viele von
denjenigen, die aus dem Osten gekommen sind, haben die Grausamkeiten der Nazis
an ihren Nächsten erlebt und hatten große Wut auf die Deutschen. Sie rächten sich
deshalb zum Teil an den Tachauer Deutschen, was nicht fair war.“ (62,m)
In den letzten Kriegstagen wurden zudem Tschechen aus Polen ausgewiesen. Viele
von ihnen kamen nach dem Krieg gerade in die Grenzgebiete um Tachov herum.
422 Vgl. Ebd., S. 99.
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Einige Interviewpartner erinnern sich daran. Sie hatten dabei sehr ähnliche Erfahrungen gemacht wie die deutschen Vertriebenen selber.
„Auch sie hielten ihre Abschiebung aus Schlesien für ein großes Unrecht. Sie
mussten dort alles lassen und kamen mit wenigen Sachen und mit Decken in
Zugwaggons. Sie wussten bereits, wie es ist, ausgesiedelt zu werden. Deshalb
warfen sie denjenigen Deutschen, die noch in Tachov geblieben sind oder auf
die Vertreibung gewartet haben, nichts vor. Für sie war es ein schreckliches
Erlebnis.“ (62,m)
Die tschechoslowakischen Randgebiete wurden mit der Ankunft dieser Menschen also
ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen und Subkulturen, die nicht aneinander gewöhnt waren. Das Zusammenwachsen verzögerte sich um viele Jahre. Es gelang nur
langsam, das gegenseitige Misstrauen und die Aversion abzubauen. Das kommunistische Regime versuchte zwar, die Gruppen miteinander zu verbinden, indem es einen
gemeinsamen Feind benannte, nämlich Westdeutschland. Doch die Informationen
über den deutschen Wirtschaftsboom sowie über die dortige P? ege demokratischer
Werte behinderten solche Feindkonstruktion entscheidend. Was dagegen geblieben ist
und worüber die Befragten oft sprechen, waren die große Arbeitslosigkeit in den
Grenzgebieten, die schlechten Lebensbedingungen und die hohe Migration:
„Die Menschen kamen aus allen möglichen Teilen der Republik, aus der Slowakei, der Ukraine oder aus Mähren. Es waren Menschen aus armen Regionen. Wer ist hierher gekommen? Diejenigen, die etwas besetzt haben? Die
nicht. Nur ein paar waren Goldgräber, die gekommen sind, gleich die besten
Villen genommen haben und die Funktionen in der Verwaltung bekommen haben. Aber der Rest waren vor allem arme Menschen. Zum Beispiel Landwirte
aus Rumänien oder aus Jugoslawien. Hier war es eine große Mischung. Die
Menschen wurden herausgerissen aus den eigenen Wurzeln oder geschickt in
ein Fremdland. Es war zwar eine multikulturelle Stimmung hier, aber ohne
Wurzel. Das hatte auch die ganzen Probleme zur Folge. Wenn Sie nach Mähren
oder nach Bayern kommen, dann sehen sie, dass jedes Stück jemandem gehört
und die Menschen kümmern sich auch darum. Das gab es bei uns nicht.“
(65,w)
Im Zusammenhang mit der Migration standen oft die Kollektivierung ihres nach den
Deutschen erworbenen Eigentums, aber auch bestehende ethnische und soziale Kon-
? ikte. Die Befragten nennen mehrere Beispiele dafür, dass es bereits der ersten Siedlerwelle gelang, Dörfer neu zu beziehen. Doch ist im Laufe der folgenden zehn bis
fünfzehn Jahre die Zahl der Einwohner wieder deutlich gesunken, oft auf etwa 30 Prozent. Nach der Kollektivierung der Landwirtschaft haben die Bürger erkannt – so die
Gesprächspartner – dass „die Ehrlichkeit hier keine große Rolle spielt“. (62,m) Sie
weisen darauf hin, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl sowie der Prozess der Verbundenheit mit der neuen Region nach der of? ziell angeordneten Verstaatlichung
deutlich nachließen.
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Ein Beispiel aus Dolní Žandov wurde dazu von einem Interviewten genannt, der in
diese Gemeinde (Region Marienbad) gleich mit der ersten Welle der Neubesiedlung
eingetroffen war. Typischer Bürger seines Orts sei ihm zufolge jemand, der nach dem
Krieg „aus allen möglichen Teilen der Republik“ gekommen ist und es „geschafft hat,
hier zu bleiben“ (68,m). Wie er sagt, sei vielen nicht gelungen, Wurzeln zu schlagen.
Für ihn hätten es jene leichter gehabt, die als Kinder gekommen sind und sich von
Kindheit auf mit der Region identi? zierten, wie etwa er selbst. „Worauf ich stolz bin?
Dass wir es hier überhaupt ausgehalten haben und dass wir nicht wie viele andere
weggegangen sind“, sagt er. Wäre es in den sechziger Jahren nicht zum Bau neuer
Wohnungen für die Arbeiter der Landwirtschaftsgenossenschaften gekommen, hätten
später noch mehr die Grenzgebiete verlassen. Die Lebensbedingungen schränkten zudem auch die Existenz des Grenzstreifens ein sowie der Sitz einer Grenzschutz-Einheit. Seine Gemeinde hatte vor dem Krieg 15.000 Einwohner, jetzt leben dort knapp
1.000 Menschen:
„Wir haben hier jetzt fast keine Häuser nach den Deutschen. Die meisten waren im schlechten Zustand und mussten abgerissen werden. Besonders in den
sechziger Jahren wurden viele abgetragen. F.: Wie stabil war denn die neue
Bevölkerung? A.: Gleich nach dem Krieg haben die Tschechen etwa 80 Prozent
der Häuser bewohnt. Doch viele sind hier nicht geblieben. Gleich, als sie die
Möglichkeit bekommen haben, anderswohin zu gehen, sind sie gegangen. Sie
haben versucht, hier zu leben, aber nach zwei Jahren hat es ihnen gereicht.
Hier hat man ein hartes Leben. Auch das Wetter ist anders als im böhmischen
Becken. Dort wird Obst viel früher reif als bei uns.“ (68,m)
Für eine große Tragödie halten die älteren Befragten sowohl die Spitzenfunktionäre
als auch alle anderen, die auf die Idee kamen, nicht besiedelte Häuser zu beseitigen
und das Material für den Bau neuer Häuser zu verwenden. Das veränderte nicht nur
die Struktur dieser Städte und Gemeinden, sondern auch die soziale Struktur dieser
Orte:
„Dadurch verschwanden viele verlassene Ortschaften. Viele, die die Möglichkeit gehabt haben, sind zum Direktor ihrer Landwirtschaftsgenossenschaften
gekommen und baten ihn um einige Häuser, um aus dem Material Häuschen zu
bauen. Damit sind ganze Siedlungen verschwunden. Die Landwirtschaftsgenossenschaften waren letztendlich auch froh, dass sie sich dieser Häuser entledigt haben. In den alten Gebäuden, in die auch während des Kriegs nicht viel
investiert wurde, hatte man kein leichtes Leben. Die Älteren haben es noch irgendwie geschafft und sie sanierten die Häuser. Die Jüngeren aber verschwanden, sobald sie nur konnten, in die größeren Städte. Hauptsache, weg aus den
Grenzgebieten.“ (62,m)
Die Interviewpartner sprechen auch von Gemeinden, in denen auf Grund der geringen
Bevölkerungszahl Schulen oder Geschäfte aufgelöst wurden. Als ihre „Rettung“ sehen
sie die Errichtung von Wochenendhäusern an, ein Phänomen der sechziger Jahre, weil
vor allem die Tschechen aus den größeren Städten in die Dörfer ge? ohen sind, um der
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politischen Engagiertheit auszuweichen. Viele kauften alte Häuser in den ehemaligen
sudetendeutschen Gebieten und sanierten damit die verfallenen Bauten. Denn in der
Zeit des Kommunismus konnten die Menschen eigentlich so richtig bauen, wie sie
sich das vorstellten. In den Städten wurden viele Plattenbauviertel geschaffen. Die
einzige Möglichkeit, wie sie ihre eigenen Vorstellungen vom Wohnen etwas realisieren konnten, war auf dem Lande gegeben. Die Chata ermöglichte, ähnlich wie die
Datsche in der DDR oder die Datscha in Russland, die Ausübung individueller Tätigkeiten im kollektivierten Staat. Sie befriedigte ein wenig die Sehnsucht nach Privateigentum und Individualismus. Zudem stand sie etwas weniger unter Kontrolle und
Aufsicht der Staatsorgane.
„Als in den sechziger Jahren das mit den Wochenendhäusern angefangen hat,
begannen sich die Gebiete doch etwas zu füllen, auch wenn nur an den Wochenenden. Und endlich kümmerte sich jemand um die Häuser. Meistens aber
war es schon zu spät, sie wurden zu gefährlichen Ruinen und mussten abgetragen werden. Viele Gemeinden wurden dem Erdboden gleich gemacht. Das sieht
man zum Beispiel westlich von Lesná. Manchmal sieht man dort zwar noch die
Reste der Grundmauer, aber sonst ist da nichts mehr geblieben.“ (62,m)
Die Befragten sind sich dessen bewusst, dass in den Nachkriegsjahren mit der Liquidierung der Ortschaften auch gewaltige Veränderungen der Kulturlandschaft vor sich
gingen. Sie haben deswegen in der Regel Verständnis dafür, wenn die Vertriebenen an
der Stelle nicht mehr existierender Dörfer Denkmäler errichten und Erinnerungen an
ihre Heimat p? egen. Sie wissen, dass die Sudetendeutschen regelmäßig hierher zurückkehren und sogar Festakte oder Wallfahrten veranstalten. Es ist aber auch offensichtlich, dass die Mehrheit der tschechischen Einheimischen solchen Aktivitäten mit
ziemlicher Gleichgültigkeit begegnet. Die Tätigkeit der Landsmannschaft im kulturellen Bereich wird dabei durchaus bemerkt. Sie steht in einem direkten Gegensatz zu
ihren sonstigen politischen Aktivitäten, die wiederum abgelehnt werden.
11.4 Das Jahr 1968
Während auf der tschechischen Seite den Reformversuchen und den Ereignissen des
Prager Frühlings keine wichtige Rolle für die Gestaltung der deutsch-tschechischen
Beziehungen beigemessen wird, bedeuten die Ereignisse, die am späten Abend des 20.
Augusts in der beginnenden Besetzung der Tschechoslowakei durch Truppen des Warschauer Paktes gipfelten, für die bayerischen Gesprächspartner einen bedeutenden
historischen Meilenstein. Fast jeder Befragte, der sich daran erinnern kann, verbindet
mit dem Jahr 1968 – neben der 68er-Bewegung in der Bundesrepublik – den Panzereinmarsch in die Tschechoslowakei. Mehr präsent ist das Thema in Interviews bei
Personen mit höherer Schulbildung. Der Prager Frühling gehört in Bayern zu den am
meisten bekannten historischen Ereignissen in der Tschechoslowakei:
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In den deutsch-tschechischen Beziehungen spielt die Geschichte eine wichtige Rolle. Sie wird zum einen als Argument für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft benutzt, zum anderen aber auch als Waffe, um die andere Seite möglichst negativ darzustellen.
Die Arbeit untersucht an Hand eines qualitativen Datenmaterials die Funktion der Vergangenheitsdiskurse in der deutsch-tschechischen Nachbarschaft.