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11. Bewältigung der historischen Ereignisse der deutschtschechischen Beziehungen
11.1 Von 1918 bis zum Münchner Abkommen
Als historische Prägestempel der deutsch-tschechischen Beziehungen, das heißt als
Stationen, auf die sich die Befragten in Bayern und Tschechien in den Interviews beziehen, gelten die Zerschlagung der Monarchie Österreich-Ungarn, die Gründung der
Tschechoslowakei, die sog. Sudetenkrise und das Münchner Abkommen, der Zweite
Weltkrieg, die Vertreibung der Sudetendeutschen, der Kalte Krieg und das unruhige
Jahr 1968, die Wende von 1989 mit der Grenzöffnung und der EU-Beitritt Tschechiens. Diese Abschnitte gehören zu den wichtigsten historischen Meilensteinen der neuesten Entwicklung der Nachbarschaft zwischen Deutschen und Tschechen. Viel seltener werden Momente der „kleinen Geschichte“ genannt. Das hat damit zu tun, dass die
regionale Seite des Nachbarlandes weitgehend unbekannt ist. Bei der Behandlung der
historischen Ereignisse bleiben wir bei der „großen Geschichte“. Wenn es als notwendig erscheint, wird auch die „kleine“ Historie herangezogen.
Das Jahr 1918 und die Gründung der Tschechoslowakei stellen dabei einen historischen Bruch dar, insbesondere für die Tschechen und die Sudetendeutschen. Ihre Interpretationen sind dementsprechend ganz unterschiedlich. Eine deutlich größere Bedeutung hat das Datum für die tschechischen Befragten. Bei den Bayern erscheint es
in den Interviews nicht, was verständlich ist, denn auf ihr Leben übte die Entstehung
der Tschechoslowakei keinen besonderen Ein? uss aus, „allein deshalb, weil beiderseits der Grenze Deutsche gelebt haben“ (40,w), wie eine Interviewpartnerin sagt.
Anders ist es bei den Sudetendeutschen, die mit der Gründung des neuen Staates eine
Minderheit wurden. Über diese Entwicklung sprechen im Allgemeinen nur wenige.
Meistens stellen sie die Frage, wie es damals überhaupt möglich sein konnte, dass „die
Tschechoslowakei entstanden ist, wenn dort mehr Deutsche als Slowaken gelebt haben“ (58,m). Man kann auf Grund der sudetendeutschen Historiographie sowie der
Biographien von Sudetendeutschen400 vermuten, dass hier für ihre Vorfahren tatsächlich ein bedeutender Bruch entstand, der ihre Lebenssituation völlig neu de? niert hat.
Jedenfalls überwiegt bei einem Großteil das Stereotyp von den Tschechen, die den
größten Anteil an der Zerschlagung der Donaumonarchie gehabt und ihnen den neuen
Staat aufgezwungen hätten.
Die tschechischen Befragten betrachten das Jahr 1918 jedenfalls als einen sehr bedeutenden historischen Meilenstein. Die böhmischen Länder erhielten damals ihre
Selbstständigkeit. Deshalb messen sie dem Schritt in die Unabhängigkeit eine wich-
400 Vgl. Mat?j Spurný (ed.): Sudetské osudy/Sudetenschicksale. Prag 2006.
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tige Funktion bei. „Endlich haben auch wir einen eigenen Staat erhalten und mussten
nicht immer Teil von Österreich sein.“ (66,m) Das entspricht genau dem anderen Stereotyp, wonach die Tschechen 300 Jahre unter dem Haus Habsburg und somit unter
den Deutschen hätten leiden müssen.401 Gleichzeitig fügen manche hinzu, dass die
Deutschen damals in der Tschechoslowakei durchaus ihre Rechte hatten, über eigene
Parteien und Schulen verfügten usw. (vgl. Kapitel 3.4). Die Entstehung dieses Staates
im Jahr 1918 sehen in einer repräsentativen Meinungsumfrage von 2001 ganze 90
Prozent der Tschechen als eine richtige Sache. In derselben Befragung wird die „Erste Tschechoslowakische Republik“ bei 16 Prozent zum wichtigsten Geschichtsabschnitt der tschechischen Geschichte. Somit rangiert sie insgesamt an der zweiten
Stelle, denn 37 Prozent halten die Herrschaft Karl IV. für noch wichtiger. Auch die
wichtigste Persönlichkeit der ganzen tschechischen Geschichte gehört danach in die
Erste Tschechoslowakische Republik. Für mehr als ein Drittel der Befragten ist dies
der erste tschechoslowakische Staatspräsident Tomáš Garrigue Masaryk.402
Bei der Bewältigung der zwanzigjährigen Existenz der Tschechoslowakei betonen
die bayerischen Befragten vor allem die bis zu Hitlers Machtergreifung zu verzeichnenden regen Wirtschaftsbeziehungen sowie kulturelle und andere Ver? echtungen.
Einige Eltern und Großeltern der heutigen Generation aus dem nördlichen Teil des
Grenzlandes sind zu dieser Zeit beispielweise nach Aš in die Textilfabriken arbeiten
gegangen. Andere ließen sich dort taufen oder sie zogen nach Cheb und betrieben dort
ihre Geschäfte. In ihren Augen war das gesamte Untersuchungsgebiet ein Vermittlungsraum, in dem man sich gegenseitig positiv beein? usst hat. Das Sudetenproblem
wird in diesem Zusammenhang kaum thematisiert. „Ich weiß nur, dass die Tschechen
in ihren Grenzgebieten Deutsche hatten, das ist ja bekannt, aber ich kann nicht verstehen, warum diese Deutschen zu uns wollten. Meine Eltern haben mir erzählt, dass
sie dort ein ruhiges Leben gehabt haben“ (57,m).
Die tschechischen Befragten der östlichen Seite sehen die Zwischenkriegszeit in
der Tschechoslowakei aus einem anderen Blickwinkel. Sie halten das deutsch-tschechische Verhältnis für schwierig und unruhig. Das heißt, dass sie eher auf die Unterschiede und Streitpunkte zwischen Deutschen und Tschechen hinweisen als auf die
Gemeinsamkeiten. Sie erkennen in den Grenzgebieten keinen Vermittlungsraum. Die
grenzüberschreitenden Kontakte mit den Deutschen in der Weimarer Republik oder im
Dritten Reich stellen für sie ein Problem dar, das die Integrität des eigenen Landes
geschwächt hat. Als wichtiges Datum bezeichnen sie die Wirtschaftskrise von 1933,
401 Vgl. Miroslav Kunštát: Fremd- und Feindbilder der Deutschen in der tschechischen innenpolitischen Instrumentalisierung, in: Dieter Bingen/Peter Oliver Loew/Kazimierz Wóycicki (Hrsg.):
Die Destruktion des Dialogs. Zur innenpolitischen Instrumentalisierung negativer Fremdbilder
und Feindbilder. Wiesbaden 2007, S. 114-130.
402 Vgl. Lukáš Novotný: Národní identita, národní hrdost a TGM [Nationale Identität, Nationalstolz
und TGM], in: Josef Dolista u.a. (Hrsg.): Tomáš Garrigue Masaryk. Dílo a odkaz pro naši dobu
[Tomáš Garrigue Masaryk. Werk und Vermächtnis für unsere Zeit]. ?eské Bud?jovice 2006, S
136–142, hier 139, 141.
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die sich in den tschechoslowakischen Grenzgebieten mit ihrer hohen Konzentrierung
an Industrie erst später ausgewirkt hat. Jedenfalls später als in Deutschland. Authentische Erinnerungen an diese Zeit haben insbesondere Bürger deutscher Nationalität wie
etwa ein 85jähriger Mann aus der Region Tachov:
„Schauen Sie, so wie ich es sehe, da begannen hier an der Grenze die Probleme mit der Wirtschaftskrise. Es wurden hier viele Fabriken geschlossen. Und
in der Region herrschte wirklich Not. Ich erinnere mich, wie wir noch zur Schule nach Sokolov gegangen sind und wie es die Czech-Karten gab. Das waren
spezielle Karten vom Minister Czech im Wert von zehn Kronen für eine Woche.
Dafür konnte man Lebensmittel kaufen. Und bei uns meldete man immer am
Freitag, dass es keine mehr gibt. Na ja, damals war es hier schwer. Na und im
Jahre 1933 oder 1934 begann Hitler plötzlich mit dem Bau der Autobahnen.
Und dann haben wir einen großen Fehler gemacht, denn wir ließen unsere Leute über die Grenze gehen. Dort haben sie Mark bekommen und glauben Sie mir,
sie haben dort damals ziemlich gutes Geld verdient. Bei uns bekam man zehn
Kronen pro Woche. An den Werktagen waren alle im Reich und am Samstagmittag kamen sie zurück. Und wer ging? Vor allem die Ärmeren. Die Intelligenz
hat sich dann davon doch etwas distanziert. Ich weiß noch heute, wie sie immer
nach Hause gekommen sind. Der eine kam mit einem Motorrad, der andere mit
vielen Lebensmitteln. Und dazu die ganze antitschechische Propaganda. Darauf haben die Menschen hier gehört. Aber das war alles wegen der Wirtschaftskrise, die aus Amerika gekommen ist. (85,m)
Der Befragte erinnert sich außerdem daran, wie er gleichzeitig eine deutsche und eine
tschechische Schule besucht hat oder wie sein Vater, ein Industrieller, auch nach der
Besetzung der Grenzgebiete seine Produkte trotzdem nach Prag liefern konnte. Er besaß den Worten dieses Zeitzeugen zufolge eine Papierfabrik und war Lieferant für
viele tschechoslowakischen Betriebe. Es kam also gar nicht darauf an, „dass Hitler
Beneš nicht mochte, unsere Geschäfte sind weiter gelaufen“. (85,m) Nach dem Krieg
konnte er nicht nach Deutschland übersiedeln, denn er war ein unabkömmlicher Fachmann. Sein Leben in der Tschechoslowakei der unmittelbaren Nachkriegszeit unterschied sich nicht viel von dem der anderen Deutschen. Seine Papierfabrik wurde Anfang der 1950er Jahre freilich geschlossen. Noch vorher hat man sie im Zuge der Kollektivierung verstaatlicht. Bis 1953 lebte er dann ohne tschechoslowakische
Staatsbürgerschaft. Er erhielt sie erst per Gesetz in diesem Jahr. Paradox ist, dass ihn
kurz danach die kommunistischen Funktionäre zum „freiwilligen“ Aussiedeln zwingen wollten. Sein Vater lehnte dies jedoch entschieden ab mit den Worten, Deutschland liege noch in Trümmern, dort würde ihn kein ruhiges Leben erwarten. Er selber
erinnert sich auch noch daran, wie schnell er Tschechisch lernen musste, um mit anderen Mitbürgern kommunizieren zu können.
„Bei uns war eine Schule und dann die nächste war erst in Marienbad. Na und
ich habe am Vormittag deutsch und am Nachmittag tschechisch gelernt. Alle
anderen haben am Nachmittag zum Beispiel Fußball gespielt und ich musste
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Tschechisch lernen. Mein Vater ließ mich in der Schule und ich musste lernen.
Ich habe damals gesagt, dass ich einen schlechten Vater habe, wenn alle anderen im Wald spielen können.“ (85,m)
Außer der Wirtschaftskrise wird von den Befragten der östlichen Seite der Grenze
sonst kein weiteres historisches Ereignis der Ersten Tschechoslowakischen Republik
genannt. Sie wissen beispielsweise nichts über die Demonstrationen der Sudetendeutschen gegen ihre Eingliederung (4. März 1919) oder die politischen Kon? ikte, kulturellen Annäherungen und schulischen Aktivitäten. Auch wenn die Zwischenkriegszeit
mittlerweile zu den gut untersuchten Zeitepochen der tschechoslowakischen Geschichte gehört, weiß die Bevölkerung vor Ort darüber nur wenig. Die meisten wollen
dann auch nichts erfahren, denn sie betrachten es nicht als „eigene Geschichte“. Diese
Einstellung schwächt sich jedoch schrittweise ab. Das zu beobachtende Desinteresse
an dem gemeinsamen Zusammenleben – sei es im Positiven oder im Negativen – ist
am tschechischen wie auch auf der deutschen Seite eines der großen Hindernisse beim
Verständnis der differenzierten Beziehung zwischen Deutschen und Tschechen in der
Ersten tschechoslowakischen Republik. Es hängt mit einer der zugrundeliegenden
These dieser Arbeit zusammen: Dass beide Nationen heute nur wenig auf positive Beispiele des gemeinsamen Miteinanders kaum bauen können. Sie suchen auch nach solchen nicht und beziehen sich lieber auf negative Momente der „großen Geschichte“.
Davon gab es sicher genug, doch geschahen auch positive Ereignisse, die jedoch heute im Schatten der tragischen Entwicklung bleiben.
Die einzelnen Stationen des für den weiteren Verlauf der deutsch-tschechischen
Beziehungen entscheidenden Katastrophenjahres 1938 sind bei den Befragten beider
Länder dagegen durchaus gut bekannt. Obwohl nicht alle Bayern damit vertraut sind,
dass es das Jahr der Unterzeichnung des Münchner Abkommens war, haben die allermeisten eine Grundkenntnis bezüglich der Besetzung der Grenzgebiete durch Hitler.
Auch hier gilt, dass die älteren Gesprächspartner besser informiert sind als die jüngeren. Das Dritte Reich habe für sehr viele Interviewpartner gegen die Souveränität des
Nachbarlandes verstoßen und den ersten Schritt zur vollen Zerschlagung der Tschechoslowakei getan, heißt es. Viele bayerische Befragte sind sich bewusst, dass München der Grund für das Fortbestehen der Ressentiments gegenüber den Deutschen sei.
„Das hatte auch zur Folge, dass die Tschechen die Deutschen nicht besonders mögen“. (64,m) Die Bayern – einschließlich der meisten befragten Sudetendeutschen stehen dem Münchner Abkommen kritisch gegenüber und halten es für einen „fatalen
Fehler“ (64,m), der das Verhältnis zu den Tschechen deutlich verschlechtert hat. Für
einige Befragte ist München „eigentlich eine Kriegserklärung an die Tschechoslowakei“ (64,m) gewesen.
„Der Krieg ging erst los, als wir die Tschechei 1938 annektiert haben durch
die Wiedereingliederung der Sudetendeutschen. Ja ein schlimmes Ereignis für
jeden eigentlich.“ (27,m)
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Bemerkenswert sind hier die Antworten mancher Vertriebener. Auf Grund ihrer Aussagen sowie beim Studium der Sekundärliteratur kann man feststellen, dass Sudetendeutsche noch heute meinen, „das Münchner Abkommen sei die Verwirklichung ihres
Selbstbestimmungsrechtes gewesen“403. Ihnen fällt es unendlich schwer, wenigstens
für einen Moment vom Leid der eigenen Vertreibung abzusehen und ihre Mittäterschaft in den NS-Jahren einzugestehen. Diese Schicht stellt in meiner Erhebung allerdings nur eine kleine Minderheit dar, denn die meisten sind sich dessen bewusst, dass
München der „faktische Beginn der NS-Okkupation der Tschechoslowakei war“.
(68,m)
Das historische Trauma der Zerschlagung der Tschechoslowakei und die Gefahr
einer unmittelbaren Liquidierung der ganzen Nation hinterließen in der tschechischen
Gesellschaft tiefe Spuren. Untersuchungen zufolge können bis zu drei Viertel der
Grenzlandbevölkerung nicht vergessen, was Deutschland während der sog. Sudetenkrise und nach dem Münchener Abkommen den Tschechen angetan hat.404 Dieser
„Münchner Komplex“ spiegelt sich ebenfalls in den Interviews der Befragten eindeutig wider. Sie halten ihn für einen wichtigen Bestandteil in der tschechischen Geschichte. Die damaligen Vorgänge werden in nahezu allen Interviews erwähnt. Unterschiede tauchen in der Rolle der Sudetendeutschen bei den damaligen Ereignissen auf.
Die Mehrheit teilt die Ansicht, dass es zur Besetzung durch Hitler nicht gekommen
wäre, wenn sich die Sudetendeutschen nicht politisch radikalisiert hätten. Nur ein kleiner Teil hält die Rolle der Sudetendeutschen an der zu München führenden Entwicklung für unbedeutend.
Andererseits kann man aber auch sehen, dass die während des kommunistischen
Regimes verbreitete propagandistische Drohung mit einem „zweiten“ München, womit man die alten Feindbilder stützen wollte, nicht überlebt hat. Denn das seinerzeitige Geschehen wird heute mehrheitlich und entgegen der repräsentativen Befragungen
für ein „Ereignis wie jedes Andere“ (32,w) gehalten. Offensichtlich verbinden unsere
Gesprächspartner damit – im Gegensatz zu den Ergebnissen der öffentlichen Meinung
– kein nationales Trauma mehr. Und es beein? usst außerdem nur begrenzt das Bild der
Deutschen, eher bei denjenigen, die diese Zeit noch erlebt haben. Diese teilweise unterschiedlichen Feststellungen können aber auch mit unserer Forschungsmethode zusammenhängen, denn bei direktem Nachfragen sind Präzisierungen möglich. Bei meiner Erhebung war aber stets klar, dass München im kommunikativen Gedächtnis der
meisten Tschechen vertreten ist und ein Hindernis bei der Wahrnehmung darstellt.
Zum Teil wird München in den Vergangenheitsdiskursen sogar als „Waffe“ benutzt.
Man instrumentalisiert es dann, wenn nämlich von sudetendeutscher Seite Forderungen auf Entschädigung oder Eigentumsrückgabe auftauchen. Dennoch bedienen sich
dieser gegensätzlichen Einstellung immer häu? ger nur noch die Extremisten auf beiden Seiten der Grenze.
403 Peter Becher: Deutsch-tschechische Wahrnehmungen seit der „Sanften Revolution“, in: HDO
Journal 4 (2006), S. 4-9, hier 7.
404 Lukáš Novotný (Fn. 22), S. 170.
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Für einen gewissen Teil der tschechischen Bevölkerung stellt München jedoch weiterhin ein Ereignis dar, das die Betrachtung der Deutschen und vor allem der Sudetendeutschen negativ beein? usst. Diesen – ebenfalls meist älteren und politisch fast ausschließlich linksorientierten - Befragten zufolge waren sie die Hauptschuldigen. Deshalb seien ihre Vertreibung und Zwangsaussiedlung eine richtige Entscheidung
gewesen, „weil sonst könnte es wieder zu einem neuen München kommen“ (66,m). Es
kann vermutet werden, dass sich diese Gruppe mit der Zeit verkleinern wird.
11.2 Protektorat und der Zweite Weltkrieg
Die Erinnerungen der Deutschen und Tschechen an die Jahre der NS-Zeit sowie der
Vertreibung sind so leidvoll geprägt und oft gegensätzlich akzentuiert, dass sie bei den
Betroffenen zum großen Teil bis heute lebendig geblieben sind und oft nur ansatzweise verarbeitet werden. Selbst die erste Nachkriegsgeneration von Deutschen und
Tschechen ist durch die erzählten Erinnerungen in ihren Familien beein? usst. In Bayern wird das eigentliche Protektorat Böhmen und Mähren kaum spontan genannt.
Wenn speziell danach gefragt wird, so stellt man fest, dass die jüngere Generation bis
40 Jahre oft gar nicht weiß, was das eigentlich war. Sie weiß aber, dass zu dieser Zeit
„Deutschland einen Krieg gegen die Tschechoslowakei geführt hat und dabei viel Leid
den Tschechen angetan hat“ (35,m) und dass dabei „bestimmt viele Menschen umgekommen sind in dieser Zeit.“ (47,w)
Die bayerischen Interviewpartner beschäftigen sich freilich eher mit dem Nationalsozialismus. Er wird als „dunkle Zeit mit viel Verdrängung, Heimlichkeiten und Angst
(40,w) bezeichnet. „Wo viele sagen, dass wir das nicht gewusst hätten. Meine Mutter
hat mir immer erzählt, dass ihr Vater meine Großmutter immer zu Recht gewiesen hat,
sie solle bloß den Mund halten, weil sie sie sonst abholen.“ (40,w) Die Befragten bringen die Hitlerzeit oft mit dem Nationalstolz in einen Zusammenhang. Eine 40-jährige
Erzieherin beispielsweise distanziert sich davon:
„Ich meine, ich kann zwar verstehen, wenn andere Menschen aus anderen Nationen Nationalstolz haben, aber ich weiß gar nicht, was das ist. Ich weiß gar
nicht, auf was ich stolz sein soll. Ich ? nde es besser, wenn die Menschen in
Frieden auskommen. (40,w)
[...]
„Wenn ich an meine Tochter denke. Ich habe immer gesagt: ich bin stolz auf
mein Land, oder habe es nie so empfunden, ganz im Gegenteil. Ich habe mich
immer geschämt, eine Deutsche zu sein. Aber meine Tochter ärgert das. Sie
sagt, ich will auch stolz sein können auf mein Land, sie ? ndet das blöd, wenn
wir jetzt die Gelackmeierten sind, bloß weil Hitler diesen Blödsinn gemacht
hat, und jetzt alle auf uns herabsehen. Ich denke, die wollen das nicht mehr.
Das hat sie sehr getroffen.“ (40,w)
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In den deutsch-tschechischen Beziehungen spielt die Geschichte eine wichtige Rolle. Sie wird zum einen als Argument für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft benutzt, zum anderen aber auch als Waffe, um die andere Seite möglichst negativ darzustellen.
Die Arbeit untersucht an Hand eines qualitativen Datenmaterials die Funktion der Vergangenheitsdiskurse in der deutsch-tschechischen Nachbarschaft.