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10. Geschichtsbewusstsein der Grenzlandbewohner
Im Folgenden möchte ich nicht die Nachbarschaft von Tschechen und Deutschen in
einem Land (?SR, ?SSR, Tschechien) untersuchen, sondern das Neben- und Miteinander in zwei Staaten. Der Akzent liegt dabei auf dem Heute und auf dem Nahkontakt
an der Grenze. Die Methode wurde am Anfang meiner Arbeit vorgestellt.
10.1 Bewusstsein über die eigene Geschichte
Wenn gefragt und verglichen werden soll, ob Deutsche oder Tschechen im bayerischböhmischen Grenzraum mehr über historische Ereignisse des eigenen Staates, des
Nachbarlandes oder der deutsch-tschechischen Beziehungen wissen, dann ist zu berücksichtigen, dass die im tschechischen Untersuchungsgebiet lebende Bevölkerung
in einer Region wohnt, die bis 1945 fast ausschließlich von Deutschen besiedelt war.
Zwar sind im früheren Sudetenland heute drei Generationen zu Hause, so dass die
meisten dort bereits als verwurzelt gelten, doch stellen insbesondere die bestehenden
sozialen und ethnischen Probleme in einigen vorwiegend wirtschaftlich schwachen
Regionen ein Hindernis bei der prozesshaften Bildung der lokalen und regionalen
Identität und der Verbundenheit mit dem jeweiligen Ort dar. Darauf wiesen gleich
mehrere Befragte hin, wenn sie die Situation während der Neubesiedlung beschrieben.
Dieses mangelnde Identitätsbewusstsein ist darin begründet, wie eine Befragte aus
dem Ascher Zipfel meinte, dass
„die Menschen hier entwurzelt worden sind. Hier gab es eine multikulturelle
Umgebung, aber ohne Wurzel. [...] Hier war es ein großes Eldorado für alle.
Nichts haben wir in Ehren gehalten. Was da war und sich abnutzte, haben wir
so gelassen. Die nächste Generation ist darin aufgewachsen: dass ich alles
kann. Das stammt von den Deutschen. Ich kann das kaputt machen, das kommt
ja noch von den Deutschen. Und die dritte Generation weiß nun nicht, was damit.“ (65,w)
Andererseits kann man beobachten, wie doch eine ziemlich große Gruppe mit der Region zusammengewachsen ist, gute Kenntnisse über sie hat und um Verbesserungen
der Lebensqualität bemüht ist. Hierher gehören vorwiegend Personen mit hohem Bildungsgrad sowie politische, wirtschaftliche und kulturelle Eliten. Auf regionale Bezüge wie Traditionen (Feste, Festspiele usw.) oder Bräuche (wie Kirchweih) können sie
jedoch kaum oder gar nicht verweisen, da diese wie etwa die Stadt-, Wiesenfeste und
andere (auch kirchliche) Feiern mit der Vertreibung verschwunden sind. Dies ist in den
Interviews greifbar und die tschechischen Gesprächspartner geben es oft selber zu. Ein
Befragter, der erst nach der Wende in die Region Tachov gekommen war, da er dort
eine Arbeitsstelle bekommen hat, bemerkt dazu:
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„Ich habe Tachov als eine periphere und entwurzelte Stadt gekannt. Dabei
habe ich nicht gewusst, dass es noch schlimmer ist, dass die Stadt völlig wie
herausgeschnitten ist. Mein erster Eindruck war, dass jemand die Stadt gestohlen hat. Keine Traditionen, schlechte Lebensqualität und Menschen, die nicht
imstande sind, ihre Umgebung zu schätzen, in der sie leben.“ (59,m)
Deshalb mag es nicht verwunden, dass die tschechischen Befragten die Bayern für
„sesshaft“ und mit der Region verbunden halten. Wenn man ihnen selber die Frage
vorlegt, was ihnen an der eigenen Gegend gefällt, suchen sie meist lange nach einer
Antwort und oft lassen sie das Ganze unbeantwortet. Wenn jemand von ihnen eine
Antwort geben kann, dann sind es wieder vor allem die lokalen Eliten. Dagegen ist es
in Bayern kein Problem, Argumente zur Identi? zierung mit der Region zu ? nden.
Konstitutiv für das regionale Selbstverständnis in der Oberpfalz ist vor allem die
Natur als „farbenprächtiges Mosaik, zusammengesetzt aus glitzerndem Wasser und
grünem Wald, aus grauem Fels und gelbem Feld“ (59,m), die landsmannschaftliche
Zugehörigkeit zu Altbayern bei gleichzeitiger Betonung pfälzischer Traditionslinien,
sowie die regionalen Auswirkungen des Landshuter Erbfolgekriegs, des Dreißigjährigen Krieges und des Österreichischen Erbfolgekrieges – um „nur einige der bittersten
Erfahrungen, wenn auch die kapitalsten zu nennen“. (40,w) Bei der älteren Generation kommt noch die religiöse Verbundenheit hinzu. Viele Oberpfälzer sehen sich als
Verbindungsglied zwischen Ost und West. „Die Oberpfalz ist zur Brücke erst geworden nach dem Wegfall der Grenze. Sie war es vor dem Kommunismus und auch vor
dem Ersten Weltkrieg, da aber ganz dezidiert. Dann hat der Eiserne Vorhang alles
abgeschnitten, und jetzt ist sie es wieder geworden.“ (59,m)
Die Landkreise im Fichtelgebirge nehmen in Anlehnung an die betonte Stammesverwandschaft mit dem Egerland für sich sogar in Anspruch, eine „Pforte“391, also ein
unmittelbares Scharnier zwischen Bayern und Böhmen zu sein. Dort gelten als historische Prägestempel der regionalen Identität die Hussitenkriege, der Landshuter Erbfolgekrieg, die Reformation und der Dreißigjährige Krieg, das Ende des Zweiten Weltkrieges sowie die Integration der Heimatvertriebenen. Für die Befragten ist die Region
wegen der schönen Natur, vornehmlich auf Grund des „nebelreichen Fichtenwaldes“
(70,m) einzigartig und schön. Eine besondere Rolle für die Selbstdarstellung spielt
dabei das Kloster Waldsassen. Die Errichtung dieser mönchischen Niederlassung im
12. Jahrhundert beschleunigte und stabilisierte später die Besiedlung des ganzen Gebietes, wie einige Befragte bemerkten.
Die tschechischen Interviewpartner halten wiederum den Bevölkerungsaustausch
nach dem Zweiten Weltkrieg für einen sehr wichtigen Grund, weshalb das Wir-Gefühl
und das regionale Bewusstsein bei ihnen deutlich weniger ausgeprägt ist als bei den
Bayern. Aus den demographischen und historischen Untersuchungen deutscher und
tschechischer Geographen vom Jahre 1995 geht hervor, dass im tschechischen Teil der
391 Vgl. H.F. Stock: Das Fichtelgebirge. Erforscht, erwandert und erlebt. Hof 1989, S. 9.
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Euregio Egrensis fast alle Bürger eben erst nach dem Krieg hierher gekommen sind.392
Nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz der Bevölkerung lebt in den Grenzgebieten
bereits länger als 50 Jahre. Es handelt sich um die nicht vertriebenen Deutschen und
um wenige Tschechen, deren Familien die Grenzgebiete nach dem Münchner Abkommen zwangsweise nicht verlassen mussten. Dagegen sind die Bewohner in den bayerischen Grenzregionen dort entweder geboren worden oder sie leben dort schon seit
ihrer Kindheit. Ausgeprägter als auf der bayerischen Seite ist in der Tschechischen
Republik also die Zahl derjenigen, die in das Untersuchungsgebiet eingewandert sind,
um einen Arbeitsplatz und einen neuen Lebensmittelpunkt zu ? nden.
Allgemein gilt, dass die bayerische Grenzlandbevölkerung auf Grund ihrer Ansässigkeit und der stabilen Bewohnung der Gebiete auch über mehr regionales und regionalhistorisches Wissen verfügt als die Tschechen. Historische Kenntnisse besitzen in
Tschechien in der Regel nur Personen mit hohem Bildungsgrad. Für die wichtigsten
historischen Ereignisse, die die Entwicklung der Grenzgebiete beein? usst haben, halten die tschechischen Befragten das Münchner Abkommen und die Heimatvertreibung. Daneben wird der Kalte Krieg genannt, besonders die Entstehung des Eisernen
Vorhangs, den die Bevölkerung hautnah erlebt hat.
Fast bei allen Schichten und Altersgruppen in Bayern ? nden sich außerdem viele
Hinweise auf verschiedene traditionelle Feste wie Stadt-, Handwerker- oder Wiesenfeste (das bekannteste ? ndet in Selb statt) und andere Traditionen (wie Kirchweih-
Feste usw.). Die bayerische Bevölkerung bezieht sich öfter auf diese Feiern und kennt
meistens auch den historischen Hintergrund des jeweiligen Festtages. Die regionale
Identität und das regionale Bewusstsein sind somit bei den Bayern deutlich mehr ausgeprägt als in Tschechien.
Ähnlich wie in repräsentativen Meinungsumfragen bestätigt sich, dass das Dritte
Reich im Geschichtsbewusstsein der Bayern durchaus dominiert. Als 2000 bundesweit
danach gefragt wurde, welcher Abschnitt der deutschen Geschichte die größte Bedeutung für die heutige Bundesrepublik habe, gaben 22 Prozent der Befragten den Zweiten
Weltkrieg und weitere 18 Prozent den Nationalsozialismus an.393 Die beiden Ereignisse
rangieren somit an den ersten Stellen der bedeutendsten Geschichtsabschnitte Deutschlands. Insbesondere die Westdeutschen sind sich dieser Schattenseiten und deren Nachwirkungen bis in die Gegenwart hinein bewusst. Der Zweite Weltkrieg und die „Verbrechen der Nazis“ gehören zu den erinnerungswertesten Ereignissen der Deutschen.
Dagegen weiß die tschechische Bevölkerung in den Grenzgebieten viel weniger
über die eigene – regionale und lokale Geschichte. Die Mehrheit ist erst nach der Vertreibung der Sudetendeutschen in die Regionen gekommen und erlebte dort die Pro-
392 Vgl. Jaroslav Dokoupil: Die Grenzöffnung und ihre Folgen für die Bewohner einiger tschechischer und bayerischer Gemeinden in der Euregio Egrensis, in: Peter Jurczek (Hrsg.): Regionale
Entwicklung über Staatsgrenzen. Das Beispiel der Euregio Egrensis. Kronach/München/Bonn
1996, S.101-131, hier 104.
393 Vgl. Wilhelm Bürklin/Christian Jung: Deutschland im Wandel. Ergebnisse einer repräsentativen
Meinungsumfrage, in: Karl-Rudolf Korte/Werner Weidenfeld (Hrsg.): Deutschland. Trendbuch.
Fakten und Orientierungen, Bonn 2001. S. 675-712, hier 677.
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paganda der kommunistischen Staatsmacht, die intensiv darum bemüht war, die Geschichte und das Temporal- sowie Wirklichkeitsbewusstsein der Menschen zu fälschen. Das Regime wollte den Einwandernden einschärfen, dass in den Gebieten
immer schon Tschechen gelebt oder gewirkt hätten und dass die nach der Vertreibung
erfolgte Neubesiedlung durch sie und andere, meist slawische Nationalitäten, genau
an diese Tradition anknüpfen würde. Hingewiesen wird dabei besonders auf die Hussiten und Choden, wie auch ein Befragter aus der Region Tachov bemerkt:
„Die Kommunisten waren hier in den 1960er Jahren allseitig bemüht, Tachov
die hussitische Tradition aufzuwingen. Etwa seit 1965 hat man hier versucht,
die Hussiten-Bewegung in den Vordergrund der Stadtgeschichte zu stellen.
Diese Tendenzen bestanden dann bei uns bis zur Wende von 1989. Zum Beispiel
gab es bei uns Begrüßungstafeln mit „Willkommen in der Hussitenstadt Tachov“, was aus dem Blickwinkel eines Historikers nicht ganz der Tatsache entspricht. Es war einfach eine auf den Kopf gestellte Propaganda. Eine gewisse
Bedeutung hatte es aber, denn da wurden viele Zusammenhänge und auch historische Gegenstände dazu gefunden. Das Ganze wurde aber übertrieben dargestellt […] Übrigens, Tachov war doch immer eine katholische Stadt, deshalb
entspricht dieses Bild nicht der Realität.“ (62,m)
Ähnliche Vorwürfe hat der Interviewpartner im Blick auf die während des Kommunismus ebenfalls hervorgehobenen Choden-Traditionen geäußert. Er erinnert sich, wie in
den 1960er Jahren in Tachov Ausstellungen veranstaltet wurden, die die slawische Besiedlung und die Traditionen der Choden von Pimda und Chodová Planá dokumentieren
sollten und dabei wiederum mehrfach gegen das Wirklichkeitsbewusstsein verstoßen
haben. „Bestimmte Sachen haben dabei gestimmt. Viel von der Geschichte hat man aber
einfach ignoriert, denn so groß waren die Bindungen mit den Choden nicht.“ (62,m)
Aus den Selbstdarstellungen der Grenzregionen sind jedenfalls die Deutschen verschwunden. Betont werden dagegen die slawische Besiedlung der Gebiete sowie das
„ewige Hin und Her zwischen Böhmen und Bayern“ (66,m). Die tschechische Bevölkerung hatte dabei erst seit der politischen Wende von 1989 die Möglichkeit erlangt,
die örtliche Geschichte genauer zu erkunden. Dieser Prozess der Suche nach Informationen über die regionale und lokale Historie und die damit verbundene kulturelle Beheimatung dauert bis heute an. Der Vorgang wird erschwert unter anderem durch die
weitgehende Vernichtung der Kulturlandschaft. Viele Ortschaften oder wertvolle Gebäude wie Kirchen und Kapellen wurden während der kommunistischen Ära zerstört.
In einigen Städten wie in Aš ist das ganze historische Zentrum dem Erdboden gleich
gemacht worden, an anderen Stellen verschwanden Denkmäler, Friedhöfe und weitere Gedächtnisorte.
Die Befragten waren oft auch Zeugen dieser gewaltsamen Veränderungen und sprachen darüber in den Interviews. Am häu? gsten wurden an dieser Stelle die Zerstörungen in den Regionen Tachov und Aš erwähnt. Die meisten verurteilten zwar die Art
und Weise, wie die Stadt Aš ihr gemeinsames historisches Zentrum verloren hat, andererseits hielten sie es wiederum für verständlich, da sich die unbewohnten Häuser
in einem schlechten Zustand befanden:
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„Sie müssen bedenken, dass in die Häuser seit den dreißiger Jahren keine einzige Krone investiert wurde. Die Menschen hatten während der Wirtschaftskrise kein Geld, dann kam auf einmal der Krieg, was für ihre Geldtaschen auch
nichts Gutes war. Nach dem Krieg sind sie aus diesen Häusern vertrieben worden und an ihre Stelle kamen Tschechen und andere. Auch sie hatten kein Geld.
Und der de? nitive Schluss für die alten Häuser war der Bau der Plattenbauten
mit Zentralheizung. Die meisten zogen dorthin ein und die alten Häuser blieben leer. Da sie insbesondere nach jedem Winter immer mehr ver? elen, mussten sie früher oder später abgetragen werden. Und so verloren wir diese Häuser. Heute wissen nur wenige, dass es sie hier gab.“ (68,m)
Teilweise äußerten sich zur Entwicklung in den Grenzgebieten, insbesondere zum Verfall der Kirchen, auch bayerische Befragte.
„Man weiß ja, drüben, die haben in dem Sinne keinen richtigen Glauben, das
sind viele Vertriebene und die Kirchen, sieht man ja, da sind katholische Kirchen noch viele da und die sind sehr verfallen, wenn sie nicht irgendwie durch
deutsche Initiative wieder aufgebaut worden wären, die machen ansonsten sehr
wenig.“ (40,m)
Heutzutage kann man beobachten, dass in jeder größeren tschechischen Stadt Interessierte leben, meist Regionalhistoriker, die Informationen über die regionalen historischen Ereignisse und über die zerstörten Kirchen, Friedhöfe oder andere Gebäude
sammeln. Sie forschen in Archiven, besitzen alte Fotos ihrer Gemeinden und haben
Kontakte zu Vereinigungen der Heimatvertriebenen. Da die Informationen über die
regionale Geschichte der Grenzräume in Tschechien bis 1945 in der Regel nur auf
Deutsch verfasst wurden, gehört die Kenntnis der deutschen Sprache zur Voraussetzung bei der Beschäftigung mit dieser Vergangenheit.
In der letzten Zeit kann man sehen, dass doch auch historische Bücher und Publikationen zur regionalen Geschichte auf dem Markt erscheinen. Die Bevölkerung verbessert somit erheblich ihr regionales Wissen, ihr Historizitätsbewusstsein und verfestigt die eigene Identität. Allgemein kann festgehalten werden, dass auf Grund dieser
„versteckten“ respektive „verschwundenen“ Vergangenheit die junge Generation an
Geschichte interessiert ist, in Tschechien etwas mehr als in Bayern. Einige Gruppen
tschechischer Jugendlicher helfen sogar aktiv bei der Erhaltung der Kulturlandschaft.
Stellvertretend für alle kann man die Jugendgruppe des Bundes der Deutschen im
Egerland, eine Organisation der deutschen Minderheit, nennen, die alte Friedhöfe saniert. Aufsehen erregen ebenfalls die Projekte der Bürgervereinigung Antikomplex
wie etwa das „Verschwundene Sudetenland“ oder die Initiativen von Freiwilligen aus
Tschechien und der ganzen Welt bei der Restaurierung jüdischer Friedhöfe der Region
Tachov. Auch hier ist allerdings der Bildungsgrad entscheidend. Je höher er zu veranschlagen ist, desto mehr Interesse besteht. Wie in allen anderen Altersgruppen überwiegt allerdings auch bei den Jüngeren Desinteresse an der lokalen Geschichte und an
der Vergangenheit insgesamt:
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Ich sehe, dass sich hauptsächlich die jüngere Generation für die verschwundenen Ortschaften interessiert. Und die Alten wollen meist darüber nicht sprechen. Einige haben sogar an der Zerstörung dieser Gemeinden oder Häuser
mitgewirkt und haben sicher keine guten Gefühle.“ (68,m)
Aus den obrigen Darstellungen und Interpretationen kann man bei Deutschen und
Tschechen einige bedeutende Unterschiede in der Einstellung zur eigenen Geschichte
erkennen. Die kleine Zahl der Befragten ermöglicht es zwar nicht, zu objektiven Urteilen darüber zu gelangen, ob die einen oder die anderen mehr Wissen über die eigene Vergangenheit haben. Jedenfalls kann man aber feststellen, dass beide Nationen
grundsätzlich ein Interesse an diesem Thema entwickeln. Das bestätigen soziologische
Untersuchungen wie die des Mannheimer Instituts für praxisorientierte Sozialforschung im Auftrag des Bundesverbandes deutscher Banken von 2000, demzufolge 43
Prozent der Deutschen stark oder sehr stark an Geschichte interessiert sind, weitere 39
Prozent nach eigenen Angaben immerhin ein wenig.394 Während einerseits in dieser
bundesweit durchgeführten Meinungsumfrage lediglich 8 Prozent ein Interesse für die
Lokalgeschichte entwickeln, ergab andererseits meine Untersuchung in den bayerischen Grenzgebieten eine intensivere Aufmerksamkeit gegenüber der lokalen Vergangenheit. Die ziemlich guten Kenntnisse über die örtlichen historischen Ereignisse hängen mit der starken bodenständigen Verankerung der dort lebenden Bevölkerung zusammen.
In Tschechien wurde das Interesse an Geschichte bisher in keiner Erhebung gemessen. Befragungen des Soziologischen Instituts der Akademie der Wissenschaften und
des ISSP (International Social Survey Programme) zeigen, dass immerhin vier Fünftel
der Bevölkerung stolz auf die eigene nationale Tradition sind.395 Zudem bestätigte sich
zum Teil die Feststellung von Zden?k Suda, der das Bewusstsein der Tschechen für
„überhistorisiert“ hält. Ihm zufolge spielten historische Fragen immer eine bedeutende
Rolle im Prozess der Bildung und Bewahrung der kollektiven Identität der modernen
Gesellschaft. Nach Suda gebe es nur wenige Nationen, bei denen diese Tatsache einen
so bedeutenden Faktor darstellt wie bei den Tschechen.396 Regionale Bezüge erscheinen dagegen bei den tschechischen Befragten – wie bereits erwähnt – viel weniger als
bei den Bayern. Andererseits verweisen die Tschechen viel mehr als die Bayern auf
die Ereignisse des 20. Jahrhunderts, insbesondere auf das kon? iktgeladene Jahrzehnt
zwischen 1938 bis 1948. Dementsprechend sind sie meist auch ablehnender gegen-
über den deutsch-tschechischen Beziehungen eingestellt, da gerade in jenem Jahrzehnt
Negatives vorgeherrscht hat.
394 Wilhelm Bürklin/Christian Jung (Fn. 394), S. 675.
395 Vgl. Klára Vlachová/Blanka eháková: ?eská národní identita po zániku ?eskoslovenska a ped
vstupem do Evropské unie [Die tschechische nationale Identität nach dem Zerfall der Tschechoslowakei und vor dem Beitritt zur Europäischen Union]. Prag 2004, S. 23.
396 Vgl. Zden?k Suda: The Origins and the Development of the Czech National Consciousness and
Germany. Prag 1995, S. 42.
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10.2 Bewusstsein über die Ereignisse der deutsch-tschechischen Beziehungen
Nur wenige Bayern und Tschechen zeigen heute Interesse an der P? ege deutsch-tschechischer Beziehungen und kennen die geschichtlichen Zusammenhänge, die die Nachbarschaft schwerpunktmäßig prägen oder geprägt haben. Der Anteil derjenigen mit
entsprechendem Bewusstsein deckt sich etwa mit der Gruppe der aktiven Mittler, der
Träger der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit (s. Kapitel 12.3). Er beläuft sich
auf etwa fünf Prozent auf beiden Seiten. Hierher gehören meist Personen mit hohem
Bildungsgrad - Regionalhistoriker, lokale Eliten oder diejenigen, die beru? ich mit dem
Nachbarland zu tun haben.
Wenn bayerische und tschechische Gesprächspartner nach den die zwei Länder verbindenden historischen Ereignissen befragt werden, nennen die meisten, wie schon
erwähnt, den Zweiten Weltkrieg und die Vertreibung der Sudetendeutschen an erster
Stelle. Als ob für sie ältere einschneidende Momente weniger oder gar nicht mehr
existieren würden. Da diese Vorgänge der Qualität der Nachbarschaft geschadet haben, ist es verständlich, dass in diesem Punkt die negative Darstellung der gegenseitigen Beziehungen überwiegt. Die betreffenden Geschehnisse unterstützten gerade während des Kalten Kriegs die Feindkonstruktionen. Mit ihrer Hilfe wurde der Nachbar
bekanntlich als der Böse etikettiert, während die Eigenen als die Guten galten. Dieses
im kollektiven Gedächtnis tief verankerte Schwarz-Weiß-Denken kann man noch heute an einem Teil der Gesellschaft beobachten, meist bei den durch die Entwicklungen
Betroffenen und radikal gesinnten Personen. Die Ost-West-Konfrontation beein? usste
jedenfalls für lange ihr Historizitäts- und Identitätsbewusstsein.
Die Befragten sind sich jedenfalls im Klaren darüber, dass die geschichtliche Dimension der gegenseitigen Beziehungen sehr störend wirkt. Viele insbesondere auf der
bayerischen Seite streben deshalb nach einer Versöhnung, die ihrer Meinung nach jedoch erst nach langen Jahren erreicht werden kann. Musterhaft für die historische Lösung der Kon? ikte zwischen Deutschen und Tschechen ist für sie die heute normalisierte Einstellung Deutschlands zu Frankreich. Damit stehen sie den Vorstellungen der
of? ziellen deutschen Außenpolitik nahe, die laut dem Prager Botschafter der Bundesrepublik, Helmut Elfenkämper, bereits mehrmals das Modell Deutschland-Frankreich
auch auf Tschechien angewendet sehen wollte und sogar für ein gemeinsames Geschichtsbuch plädiert. „Diese Lehrbücher sind ein guter Beweis dafür, dass auch diejenigen Länder, die in der Vergangenheit lange Feinde waren, doch zu einer gemeinsamen Meinung kommen können, ohne dabei die eigene Geschichte aufzugeben.“397
Zwei Befragte aus Bayern äußerten sich ebenfalls dazu:
„Das ist sicher ein langer Prozess, der langsam erst angeht. Zehn oder zwanzig Jahre wird das sicher dauern, bis sich das Ganze so normalisiert hat, wie
sich das ungefähr vergleichsweise mit den Franzosen entwickelt hat. Jahrhun-
397 Vgl. Helmut Elfenkämper: Deklarace udala pozitivní sm?r [Die Erklärung gab die positive
Richtung], in: Marek Loužek (Hrsg.): ?esko-n?mecká deklarace. Deset let poté. Prag 2007,
S. 15-22.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In den deutsch-tschechischen Beziehungen spielt die Geschichte eine wichtige Rolle. Sie wird zum einen als Argument für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft benutzt, zum anderen aber auch als Waffe, um die andere Seite möglichst negativ darzustellen.
Die Arbeit untersucht an Hand eines qualitativen Datenmaterials die Funktion der Vergangenheitsdiskurse in der deutsch-tschechischen Nachbarschaft.