132
9. Ein Neubeginn in den gegenseitigen Beziehungen nach 1989
9.1 Aussöhnung und Gesten
Die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989, der schnelle Machtverfall der
Regierung der DDR sowie der politische Umbruch in der ?SSR vom 17. November
1989 hatten die Politiker beider deutscher Staaten und der ?SSR unvorbereitet getroffen. Sie waren sich trotzdem über die notwendige Normalisierung der gegenseitigen
Beziehungen einig.337 Noch im Dezember 1989 trafen sich die Außenminister beider
Länder, Hans-Dietrich Genscher und Jií Dienstbier, in Waidhaus zur symbolischen
Durchtrennung der Stacheldraht. In den folgenden Wochen begann der Abriss der
Grenzzäune zwischen beiden Ländern.
Die erste Reise des neuen Präsidenten Václav Havel hatte eher einen symbolischen
Charakter und führte am 2. Januar 1990 in die beiden damaligen deutschen Staaten.
Er besuchte München und Berlin und äußerte dort Zustimmung zur Vereinigung beider deutschen Teile, vorausgesetzt, dass dies auf Grund des gesamteuropäischen Konsenses vollzogen wird.338 Er tat dies, obwohl die öffentliche Meinung zu Hause eher
gegen die Entstehung eines wiedervereinigten Deutschlands war. 70 Prozent der
Tschechen wünschten sich diese erst in fernerer Zukunft oder lehnten sie völlig ab.339
Vor allem in den Grenzgebieten häuften sich Befürchtungen, eine kritische Bewältigung der historischen Ereignisse könnte Reparationen oder gar die erneute Abtretung
der Sudetengebiete evozieren. Bereits vor seinem Staatsbesuch verurteilte Havel freilich auch die Zwangsaussiedlung der Deutschen nach 1945. Havel gab damit aber
auch der Kommunistischen Partei die Möglichkeit, sich der Verantwortung bezüglich
ihrer eigenen Vergangenheit zu entziehen und als Hüterin der tschechoslowakischen
Staatsinteressen aufzutreten. Die Parteipresse „Rudé právo“ (Rotes Recht) veröffentlichte dazu sofort mehrere Leserbriefe, die alle die ablehnende Haltung der Öffentlichkeit dokumentieren sollten. Ein Leser bemerkte: „Heute wollen sie eine Entschuldigung und morgen ein neues München.“340
Soziologische Untersuchungen aus dem Jahre 1992 zeigten, dass die Tschechen
nicht sehr geneigt waren, den Abschub der Deutschen neu zu bewerten. 58 Prozent der
Bürger vertraten die Ansicht, die Vertreibung sei gerechtfertigt gewesen. Für ungerecht hielten die Vertreibung 23 Prozent der Befragten. Diese behaupten außerdem,
unter der Vergangenheit solle man endlich einen dicken Strich ziehen.341 Je intensiver
337 Zur Entwicklung der politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien siehe Miroslav Kunštát (Fn. 9).
338 Vgl. Der Standard vom 18. Januar 1990.
339 Vgl. Vladimír Handl (Fn. 9), S. 81.
340 Petr Pithart/Petr Píhoda (Fn. 314), S. 91.
341 Vgl. Rudé právo vom 27. März 1992.
133
das Thema die Öffentlichkeit und die Vergangenheitsdiskurse zu beschäftigen begann,
desto mehr stieg freilich die Zahl derjenigen mit einer befürwortenden Einstellung zur
Vertreibung der Deutschen. Im Jahre 1995 beurteilten sie 74 Prozent Tschechen als
eine richtige Handlung.
Havels „Entschuldigung“ blieb auf jeden Fall nicht ohne Folgen. Sie leitete einen
beeindruckenden und langwierigen Prozess der Aussöhnung zwischen Deutschen und
Tschechen und der weitaus komplizierteren Vergangenheitsbewältigung ein. In
Deutschland würdigte dies insbesondere Bundespräsident Richard von Weizsäcker als
großen Schritt zur Überwindung der Vergangenheit im Geiste guter Nachbarschaft. An
diese „Geste“ mochte freilich Bundeskanzler Helmut Kohl nicht genügend anzuknüpfen. Noch im Jahre 1990 brachte die tschechoslowakische Regierung mit Blick auf die
kommende deutsche Wiedervereinigung eine Erklärung heraus, in der als Ursache des
Zweiten Weltkriegs der Nationalsozialismus und nicht das deutsche Volk bezeichnet
wurde. Zum Schluss heißt es wörtlich: „Die Regierung der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik begrüßt die Vereinigung Deutschlands und erwartet,
dass es in absehbarer Zeit gelingt, die Fragen der tschechoslowakisch-deutschen Zusammenarbeit zufriedenstellend zu lösen.“342 Bei einer Fernsehdiskussion entschuldigte sich der Repräsentant der Ackermann-Gemeinde Anton Otte für all das Böse, das
im Namen des deutschen Volkes den Tschechen zugefügt worden ist. Die Sudetendeutsche Landsmannschaft schloss sich dieser Aussage nicht an.
Entscheidend waren die Reaktion der regierenden CSU, eines aktiven Fürsprechers
in der bundesdeutschen Regierung, und die der Sudetendeutschen Landsmannschaft
auf das Blitztreffen vom 2. Januar 1990. Der Vorsitzende der CSU Theo Waigel gab
im August 1991 bekannt, dass die tschechische Seite erst dann zur Europäischen Gemeinschaft beitreten könne, wenn es zu einem Ausgleich mit den Vertriebenen gekommen sei.343 Solche ultimative Erklärungen seitens der bayerischen Politiker waren
dann in den neunziger Jahren noch öfter zu hören. München als Schirmherr nutzte jede
sich bietende Möglichkeit, um die Forderungen der Sudetendeutschen zu stellen und
zu unterstützen. Man versuchte, die Frage der Versöhnung und der Aufhebung der sog.
Beneš-Dekrete in der Vorbereitungsphase Tschechiens auf den Beitritt zur Europäischen Union zu instrumentalisieren.344 Diese Bemühungen gipfelten im Juni 2003 in
der Abstimmung der bayerischen Europaabgeordneten der CSU gegen den Beitritt
Tschechiens zur Europäischen Union.
Die Vertreter der Landsmannschaft hatten zwar 1990 die „Entschuldigung“ für die
Vertreibung begrüßt, erwiderten jedoch „nur“ mit einer lauwarmen eigenen Entschuldigung für die Zeit des Nationalsozialismus. Das empfand wiederum die tschechische
Seite als ungenügend, hoffend auf die Durchsetzung eines Schlussstriches. Noch im
Jahre 1990 wiederholte die SL ihre Version der deutsch-tschechischen Kon? iktereig-
342 Vgl. Die Welt vom 10. Juni 2003.
343 Václav Houžvi?ka (Fn. 99), S. 384.
344 Vgl. Anne Bazin-Begley: Vertreibung der Sudetendeutschen als politisches Thema in der EU,
in: Barbara Coudenhove-Calergi/Oliver Rathkolb (Hrsg.): Die Beneš-Dekrete. Wien 2002, S.
152-162, hier 156.
134
nisse des 20. Jahrhunderts und die Forderungen, von denen vor allem das Beharren auf
der Gültigkeit des Münchener Abkommens in der tschechischen Öffentlichkeit Ängste hervorrief.345 Die Bundesversammlung der Sudetendeutschen Landsmannschaft
und der Sudetendeutsche Rat äußerten zwar ihre Zustimmung zum Demokratisierungsprozess in der Tschechoslowakei und boten ihr Verhandlungen auf der Basis des
Wiesbadener Abkommens aus dem Jahre 1950 an. Dort appellierte man aber an die
tschechische bzw. tschechoslowakische Nation, sie solle aus eigenen Fehlern lernen
und den Nationalismus überwinden. Die Initiative zur Wiederbelebung des Sudetenproblems in der tschechischen Öffentlichkeit und in den bilateralen Beziehungen hatte freilich einen gewissen Erfolg. Den sudetendeutschen Politikern gelang es, Parallelen zur palästinensischen Frage in den siebziger Jahre herzustellen. Seit Anfang der
neunziger Jahre legitimierten sie die Frage der Vertreibung mit Hilfe der ethnischen
Säuberungen in Bosnien und im Kosovo.346
Die Bemühung der tschechischen Seite um ein Ende der Vergangenheitsfragen setzte sich in Anwesenheit von Vertretern des Tschechischen Nationalrates und der Tschechoslowakischen Botschaft am Sudetendeutschen Tag 1990 fort. Am 11. Juni 1990,
traf sich der tschechische Ministerpräsident Petr Pithart mit SL-Sprecher Franz Neubauer in München. Es war das erste of? zielle Gespräch zwischen Sudetendeutschen
und Tschechen seit 1945. Die tschechische Seite plädierte von Anfang an dafür, dass
nur eine solche Regelung des Sudetenproblems annehmbar sei, der die eine und die
andere Seite zustimmen können. Ende November 1990 folgte ein weiteres Treffen des
tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Marián ?alfa mit Vertretern der Sudetendeutschen Landsmannschaft in München. Beide Seiten fanden danach keinen Weg zu
weiteren Verhandlungen mehr.
Der tschechoslowakische Ministerpräsident beharrte damals auf einem Schlussstrich unter der Geschichte und sprach sich für eine Orientierung der gegenseitigen
Kontakte an der gemeinsamen Zukunft aus. Die tschechische Öffentlichkeit hielt und
hält zum großen Teil den Schlussstrich unter der Vergangenheit für ein großmütiges
Zugeständnis und für ein Zeichen der Bereitschaft der Tschechen, die feindseligen
Einstellungen der Deutschen in der Vergangenheit und die Verbrechen der Nazis während des Zweiten Weltkriegs auf sich beruhen zu lassen und nicht mehr darauf zurückzukommen.
Das wollte Neubauer jedoch nicht akzeptieren und bestand auf seiner eigenen Interpretation der Geschichte und auf seinen Forderungen: Die Sudetendeutsche Landsmannschaft betrachte die tschechische Forderung nach einem dicken Strich unter der
Vergangenheit als einen Versuch, sich der Verantwortung für die Vertreibung der Deutschen und die nach dem Krieg an den Deutschen begangenen Grausamkeiten zu entziehen. Für ?alfa wiederum waren die von Neubauer ausgesprochene Kausalität
zwischen den Jahren 1918 und 1938 sowie die Forderung nach der Eröffnung der Restitutionsfrage nicht akzeptabel. Am 16. Oktober 1990 schrieb Neubauer sogar einen
345 Ferdinand Seibt (Fn. 177), S. 404.
346 Vgl. Rudolf Grulich: „Ethnische Säuberung“ und Vertreibung als Mittel der Politik im 20. Jahrhundert. Eichstätt 1998.
135
Brief an Václav Havel, in dem er ihn zu einseitigen Schritten in der Frage der Entschädigung aufforderte. Diese Rhetorik wenige Monate nach dem politischen Umbruch im
Ostblock begrenzte auf tschechischer Seite den ohnehin eingeschränkten Verhandlungsspielraum und war die Ursache für die nahezu eindeutig negative Einstellung der
tschechischen Gesellschaft gegenüber den Sudetendeutschen. Statt einer Annäherung
begann das Auseinandergehen beider Positionen.
9.2 Der Nachbarschaftsvertrag
Abgesehen vom Sudetenproblem begann jedoch eine rasche Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden Ländern. Eines der bedeutendsten Ereignisse im Prozess der
deutsch-tschechischen Annäherung war der Besuch von Bundespräsident Richard von
Weizsäcker am 15. März 1990 in Prag. Die politischen Proklamationen der Präsidenten orientierten sich an der Überwindung der historischen Spannungen zwischen beiden Nationen. Ein weiteres versöhnliches Ereignis war der Freundschaftslauf von
Košice in die Partnerstadt Wuppertal in Gegenwart beider Außenminister.
Bei einem Arbeitsbesuch des bundesdeutschen Außenministers Genscher in der
tschechoslowakischen Hauptstadt am 2. November 1990 erzielte man Einigkeit darüber, dass es in den gegenseitigen Beziehungen keine prinzipiellen Probleme gebe und
beide Länder Interesse an einer weiteren Entwicklung dieser Kontakte haben. Prag
verzichtete sogar im Unterschied zu Polen auf die Teilnahme an „2+4“-Gesprächen
zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, bei der es um die äußeren Aspekte der deutschen Wiedervereinigung ging.347
Die Regierung wollte somit die Verhandlungen erleichtern und die bilateralen Beziehungen auf keinen Fall belasten. Diese Entscheidung fand später viele Kritiker, vor
allem nachdem die Sudetendeutsche Landsmannschaft ihre Forderungen dargelegt
hatte. Die Bundesrepublik wiederum übernahm mit dem Vertrag vom 12. September
1990 gegenüber den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs eine völkerrechtliche Verp? ichtung, die bezüglich der Territorialfrage absolute Klarheit schafft.
Bei ersten Staatsbesuchen in Bonn und Prag wurde schließlich die Grundlage für
die Ausarbeitung eines bilateralen Abkommens gelegt. Bundeskanzler Helmut Kohl
sagte bei seinem Treffen mit Vertretern des Bundes der Vertriebenen regelmäßige
Konsultationen mit ihnen zu. In der tschechischen Öffentlichkeit waren daher 42 Prozent der Bürger der Auffassung, dass ein solcher Vertrag mit Deutschland das Eigentum und die Sicherheit in den ehemaligen Sudetengebieten bedrohen könnte. Auf die
Frage, ob er im Land zu einer beschleunigten wirtschaftlichen Entwicklung verhelfen
würde, antworteten 48 Prozent der Tschechen freilich positiv.348 Am 27. Februar 1992
kam es dann zur Unterzeichnung des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
347 Vgl. Jindich Dejmek: ?eskoslovensko, jeho sousedé a velmoci ve XX. století (1918 až 1992)
[Die Tschechoslowakei, ihre Nachbarn und die Weltmächte im XX. Jahrhundert (1918-1992].
Prag 2002, S. 85.
348 Vgl. Rudé právo vom 27. März 1992.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In den deutsch-tschechischen Beziehungen spielt die Geschichte eine wichtige Rolle. Sie wird zum einen als Argument für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft benutzt, zum anderen aber auch als Waffe, um die andere Seite möglichst negativ darzustellen.
Die Arbeit untersucht an Hand eines qualitativen Datenmaterials die Funktion der Vergangenheitsdiskurse in der deutsch-tschechischen Nachbarschaft.