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1,45 Millionen Deutsche in sein Territorium übernehme. Beneš´ Plan des Verzichts auf
ein Sechstel des deutschen Siedlungsgebietes der Tschechoslowakei und der Aussiedlung von etwa der Hälfte der Deutschen wurde von den Westmächten selbstverständlich abgelehnt.156 Chamberlain und der französische Ministerpräsident Daladier setzten Beneš – gegen die Opposition Churchills – erneut unter diplomatischen Druck und
„empfahlen“ ihm, alle Gebiete mit mehr als 50 Prozent der deutschen Bevölkerung
aufzugeben – für die Tschechoslowakei ein gewaltiger Schock. Hitler war nur zu einem auf den 1. Oktober befristeten Ultimatum bereit. Diese ultimative Art und Weise
Berlins war wiederum für Prag unakzeptabel. Der Krieg schien damit unabwendbar zu
sein.
Beneš musste schließlich einsehen, dass vom Westen keine militärische Hilfe mehr
zu erwarten war und ein sowjetisches Hilfsangebot am Widerstand der Nachbarstaaten
gegen einen Durchmarsch der Roten Armee scheitern würde. Daher lehnte er eine alleinige Kriegserklärung an Deutschland ab – worauf seine Generäle drängten. Ministerpräsident Milan Hodža trat hierauf am 21. September zurück. Nach einer Woche
weiterer ? eberhafter Verhandlungen und nach der Generalmobilmachung der tschechoslowakischen Armee, bei der wohlbewaffnete Divisionen kampfbereit standen,
sollte eine hastig einberufene Konferenz in München am 29. September 1938 (ohne
die Teilnahme der Tschechoslowakei) die Abtretung des sog. Sudetenlandes ans Reich
beschließen. Die Tschechoslowakei hatte sich diesem Diktat zu unterwerfen. Insbesondere das damalige Appeasement-Verhalten Frankreichs hinterließ bei Beneš genauso wie im ganzen tschechischen Volk tiefe Spuren und wurde als Verrat empfunden.
4.4 München – peace for our time?
Die Wendung in der bisher gespannten Lage brachte, wie soeben betont, die Münchner
Konferenz zustande: Nach einer Idee Mussolinis vom 28. September 1938 sollten die
vier Großmächte die Situation lösen. Chamberlain hatte den italienischen Führer und
engsten Verbündeten Hitlers um seine Vermittlerrolle gebeten. Hitler zeigte seine Bereitschaft. Er war sich nämlich dessen bewusst, dass es sich nicht lohnen würde, einen
Krieg mit den westlichen Großmächten zu riskieren, wenn nicht alle diplomatischen
Wege ausgeschöpft worden seien. Deshalb organisierte er gemeinsam mit Mussolini
die Münchener Konferenz, zu der Daladier und Chamberlain eingeladen wurden.
Das Abkommen war Ergebnis der Vorstellungen der Vertreter der vier Mächte. Diese glaubten seinerzeit wirklich, über den betroffenen fünften Staat verfügen zu können, der auch vorher schon im Spiel dieser Mächtigen war. Die drei nichtdeutschen
Signatarmächte, Großbritannien, Frankreich und Italien, verstanden die Rechtslage
offenbar ähnlich wie Hitler. Großbritannien und Frankreich distanzierten sich von dem
Vertrag erst im Laufe der Kriegsjahre.
156 Vgl. dazu Dagmar Perman: The Sharping of the Czechoslovak State. Leiden 1962, S. 159ff.
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Der britische Historiker Ian Kershaw hält das Münchener Abkommen für ein tragisches Beispiel britischer Außenpolitik. Ihm zufolge hatte es insbesondere für Großbritannien und für seine ehemaligen außenpolitischen Leitsätze schwere Folgen; es beein? usste negativ sein Prestige im internationalen Kontext. Dazu trug auch noch unmissverständliche Anordnung bei, die Chamberlain am 30. September 1938 dem
britischen Botschafter Newton nach Prag schickte: „You should at once see President
(Beneš) and on behalf of His Majesty´s Government urge acceptance of plan that has
been worked out today after prolonged discussion with a view to avoiding con? ict.
You will appreciate that there is no time for argument: it must be a plain acceptance.“157
Der tschechoslowakische Außenminister Kamil Krofta wurde bereits um sechs Uhr
abends an diesem Tage vom deutschen chargé d´ affaires A. Hencke mit den Ergebnissen der Konferenz in München bekannt gemacht.
Der Außenminister antwortete den Briten wie folgt: „Im Namen des Präsidenten
der Republik sowie der Regierung teile ich mit, dass wir uns den Entscheidungen fügen, die in München über uns ohne uns verabschiedet wurden. Ich möchte Sie nur
darauf aufmerksam machen, dass hiermit der gegen uns geführte Presse- und Rundfunk-Krieg aufhören muss, denn sonst wäre es nicht möglich, die Münchener Beschlüsse auf friedlichem Wege zu realisieren. Ich will nicht kritisieren, aber es ist für
uns eine Katastrophe, die wir nicht verdient haben. Wir fügen uns und werden uns darum bemühen, dass unser Volk ruhig leben kann. Ich weiß nicht, ob Ihre Länder von
den in München getroffenen Entscheidungen pro? tieren werden. Wir sind sicher nicht
die letzten, nach uns wird es noch anderen Ländern so ergehen.“158
Das Münchner Abkommen bedeutete das Ende der Versailler Nachkriegsordnung.
Sie hatte kein einziges der Nationalitätenprobleme Mitteleuropas gelöst, denn in den
nicht-annektierten Gebieten der Tschechoslowakei sind damals 240 000 Deutsche zurückgeblieben und im von Hitler beanspruchten Teil hatten 578 000 Tschechen ihr
Zuhause. Wenn man noch die Österreich und Polen zugeschlagenen Gebiete hinzurechnet, so befanden sich in den abgetretenen Regionen der Republik mindestens 822
000 Tschechen.159 Als nicht zukunftsfähig erwies sich eindeutig die einseitige Orientierung der tschechoslowakischen Außenpolitik an Frankreich. Die Münchener Krise
wirft auch Fragen zur Einstellung Beneš´ und seiner Entschlossenheit zum Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland auf. Wie Václav Houžvi?ka anführt, war
eine der meistgestellten Fragen in London, ob der Staatspräsident tatsächlich zum
Kampf für die Erhaltung der Tschechoslowakei entschlossen sei.160
Bemerkenswerte Erkenntnisse über sein Denken sowie über die Einstellungen der
westlichen Mächte bringt Radomír Luža. Ihm zufolge war Beneš stets zu defensiv orientiert. Er kritisiert ihn deswegen dafür, dass er seinen westlichen Verbündeten die
tschechoslowakische Position nicht genügend erklären konnte und dass er nicht kon-
157 Ebd., S. 138.
158 Vgl. Jindich Dejmek: Historik v ?ele diplomacie – Karel Krofta [Der Historiker an der Spitze
der Diplomatie – Karel Krofta]. Prag 1998, S. 343f.
159 Václav Houžvi?ka (Fn. 99), S. 252.
160 Ebd., S. 225.
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sequent genug auf seiner Politik bestand. Lužas´ Auffassung nach war dies etwas, was
Frankreich wie Großbritannien fürchteten, denn in diesem Falle hätten beide Länder
bei einem Angriff auf Prag zu Hilfe kommen müssen.161 Die Bereitschaft, einen Krieg
zu führen, hätte die Briten und ihre Appeacement-Politiker zu einer Druckausübung
auf die Führung der Sudetendeutschen Partei gezwungen. In Wirklichkeit befand sich
jedoch die tschechoslowakische Regierung ständig unter Druck. Die Tschechoslowakei selber sei von der öffentlichen Meinung in Frankreich und Großbritannien als ein
fast totalitäres Land angesehen worden. Das ist der zweite Kritikpunkt Lužas an der
Außenpolitik von Beneš. Trotz des sichtbaren moralischen Vorteils vermochte er die
Öffentlichkeit in Frankreich und Großbritannien nicht von der Richtigkeit seiner
Schritte zu überzeugen.
Kritisch sieht Benešs Verhalten auch der tschechische Historiker Zbyn?k Zeman.
Der Staatspräsident sei seiner Feststellung zufolge Opfer der eigenen Taktik geworden, die auf einer übertriebenen Weichheit des Staats basierte. Zeman untersuchte sein
politisches Handeln und stellte bei ihm die mangelnde Berücksichtigung der internationalen Lage der Tschechoslowakei während der Münchner Krise fest. Daraus ergaben sich gleich mehrere Fehler, die mit der Erhöhung des internationalen Drucks noch
deutlicher wurden. Zeman behauptet, Beneš sei nicht genug darauf vorbereitet gewesen, die Republik im Kampf gegen den Nationalsozialisten zu führen. Auch habe er in
dieser Hinsicht der Nation nicht vertraut.162
Gegen diese Auffassungen stellt sich der tschechische Historiker Jan Tesa. In seinem Buch „Das Münchener Syndrom“ lehnt er die Verschiebung der politischen Verantwortung auf die Person des Staatspräsidenten ab.163 Doch kritisiert auch er Beneš
ebenfalls, nämlich dafür, dass dieser - gezwungenermaßen - die ihm von Runciman
und Henlein aufgedrängte Version des Nationalitätenstatuts annahm und dass er die
Sudetendeutsche Partei als den bedeutendsten Vertreter der Sudetendeutschen akzeptierte.
Der tschechische Historiker Václav Kural befasste sich in seiner umfangreichen
Studie mit der Variante einer Verteidigung der Tschechoslowakei gegen den eventuellen Angriff Hitlers.164 Ihm zufolge war die tschechoslowakische Politik bei der Verteidigung der eigenen Interessen gegenüber den Briten, Franzosen und Deutschen nicht
aktiv genug. Kural untersuchte die Zeit der Generalmobilmachung vor dem Münchener Abkommen und kam zu dem Ergebnis, dass sie der Wehrmacht den Moment der
Überraschung nahm und man Zeit für weitere Verhandlungen gewann. Das tschechoslowakische Verteidigungssystem, bestehend aus vielen Bunkern, Kanonen, Fahrzeugen, Flugzeugen und Panzern hätte seiner Überzeugung nach die Überlegenheit der
Militäreinheiten des Gegners ausgeglichen. Kural gibt allerdings zu, dass die Verteidigung mit der Waffe viele Opfer gekostet hätte. Dies wäre aber eine nicht ganz un-
161 Vgl. Radomír Luža: The Transfer of the Sudeten Germans. 1964, S. 153f.
162 Zbyn?k Zeman: Edvard Beneš. Prag 2002, S. 145f.
163 Jan Tesa (Fn. 119), S. 81.
164 Vgl. Václav Kural: Mohli jsme se bránit? [Konnten wir uns wehren?] In: Písn? tajné 5 (2003),
S. 99-110.
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denkbare und auf jeden Fall moralisch besser zu begründende Möglichkeit für die
tschechoslowakische Politik gewesen.
Der Streit der tschechischen (sowie auch deutschen) Historiker um München dreht
sich heute größtenteils um das Handeln von Edvard Beneš. Wie kompliziert seine Position (nicht nur) im September 1938 war, zeigt der Ratschlag des tschechoslowakischen Diplomaten Hubert Ripka vom 20. September 1938.: „Herr Präsident, jetzt liegt
es nur an Ihnen, ob wir kapitulieren werden oder einen Widerstand zeigen. Ich kenne
das Risiko eines Widerstands: wir können geschlagen werden. Aber diese Niederlage
würde nicht die moralische Kraft der Nation zerbrechen – diese würde sich bei der
ersten Gelegenheit wieder aufraffen. Dagegen könnte die Kapitulation eine Zersetzung
für mehrere Generationen verursachen. Davon würden wir uns kaum mehr erholen.
Ich sage es offen und es ist auch die Meinung vieler meiner Freunde: Wir ziehen das
furchtbare Risiko eines Kriegs einer schmachvollen Kapitulation vor, die in unserer
Nation alles Reine, Starke und Entschlossene tilgen würde.“165
Hubert Ripka de? nierte somit als erster ein Phänomen, das seit München die moderne tschechische Geschichte begleitet – den Münchener Komplex als Symbol einer
machtlosen und unverständlichen Kapitulation und als Symbol der Verlassenheit. Er
ist bis heute tief im historischen Gedächtnis der tschechischen Nation verankert, wie
noch später gezeigt wird. Verstärkt wurde er während der politischen Krisen in der
Tschechoslowakei in den Jahren 1948 und 1968.
Der bereits erwähnte Hubert Masaík wiederum kam auf Grund authentischer Informationen aus erster Hand zu dem Schluss, dass die Kapitulation vor dem reichsdeutschen und internationalen Druck ein besserer Weg gewesen sei als die Führung
eines Krieges. Der Kampf gegen die Wehrmacht hätte Masaík zufolge den Selbstmord der Nation bedeutet.166 Beneš erhielt dazu noch am 26. September ein Memorandum des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, in dem ihn jener bat,
den Kon? ikt zwischen beiden Ländern friedlich und ohne Blutvergießen zu lösen.
Ähnlich interpretiert die Haltung des Staatspräsidenten auch Václav Havel. „Beneš
wusste, dass seine Entscheidung, das Münchener Diktat abzulehnen, von Unverständnis und Widerstand der demokratischen Welt begleitet worden wäre, die aus ihm einen
tschechischen Nationalisten, Störenfried, Provokateur oder Hasardeur gemacht hätte,
der aberwitzig hoffte, auch weitere Völker in einen Krieg hineinzuziehen, den es überhaupt nicht hätte geben müssen.“167
Bei der Beurteilung des Münchener Abkommens sind sich die Historiker und Politikwissenschaftler jedoch in einem einig: Die Wunden, die die Tschechoslowakei
durch „München“ zugefügt worden sind, waren tödlich. Die Nation hatte den Glauben
an sich selbst und an die Demokratie verloren. Es herrschte das Gefühl der Verlassenheit. Der Münchner Komplex zeigt eine bis heute zu beobachtende Asymmetrie. Für
165 Zitiert nach Jan Ken: Do emigrace [In die Emigration]. Prag 1963, S. 55.
166 Vgl. Hubert Masaík: V prom?nách Evropy [In den Veränderungen Europas]. Prag/Litomyšl
2002, S. 248.
167 Zitiert bei Ivan Šedivý: ?eši, ?eské zem? a velká válka 1914-1918 [Die Tschechen, die Böhmischen Länder und der große Krieg]. Prag 2001, S. 347.
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die Tschechen ist er der größte Sündenfall geblieben, der die Bedrohung der nationalen Existenz darstellte. Die meisten Sudetendeutschen nahmen die Ergebnisse der
Münchener Konferenz dagegen mit Begeisterung auf. Sie feierten die Befreiung, wie
die Bilder vom Hitlers Besuch in Asch oder Karlsbad zeigen. Die unterschiedlichen
Interpretationen von München haben sich tief in das historische Gedächtnis der Tschechen und Sudetendeutschen eingegraben.
Nach dem Münchener Abkommen und der Abtretung der Grenzgebiete an Deutschland erfolgten am 1. Oktober 1938 ein polnisches Ultimatum und die Annexion des
Gebietes T?šín/Teschen, später auch kleinerer Teile von slowakischen Regionen durch
Polen. Hitler hat sich jedoch nicht mit den im Münchener Abkommen durchgesetzten
Grenzen zufrieden gegeben. Bereits am 10. November 1938 forderte er (und erhielt
er) nachträglich kompromisslos noch einen Teil des Chodenlandes und der Gebietsstücke um Jilemnice/Starkenbach sowie ?eskodubsko/Böhmisch Aicha mit Umland.
Aus den an Deutschland zugeschlagenen Gebieten wurde ein großer Teil der nichtdeutschen Bevölkerung vertrieben, jüdische Bewohner verfolgte man und ihr Eigentum kam in deutsche Hände.168 Die besetzten Gebiete mussten innerhalb weniger
Stunden 210.000 dort lebende ethnische Tschechen verlassen.169 Viele von ihnen gingen aus den Grenzgebieten „freiwillig“, denn sie fürchteten die Aggressivität der
Heinleinanhänger.
Noch während viele Sudetendeutsche im Sudetenland frenetisch die einrückende
Wehrmacht bejubelten, setzte bereits die Verfolgung ein. Mindestens 10.000 Menschen, vorwiegend Sozialdemokraten, Kommunisten, Personen aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kirche, dazu Juden, sogar Leute aus Henleins Stab und aus seiner Partei
verhaftete die Gestapo in den ersten Monaten der Existenz des neuen Reichsgaus.170
Die sudetendeutsche Historiographie führt an, dass „von Oktober bis Dezember 1938
2 500 Sudetendeutsche allein ins KZ Dachau eingewiesen wurden. Insgesamt erfolgten etwa 20 000 Verhaftungen und Verschickungen. Ins westliche Ausland ? üchteten
schätzungsweise 30 000 Sudetendeutsche“171. Bald darauf brannten im Sudetenland
die Synagogen. Viele Sudetendeutsche konnten bereits die starke Einschränkung ihrer
vielfältigen Vereinstätigkeit und der örtlichen Presse durch die Nazionalsozialisten
nicht übersehen. Wie Volker Zimmermann bemerkt, waren von diesen Ereignissen
Sudetendeutsche auf allen Ebenen betroffen. Denn die Verwaltung befand sich in der
168 Vgl. Gemeinsame deutsch-tschechische Historikerkommission (Hrsg.): Kon? iktgemeinschaft,
Katastrophe, Entspannung. Skizze einer Darstellung der deutsch-tschechischen Geschichte seit
dem 19. Jahrhundert. München 1996, S. 45ff.
169 Im Gegenzug durfte die verkleinerte Tschechoslowakei 250.000 auf ihrem Territorium lebende
Deutsche ausweisen. Vgl. Rainer Münz: Ethnische Säuberungen. Zum „Transfer“ der Sudetendeutschen, in: Barbara Coudenhove-Kalergi/Oliver Rathkolb (Hrsg.): Die Beneš-Dekrete. Wien
2002, S. 130-137, hier 132f .
170 Vgl. Ralf Gebel: „Heim ins Reich“. K. Henlein und der Reichsgau Sudetenland 1938-1945.
München 1999.
171 Vgl. Oskar Böse/Rolf-Josef Eibicht (Hrsg.): Die Sudetendeutschen. Eine Volksgruppe im Herzen Europas. München 1989, S. 73.
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Hand einheimischer Funktionäre, die meist von der SdP zur NSDAP gewechselt
waren.172
Wenn auch die meisten Sudetendeutschen ihre „Heimkehr ins Reich“ feierten, so
sollte man nicht übersehen, dass eine kleine, aber gewichtige Minderheit über das
Münchener Abkommen hinaus der Republik die Treue hielt, bis hin zu Verfolgung,
Konzentrationslager oder Exil. Nach der Kapitulation der tschechischen Regierung
? üchteten zwischen 10 000 und 30 000 Sozialdemokraten und Kommunisten ins Landesinnere, um von dort den Kampf gegen die Nationalsozialisten fortzusetzen.173 Viele von ihnen wurden von den tschechoslowakischen Behörden zurückgeschickt und
damit dem NS-Terror ausgeliefert. Trotzdem gelang rund 7 000 sudetendeutschen Antifaschisten die Flucht und ca. 30 000 sudetendeutschen Juden die Emigration. Die
Aufnahmeländer der Flüchtlinge waren vor allem Großbritannien, Kanada, Skandinavien und die Sowjetunion.174
Der britische Ministerpräsident Neville Chamberlain hatte bei seiner Rückkehr aus
München auf dem Londoner Flughafen vor einer jubelnden Masse optimistisch versichert, er habe nun „peace for our time“ gesichert. In Wahrheit war es der erste große
Schritt zur deutschen Hegemonie über ganz Europa, denn „es ging Hitler gar nicht um
die Sudetendeutschen, sondern um die Aufhebung des französischen Sicherheitssystems und die Zerschlagung des tschechoslowakischen Staates und die Einschüchterung aller Ostmitteleuropäer auf dem geplanten Weg zur Zerstörung der Sowjetunion
und der Unterjochung Russlands [...]. Die Sudetendeutschen ließen sich von diesem
gewaltigen Strom der Macht und des Gefühls der Erfüllung ihrer Selbstbestimmung
mitreißen.“175
Das Ereignis ging in die Geschichte als Symbol für kurzsichtige Diplomatie ein.176
Aus dem heutigen Blickwinkel wurde damit der Krieg nicht verhindert, sondern nur
um einige Monate aufgeschoben. Hitler, insgeheim enttäuscht, da er um einen Kriegsgrund gebracht war, suchte alsbald einen neuen Anlass für seinen Angriff. Erst die
Annexion der verbliebenen Teile der böhmischen Länder und der Einmarsch in Prag
im März 1939 öffneten den Alliierten Großbritannien und Frankreich die Augen und
überzeugten sie davon, dass mit Hitler keine Verträge geschlossen werden konnten.
172 Vgl. Volker Zimmermann (Fn. 97), S. 64.
173 Vgl. Adolf Hasenoehrl: Kampf, Widerstand, Verfolgung der sudetendeutschen Sozialdemokraten: Dokumentation der deutschen Sozialdemokraten aus der Tschechoslowakei im Kampf gegen Henlein und Hitler. Stuttgart 1983.
174 Vgl. Leopold Grünwald: Sudetendeutscher Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Benediktbeuren 1986.
175 Rudolf Hilf: Deutsche und Tschechen. Symbiose-Katastrophe-Neue Wege. Opladen 1995, S.
147f.
176 Vgl. John Wheeler-Bennett: Munich: Prologue to Tragedy. New York 1965.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In den deutsch-tschechischen Beziehungen spielt die Geschichte eine wichtige Rolle. Sie wird zum einen als Argument für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft benutzt, zum anderen aber auch als Waffe, um die andere Seite möglichst negativ darzustellen.
Die Arbeit untersucht an Hand eines qualitativen Datenmaterials die Funktion der Vergangenheitsdiskurse in der deutsch-tschechischen Nachbarschaft.