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Landesselbstverwaltung einführen. Die Minderheiten (nicht nur die deutsche) sollten
demnach eine proporzionale Vertretung in den Staatsorganen erhalten. Dies galt auch
für den Gebrauch der Muttersprache. Aufgehoben werden sollten ihre prozentuellen
Anteile in der Bevölkerung, eine bisher geltende Bedingung zur Einführung der Muttersprache in den Ämtern.139 Die Gesetzesvorlagen unterbreitete die tschechoslowakische Regierung der Führung der Sudetendeutschen Partei sowie den Regierungen in
London und Paris am 26. Juli 1938. Henlein lehnte sie erneut ab und gab bekannt, dass
für ihn nur die volle territoriale Autonomie eine Lösung der Situation sein kann. London gab bekannt, dass vor der Verabschiedung des neuen Nationalitätenstatuts eine
politische Vereinbarung mit Henlein notwendig sei.
Ein dritter Plan entstand im August 1938. Präsident Beneš diskutierte ihn vom 16.
bis zum 21. August 1938 mit Professoren der Deutschen Universität in Prag. Er sah
die Entstehung von drei rein deutschen Selbstverwaltungsgauen vor. Henlein wollte
ihn ebenfalls nicht akzeptieren. Am 31. August intensivierte Hitler seinen Druck auf
die Tschechoslowakei, indem er das österreichisch-tschechoslowakische Abkommen
über die Staatsgrenzen aus dem Jahre 1928 au? öste.140
4.3 Der Weg nach München
Die Henlein-Partei hatte ihre Forderungen also nach jedem der Zugeständnisse gesteigert, die nun unter dem Druck des Deutschen Reiches von der tschechoslowakischen
Regierung gewährt wurden. Sie bekannte sich immer offener zu irredentistischen Zielen, zum Weg „heim ins Reich“.141 Geheime oder öffentliche Unterredungen der SdP
mit Berlin intensivierten sich im Sommer 1938, so dass es Außenminister Ribbentrop
nicht mehr für angängig hielt, wenn „in kurzen Zeitabschnitten immer wieder der eine
oder andere Herr aus Prag erscheine, um in Einzelfragen Entscheidungen einzuholen.“142
Die letzten Schritte: Während der Münchener Krise machte Edvard Beneš von seinem Recht als Präsident Gebrauch und verkündete Parlamentsferien. Damit nahm er
alle Verantwortung auf sich. Wären nämlich die Abgeordneten zusammengetreten,
hätte es den Bedingungen, die das Münchener Abkommen enthielt, zustimmen müssen. Somit hätten die Abgeordneten die Grenzänderung bestätigt. Denn der tschechoslowakischen Verfassung zufolge konnte über Änderungen von Grenzen nur das Parlament be? nden. Demzufolge hätte die Annahme des Münchener Abkommens einen
staatsrechtlich gültigen Akt bedeutet. Das wiederum wäre der – von Beneš erwarteten
– späteren Annullierung des Münchner Abkommens eindeutig abträglich gewesen.
Am 26. Juli 1938 kam der britische Premier Chamberlain mit der Idee, einen briti-
139 Vgl. Jan N?me?ek: Cesta k dekret?m a odsun N?mc? [Der Weg zu Dekreten und der Abschub
der Deutschen]. Prag 2002, S. 37.
140 Václav Houžvi?ka (Fn. 99), S. 212.
141 Vgl. Hans Lemberg 1995, S. 47.
142 Boris Celovsky (Fn. 123), S. 153.
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schen Vermittler nach Prag zu schicken, der die Gesprächsbereitschaft auf beiden Seiten erhöhen sollte. Diese Aufgabe übernahm Lord Walter Runciman.143 Die britische
Regierung war entschlossen, Deutschland von einem Angriff abzuhalten und die
Tschechoslowakei zur Abtretung der Sudetengebiete zu überreden.144 Erwähnung verdient die Art und Weise, wie der britische Gesandte nach Prag geschickt wurde. Der
britische Botschafter in Prag B. Newton erhielt nämlich am 18. Juli 1938 aus London
den Auftrag, Beneš dazu zu bewegen, selber um die Entsendung eines britischen Vermittlers zu bitten. Der Präsident lehnte diesen Vorschlag zwar ab, beriet sich jedoch
mit der Regierung. Gemeinsam verfassten sie dann eine Antwort verfasst, aus der der
Wille zur ehrlichen und gerechten Lösung der Sudetenfrage sowie die Zustimmung
mit der Entsendung eines britischen Vermittlers hervorgingen. Der tschechoslowakischen Regierung ist also Runciman angesichts des immer realistischer werdenden
deutschen Angriffs aufgezwungen worden.
Dieser kam am 3. August 1938 nach Prag, wo gerade über den dritten Entwurf des
Nationalitätenstatuts diskutiert wurde. Die darin vorgeschlagene Selbstverwaltungsstruktur übernahm er in sein Programm zur Lösung der Krise. Gleich am 4. August traf
er die Führung der Sudetendeutschen Partei, die ihm erneut ihre Autonomiewünsche
mitteilte. Sie hatte sich auf den Besuch präzis vorbereitet. Der Schwerpunkt lag beim
Treffen von Henlein und Runciman am 18. August im Schloss ?ervený hrádek/Rothenhaus bei Komotau. Vor dem Schloss demonstrierten während der Sitzung Sudetendeutsche für die Einführung der Heim-ins-Reich-Politik.
Später machte sich Runciman auch mit den Ansichten der deutschen Sozialdemokratie bekannt. Die Sozialdemokraten unter Wenzel Jaksch waren der Meinung, dass
die Sudetendeutschen im Jahre 1919 die Unterstellung ihrer Gebiete unter tschechische Verwaltung nicht wünschten. Für die Existenz innerhalb der Tschechoslowakei
sprächen aber insbesondere wirtschaftliche Gründe. Der deutschen Sozialdemokratie
zufolge war die einzige Hoffnung auf eine friedliche Lösung der Sudetenfrage die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in den Grenzgebieten, die durch die Wirtschaftskrise stark gelitten hatten.
Die Regierung selber stellte Lord Runciman folgende Informationen zur Verfügung: Die Deutschen würden im Lande 70 Sitze in der Nationalversammlung und 36
im Senat besitzen. Sie hatten im Jahre 1938 5 293 Schulen und eine Universität. Die
polnischen Deutschen verfügten zur selben Zeit dagegen nur über 514 Schulen. Die
Deutschen vereinigen sich in der Tschechoslowakei in 2237 kulturellen Organisationen, außerdem haben sie eine eigene deutschsprachige Rundfunksendung und 249
deutschsprachige Tageszeitungen.145 Bei den Verhandlungen mit Beneš setzte sich
Runciman für die Annahme aller acht Karlsbader Forderungen durch Prag ein.
143 Vgl. Paul Vyšný: The Runciman mission to Czechoslovakia, 1938: prelude to Munich. Basingstoke/Hampshire 2003.
144 Vgl. Michal Spirit: Tzv. Benešovy dekrety. Pedpoklady jejich vzniku a jejich d?sledky [Die so
genannten Beneš-Dekrete. Voraussetzungen ihrer Entstehung und ihre Folgen], Prag 2004,
S. 96.
145 Ebd., S. 97.
69
Beneš wiederum stellte seinen bereits vierten Plan zur Lösung der Sudetenfrage am
5. September 1938 vor. Darin sicherte die Regierung Tschechen wie Deutschen volle
Gleichberechtigung für ihre territoriale Selbstverwaltung, nationale Proportionalität
und ihre Sprachen zu. Runciman bezeichnete diesen vierten Plan als gute Voraussetzung bei konstruktiven Verhandlungen zwischen der tschechoslowakischen Regierung
und der Sudetendeutschen Partei. Für Henlein war jedoch auch dieser Plan unakzeptabel. Seine Partei lehnte ihn am 12. August ab.146 Henlein schrieb Hitler, dass der
Inhalt weiterer Verhandlungen nicht mehr die Karlsbader acht Punkte, sondern nur
noch die Durchführung des Anschlusses an das Reich sein müsse.147 Am gleichen Tag
organisierte die Partei einen Fackel-Marsch, bei dem in Anwesenheit von Runciman
gerufen wurde: „Lieber Lord, mach‘ uns frei von der Tschechoslowakei!“ Die Regierung verhängte daraufhin in Nordböhmen das Standrecht. Die Armee beruhigte die
Situation in Zusammenarbeit mit Gruppierungen sudetendeutscher Antifaschisten von
der Republikanischen Wehr. Henlein ließ am 15. September verlauten, dass er und die
Sudetendeutschen eindeutig „heim ins Reich“ möchten. Seiner Vorstellung zufolge
sollten alle tschechoslowakischen Gebiete, in denen der Anteil an Deutschen 50 Prozent übersteigte, ohne Volksabstimmung an Deutschland abzutreten sei.
Im Abschlussbericht für den britischen Premier Chamberlain vom 16. September
1938 schrieb Runciman: „Nach der Ablehnung der Vorschläge der tschechoslowakischen Regierung vom 13. September und dem Abbruch der Verhandlungen durch
Herrn Henlein waren meine Funktionen als Vermittler faktisch beendet. Direkt oder
indirekt ist in der heutigen Situation die Verbindung zwischen den sudetendeutschen
Hauptführern und der Reichsregierung der entscheidende Faktor; die Streitfrage ist
schon keine innere Angelegenheit mehr. Die Vermittlung zwischen der Tschechoslowakei und Deutschland gehörte aber nicht zu meinen Funktionen.“148 Runciman äu-
ßerte in diesem Bericht Sympathien für die Henlein-Bewegung und empfahl der britischen Regierung eine weitere Unterstützung der Forderungen der Sudetendeutschen.
Mitte September 1938 herrschten in den tschechoslowakischen Randgebieten bereits bürgerkriegsähnliche Zustände, woran die Bereitschaft Prags nichts änderte, alle
Forderungen des Karlsbader Programms zu akzeptieren. Die Sudetendeutsche Partei
antwortete nämlich mit dem Abbruch der Verhandlungen und der Intensivierung der
Spannungen. Parallel dazu steigerten sich die Gewaltaktionen gegen die tschechische
und vor allem jüdische Bevölkerung, die noch im September zu lokalen Pogromen
146 Vgl. Hana Mejdrová (Hrsg.): Trpký úd?l: výbor dokument? k d?jinám n?mecké sociální demokracie v ?SR v letech 1937 - 1948 [Das bittere Schicksal. Auswahl von Dokumenten zur
Geschichte der deutschen Sozialdemokratie in der ?SR in den Jahren 1937-1948]. Prag 1997,
S. 56.
147 Vgl. Boris Celovsky (Fn. 123), S. 161.
148 Michael Freund (Hrsg.): Geschichte des Zweiten Weltkrieges in Dokumenten. Bd. I. Freiburg/
München 1953, S. 148 ff. – Vgl. Johann Wolfgang Brügel: Der Runciman-Bericht, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 26 (1978), S. 652-659.
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wurden.149 Zu solchen kam es insbesondere nach der Rede Hitlers auf dem Reichsparteitag in Nürnberg am 12. September 1938, in der er ankündigte, eine weitere Unterdrückung der Sudetendeutschen sei nicht zu dulden. Das Selbstbestimmungsrecht
müsse durchgesetzt werden. Dieser Auftritt war mehr als alle anderen voll vom persönlichen Groll gegen Edvard Beneš geprägt, den Vertreter eines winzigen „Saisonstaates“. Hitler hasste Beneš wegen seiner aktiven Rolle bei der Formulierung der Friedensverträge von Versailles, wegen seiner Bemühungen um die Schaffung eines Sicherheitssystems, das die Hoffnung der unzufriedenen Verlierer auf eine erfolgreiche
Revanche verringern sollte, und auch deshalb, weil er sich – im Gegensatz zu vielen
Repräsentanten westlicher Großmächte – erlaubt hatte, den Führer zu kritisieren und
ihm einfach im Wege zu stehen.
Am 16. September 1938 erfolgte die Antwort: Die Sudetendeutsche Partei wurde
verboten. Einige Sudetendeutsche ? ohen ins Reich, wo sie in das von Hitler am folgenden Tag aufgestellte und unter Leitung der Wehrmacht stehende Sudetendeutsche
Freikorps150 eintraten und mit Sabotage-Akten den Putsch vorbereiteten. Dieser Plan
konnte aber infolge der Zusammenarbeit antifaschistischer Selbstschutzgruppen und
Militäreinheiten innerhalb weniger Stunden zerschlagen werden. Als die Regierung
Mitte September Polizei- und Militär-Einheiten in die Grenzregionen verlegte und das
Standrecht verhängte, ? oh die SdP-Führung, also Henlein und sein Hauptunterführer
Karl Hermann Frank, nach Deutschland. Von dort aus riefen sie über den Rundfunk
zum bewaffneten Aufstand auf. Hitler wollte in dieser Phase vor allem ein Signal an
die Westmächte senden, dass Edvard Beneš und die tschechoslowakische Regierung
mit der Au? ösung der Sudetendeutschen Partei das Recht der Sudetendeutschen auf
Selbstbestimmung verweigert hätten.151 Das gelang ihm vor allem bei den Verhandlungen mit dem britischen Premierminister Neville Chamberlain am 15. September in
Berchtesgaden und am 22. September in Bad Godesberg. Dort drohte er mit der Lösung der Sudetenfrage – „so oder so“. Seine Generale studierten zu dieser Zeit bereits
detailliert die Stadtpläne Prags, und Göring bereitete den Luftangriff vor.
In der Erkenntnis, dass eine Ablehnung von Hitlers Forderungen Krieg bedeuten
würde, drängten Chamberlain und der französische Ministerpräsident Daladier in
gleichlautenden Noten vom 19. September Prag nachdrücklich zur Abtretung aller
Gebiete mit mehr als 50 Prozent deutscher Bevölkerung. Ihre Memoranden bedeuteten
den Höhepunkt der Erpressungspolitik gegenüber der Tschechoslowakei. Daladier gab
149 Zum Beispiel die nordböhmischen Städte Chomutov/Komotau und Varnsdorf/Warnsdorf brüsteten sich bereits im September 1938, noch vor dem Anschluss, sie seien judenfrei. Demütigungen der Juden führten ab Sommer 1938 zur Massen? ucht aus den Grenzgebieten. Vgl. Erich
Später (Fn. 114), S. 19.
150 Vgl. Werner Röhr: Das Sudetendeutsche Freikorps – Diversionsinstrument der Hitler-Regierung
bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 52 (1993),
S. 35-66.
151 Der „Völkische Beobachter“ vom 18. September 1938 berichtete sogar von 23 000 Flüchtlingen, die „Zeugen des tschechischen Blutterrors“ werden sollten. Die Ausgabe vom 20. September brachte einen Artikel, demzufolge die Tschechen einen „Massenmord an Deutschen in Aussig“ geplant hätten.
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am selben Tag während der Verhandlung noch in London bekannt, dass beide Länder
auf Beneš „the strongest pressure“ ausüben sollten.152 Beiden Großmächten ging es in
dieser Zeit nicht mehr um die Suche nach einer Lösung innerhalb der tschechoslowakischen Staatsgrenzen, sie waren vielmehr von der Annexion überzeugt und suchten
den besten Weg zur Bewahrung des eigenen Prestiges auf der internationalen Ebene.
In der britisch-französischen aide-mémoire, die eher ein Ultimatum war, stand:
„Beide Regierungen sind davon überzeugt, dass nach all den letzten Ereignissen der
Punkt erreicht sei, wo die weitere Existenz der von den Sudetendeutschen bewohnten
Gebiete im Rahmen der tschechoslowakischen Grenzen von heute an nicht mehr faktisch verlängert werden soll, ohne dass dies nicht die Interessen der Tschechoslowakei
und die Interessen des europäischen Friedens bedrohen würde. Angesichts dieser Tatsachen waren beide Regierungen zur Formulierung der Schlussfolgerung genötigt,
dass die Erhaltung des Friedens und der Schutz der Existenzinteressen der Tschechoslowakei nur dann gesichert werden könnten, wenn diese Gebiete an das Reich angeschlossen werden.“153 Den Text erhielt Edvard Beneš mit der Warnung, dass jegliche
Verzögerung seiner Antwort die deutsche Invasion in die Tschechoslowakei auslösen
könne.
Die Prager Regierung lehnte am 20. September 1938 beide Noten ab. Am 21. September 1938 erklärten die Gesandten Englands und Frankreichs in Prag, falls die Antwort der Tschechoslowakei weiterhin negativ bleibe, trage die Regierung in Prag die
alleinige Verantwortung für den Krieg. England und Frankreich würden sich daran
nicht beteiligen. Deutlich äußerte der britische Premier Neville Chamberlain am 26.
September 1938 in der Presse: „Wie fürchterlich, fantastisch, unglaublich es doch ist,
dass auch wir hier wegen eines kleinen und entfernten Landes Gräber ausheben und
neue Gasmasken probieren sollen. Auch wenn wir sehr mit der kleinen Nation sympathisieren, so dürfen wir auf keinen Fall zulassen, dass das ganze britische Reich nur
wegen diesem Land in einen Krieg gerät.“154
Die tschechoslowakische Regierung gab am 21. September dem ultimativen Drängen von Frankreich und Großbritannien nach, die mit ihrer „Appeasement-Politik“
glaubten, Hitler mit der erzwungenen Abtretung der sudetendeutschen Gebiete zufrieden stellen zu können. Beneš hatte schon am 16. September eine Geheimanweisung
zur Lösung der Sudetenfrage entwickelt, die er den Franzosen schickte. Das Dokument – auch als der fünfte Plan des Nationalstatuts bekannt – sah als äußerste Konzession Prags die Abtretung des Egerlands außerhalb der tschechoslowakischen Befestigungslinie von 1936 sowie eines Landzipfels in Nordostböhmen vor.155 Diese Gebiete sollten aber nur unter der Bedingung abgetrennt werden, dass Deutschland dafür
152 Václav Houžvi?ka (Fn. 99), S. 217.
153 Vgl. Mnichov v dokumentech [München in Dokumenten]. Prag 1958, S. 144f.
154 Manchester Guardian vom 27. September 1938. Zitiert nach Václav Houžvi?ka (Fn. 99),
S. 220.
155 Vgl. Detlef Brandes: Eine verspätete tschechische Alternative zum Münchener ´Diktat´. Edvard
Beneš und die sudetendeutsche Frage 1938-1945, in: Vierteljahrhefte für Zeitgeschichte 42
(1994), S. 221-241.
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1,45 Millionen Deutsche in sein Territorium übernehme. Beneš´ Plan des Verzichts auf
ein Sechstel des deutschen Siedlungsgebietes der Tschechoslowakei und der Aussiedlung von etwa der Hälfte der Deutschen wurde von den Westmächten selbstverständlich abgelehnt.156 Chamberlain und der französische Ministerpräsident Daladier setzten Beneš – gegen die Opposition Churchills – erneut unter diplomatischen Druck und
„empfahlen“ ihm, alle Gebiete mit mehr als 50 Prozent der deutschen Bevölkerung
aufzugeben – für die Tschechoslowakei ein gewaltiger Schock. Hitler war nur zu einem auf den 1. Oktober befristeten Ultimatum bereit. Diese ultimative Art und Weise
Berlins war wiederum für Prag unakzeptabel. Der Krieg schien damit unabwendbar zu
sein.
Beneš musste schließlich einsehen, dass vom Westen keine militärische Hilfe mehr
zu erwarten war und ein sowjetisches Hilfsangebot am Widerstand der Nachbarstaaten
gegen einen Durchmarsch der Roten Armee scheitern würde. Daher lehnte er eine alleinige Kriegserklärung an Deutschland ab – worauf seine Generäle drängten. Ministerpräsident Milan Hodža trat hierauf am 21. September zurück. Nach einer Woche
weiterer ? eberhafter Verhandlungen und nach der Generalmobilmachung der tschechoslowakischen Armee, bei der wohlbewaffnete Divisionen kampfbereit standen,
sollte eine hastig einberufene Konferenz in München am 29. September 1938 (ohne
die Teilnahme der Tschechoslowakei) die Abtretung des sog. Sudetenlandes ans Reich
beschließen. Die Tschechoslowakei hatte sich diesem Diktat zu unterwerfen. Insbesondere das damalige Appeasement-Verhalten Frankreichs hinterließ bei Beneš genauso wie im ganzen tschechischen Volk tiefe Spuren und wurde als Verrat empfunden.
4.4 München – peace for our time?
Die Wendung in der bisher gespannten Lage brachte, wie soeben betont, die Münchner
Konferenz zustande: Nach einer Idee Mussolinis vom 28. September 1938 sollten die
vier Großmächte die Situation lösen. Chamberlain hatte den italienischen Führer und
engsten Verbündeten Hitlers um seine Vermittlerrolle gebeten. Hitler zeigte seine Bereitschaft. Er war sich nämlich dessen bewusst, dass es sich nicht lohnen würde, einen
Krieg mit den westlichen Großmächten zu riskieren, wenn nicht alle diplomatischen
Wege ausgeschöpft worden seien. Deshalb organisierte er gemeinsam mit Mussolini
die Münchener Konferenz, zu der Daladier und Chamberlain eingeladen wurden.
Das Abkommen war Ergebnis der Vorstellungen der Vertreter der vier Mächte. Diese glaubten seinerzeit wirklich, über den betroffenen fünften Staat verfügen zu können, der auch vorher schon im Spiel dieser Mächtigen war. Die drei nichtdeutschen
Signatarmächte, Großbritannien, Frankreich und Italien, verstanden die Rechtslage
offenbar ähnlich wie Hitler. Großbritannien und Frankreich distanzierten sich von dem
Vertrag erst im Laufe der Kriegsjahre.
156 Vgl. dazu Dagmar Perman: The Sharping of the Czechoslovak State. Leiden 1962, S. 159ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In den deutsch-tschechischen Beziehungen spielt die Geschichte eine wichtige Rolle. Sie wird zum einen als Argument für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft benutzt, zum anderen aber auch als Waffe, um die andere Seite möglichst negativ darzustellen.
Die Arbeit untersucht an Hand eines qualitativen Datenmaterials die Funktion der Vergangenheitsdiskurse in der deutsch-tschechischen Nachbarschaft.