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2. Vergangenheitsdiskurs - Begriffsklärung
2. 1 Vergangenheitsdiskurs und Geschichtsbewusstsein
Vergangene Ereignisse und Handlungen werden nicht nur in ihrer Abfolge erinnert
oder habituell reproduziert, sondern auch von den einzelnen Individuen unterschiedlich interpretiert, umformuliert und auf jeweils neue Umstände bezogen.38 Nach Karl
Jaspers ist Geschichte „die Erinnerung, um die wir nicht nur wissen, sondern aus ihr
leben“.39 Und in diesem Vergangenheitsbezug liegen – wenn überhaupt – die Ansatzpunkte für eine identitätsstiftende und –wahrende Erinnerungskultur, zum Beispiel in
Gestalt von kulturfördernden Programmen. Denn Rückblicke fundieren und konstruieren Identität. Die Vergangenheitsdiskurse sind Kommunikationsformen des historischen Denkens, die die kollektiv und historisch bedeutenden Ereignisse thematisieren,
ihnen kulturspezi? sche Inhalte zuordnen und eine Synthese der Vergangenheitsinterpretation, des Gegenwartsverständnisses und der Zukunftsperspektive darstellen. Ihr
Inhalt ist die „eigentlich gewesene“ Vergangenheit, in der freilich niemand mehr ist
und niemand je war, der heute lebt, um ein Wort von Ernst Bloch aufzugreifen und
abzuwandeln.
Mit Hilfe der Vergangenheitsdiskurse nehmen wir Haltungen zum Einst ein, wir
rekonstruieren, bewerten, beurteilen, vergessen– auch mit Rücksicht auf die Gegenwart. Es kommt zur Vergegenwärtigung von Vergangenheit40, außerdem zur Formierung unserer Beziehung zwischen Erfahrung und Erwartung, also zwischen Retention
und Prätension. Das Gewesene wird eben als bereits Erfahrenes angesehen, das dabei
hilft, die gegenwärtige Welt zu begreifen und sie mit Hinblick auf die Zukunft als dem
Schon und Noch-nicht verständlich zu machen, und zwar vor allem in der Weise, dass
wir mit dem Gedächtnis historische Tatsachen und Erfahrungen ebenfalls blockieren
können, wenn sie nicht günstig auf die Selbstde? nition und das Selbstverständnis der
Nation oder anderer Gruppen wirken.41 Anders ausgedrückt: Das Zurückliegende kann
nicht in seiner reinen Gestalt re? ektiert werden, sondern immer aus der Perspektive
der Gegenwart sowie im Horizont des Künftigen und in Form von Vergangenheitsdis-
38 Vgl. Jacques Le Goff: Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1991, S. 85. – Hierzu auch
Inga Markovits: Selective Memory: How the Law Affects What We Remember and Forget about
the Past – the Case of East Germany, in: Law & Society Review 2 (2001), S. 513-563.
39 Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München 1956, S. 222.
40 Vgl. Peter Steinbach: Die Vergegenwärtigung von Vergangenem. Zum Spannungsverhältnis zwischen individueller Erinnerung und öffentlichem Gedenken, in: Aus Politik und Zeitgeschichte
3-4 (1997), S. 3-13.
41 Bei seiner theoretischen Beschäftigung mit der Vergangenheit stellte sich Edward Hallett Carr
die Frage, mit welcher Vergangenheit sich die Menschen ausstatten oder versehen. Genauso handelt es sich beim individuellen Gedächtnis nicht um bloße Fakten; sie werden interpretiert und
man manipuliert mit ihnen je nachdem, wer erzählt und welche Geschichte erzählt wird. Vgl.
Edward Hallett Carr: What is History? Middlesex 1961.
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kursen. Das ist verständlich, denn ohne irgendein Gewesenes, kann es auch kein Seiendes geben (Martin Heidegger). Damit gelangen wir noch in ganz andere Bereiche:
Denn die Vergangenheitsdiskurse dienen zunächst als eines der effektivsten Mittel, mit
dem sich primäre Überzeugungen und grundsätzliche Einstellungen vor allem zur Gegenwart begründen und rechtfertigen lassen. Was erinnert oder vergessen werden soll,
wird durch aktuelle Bedürfnisse gerade aus der Gegenwart heraus bestimmt.42 Diese
Bedürfnisse unterliegen wiederum eigenen Veränderungen, was bedeutet, dass es zu
verschiedenen Versionen von Geschichtsauffassung kommt.
Die für meine Arbeit wichtigen Diskurse gestalten nicht bloß die Vergangenheit,
sondern zugleich auch unsere gegenwärtige Situation mit, immer im Hinblick darauf,
wie sich jene aus dem Gewesenen heraus etabliert hat oder haben könnte. Dabei
kommt es mit ihrer Verwirklichung selber wieder zur fortdauernden Umformulierung
und Bewältigung der Geschichte selbst. Im Zusammenhang mit dem aktuellen theoretischen Forschungsstand in Fragen der Perzeption des Einst halte ich es daher für
hilfreich, den Begriff Geschichtsbewusstsein vorzustellen, der eine wesentliche Voraussetzung für die Realisierung der Vergangenheitsdiskurse in Grenzlandbevölkerungen bildet. Ferner gilt meine Aufmerksamkeit dem Terminus Vergangenheitsbewältigung, der die Folgen dieser Kommunikationsformen über die dortige zurückliegende
Zeit darstellt. Die Bewältigung des erinnerten Geschehenen ist dabei das Ergebnis der
Diskurse; durch sie wird das Vergangene angeeignet, also Meinung gebildet. In unserem Fall handelt es sich dabei vor allem um Grenzlandgeschichte, deshalb wird auch
ein Zusammenhang zwischen Vergangenheitsdiskurs und Grenze ausgearbeitet.
Der Begriff des Geschichtsbewusstseins ist freilich ein vieldeutiges Wort. Hans Georg Gadamer bezeichnet das historische Bewusstsein als Privileg unter gewissen Umständen sogar als Last. Privileg deshalb, weil sich der moderne Mensch die Geschichtlichkeit alles Gegenwärtigen und der Relativierung aller Meinungen bewusst ist. Einen Sinn für Geschichte zu haben bedeutet, die natürliche Naivität konsequent zu
überwinden. Es fordert die bewusste Berücksichtigung der historischen Dimension,
die das ganze Leben beinhaltet. Deshalb schafft das erwachende Geschichtsbewusstsein Lebensregeln und sucht sie zu ? xieren. Zur Last kann die Vergangenheit dann
werden, wenn in der nationalen Geschichte eine Diktatur vertreten ist, mit deren Folgen eine langfristige Auseinandersetzung nötig sein wird, wie wir am Beispiel des
Nationalsozialismus sehen.
Hier handelt es sich weiterhin um eine den kulturellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen des Individuums angepasste und modi? zierte Sonderform von Bewusstsein. Als Teil des gesellschaftlichen oder politischen Selbstverständnisses integriert es
in sich „nicht nur das Wissen um geschichtliche Prozesse, sondern auch vorpolitische
Einstellungsmuster und mentale Operationen. Es besteht ein Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und mentaler Identität wie auch zwischen erkennendem
42 John R. Hodges: Der Mensch und sein Gedächtnis: Wissenschaftliche Grundlagen des Erinnern
und Vergessens, in: Herbert-Quandt-Stitung (Hrsg.): Die Zukunft des Gewesenen – Erinnern und
Vergessen an der Schwelle des neuen Millenniums. Bad Homburg 2000, S. 14-19.
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Subjekt und zu erkennendem Gegenstand, also zwischen Mensch und Geschichte.“43
Es erlaubt einer Person, „die gegenwärtige Lebenspraxis in der Zeit zu orientieren und
ermöglicht damit die historische Identitätsbildung.“44 Fragt man, wie die Entwicklung
des eigenen Landes im Zusammenhang mit einem anderen angrenzenden wahrgenommen wird, so ist davon auszugehen, dass bei jedem ein sehr komplexes Gemisch von
Schulwissen, in den Familien und Medien vermitteltem Wissen oder auch von Stereotypen, am Stammtisch reproduzierten Gedanken und Aussagen darüber, „wie es nämlich wirklich gewesen sei“, vorliegt. Das gekennzeichnet gerade auch im bayerischtschechischen Bereich.
Außerdem gilt: „Geschichtsbewusstsein ist ein Bestandteil der Ich-Identität und
damit relevant für die Analyse der wechselnden Selbstbilder.“45 Dies erweitern wir um
die Wir-Identität. Die Feststellung entspricht der Theorie des so genannten symbolischen Interaktionismus, wie ihn der Sozialpsychologe George Herbert Mead vertritt.46
Sie geht davon aus, dass Menschen auf der Grundlage von Interpretationen ihre Wahrnehmungen und Handlungen und als Resultat des Sozialisationsprozesses strukturieren, womit sie in eine Tradition gerückt werden. Geschichtsbewusstsein verschränkt
den Erfahrungshorizont der menschlichen Weltorientierung, in dem die Vergangenheit
in unterschiedlicher Weise gegenwärtig ist, stets mit dem Erfahrungshorizont, in dem
Handeln sich zweckhaft entwirft.47 Damit sind alle Zeitstufen miteinander verbunden.
Alle bisher angestellten Begriffsexplikationen laufen in einem Gesichtspunkt zusammen: Das Geschichtsbewusstsein öffnet als orientierende Zeiterfahrung Handlungschancen48, vollbringt die Sinnbildung am Leitfaden der Zeit, ermöglicht die historische Identität, d.h. die Selbstbehauptung des Menschen im zeitlichen Wandel seiner selbst und seiner Welt. Es ist weiterhin seine Fähigkeit, unterschiedliche
Sachverhalte narrativ in einem sinnvollen temporalen Zusammenhang zu synthetisieren. Das geschieht in Form von Texten, Bildern und ihren Interpretationen in den Vergangenheitsdiskursen und stellt für ihre Realisierung die notwendige Voraussetzung
dar.
Auf das soziale Individuum bezogen handelt es sich um eine individuelle mentale
Struktur, die nach Hans-Jürgen Pandel durch ein System von sieben aufeinander ver-
43 Vgl. Erik Erikson: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a.M. 1981, S. 124. – Talcott Parsons:
The position of identity in the general theory action, in: Chat Gordon/Kenneth, Gerden: The self
in social interaction vol 1: Classic and Contemporary Perspectives. New York u.a. 1968, S. 11-
23.
44 Werner Weidenfeld/Felix Philipp Lutz: Die gespaltene Nation. Das Geschichtsbewusstsein der
Deutschen nach der Einheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 42 (1992), S. 3-22.
45 Vgl. Karl-Rudolf Korte: Standort der Deutschen. Akzentverlagerungen der deutschen Frage in
der Bundesrepublik Deutschland seit den siebziger Jahren. Köln 1990, S. 19.
46 Vgl. George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1978, S. 187-221.
47 Jörg Rüsen/Friedrich Jaeger: Erinnerungskultur, in: Karl-Rudolf Korte/Werner Weidenfeld
(Hrsg.): Deutschland Trendbuch. Fakten und Orientierungen. Bonn 2001, S. 397-428, hier
399f.
48 Vgl. Jürgen Straub: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Frankfurt a.M. 1998.
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weisenden Doppelkategorien gebildet wird: Temporalbewusstsein (früher – heute/
morgen), Wirklichkeitsbewusstsein (real – imaginär), Historizitätsbewusstsein (statisch – veränderlich), Identitätsbewusstsein (wir – ihr/sie), politisches Bewusstsein
(oben – unten), ökonomisch-soziales Bewusstsein (arm – reich), moralisches Bewusstsein (richtig – falsch). Diese Gegensätze, Unterscheidungen, Gegenüberstellungen
sind aus der Semiotik und dem Strukturalismus bekannt. Die erwähnten Kategorien
lassen sich literaturwissenschaftlich auch bei einer Interpretation der sudetendeutschen Grenzlandromane und der für Verständnis der Tschechen werbenden deutschen
(bayerischen) Literatur heranziehen. Geschichtlichkeit kommt auch dort erst in der
Integration der drei miteinander verknüpften Kategorien: Temporalbewusstsein, Wirklichkeitsbewusstsein und Historizitätsbewusstsein zum Ausdruck.
Das Temporalbewusstsein meint dabei die zeitliche Dimension, also die Vorstellung
des Nacheinander, bezogen auf die geschichtlichen und temporären Zusammenhänge
sowie Folgen. Einerseits wird die zeitliche Festlegung von historischen Ereignissen
erreicht, andererseits ist es fraglich, inwieweit eben das Geschichtsbewusstsein in die
Vergangenheit zurück- und in die Zukunft vorausgreifen kann. Zur Problemstellung
meiner Arbeit gehört daher auch zu sehen, über welche Zeitepochen und historischen
Ereignisse die Bewohner des böhmisch-bayerischen Grenzgebietes die meisten Informationen und über welche sie dagegen keine haben und warum das so ist.
Die zweite Grundorientierung der Gesellschaftlichkeit des Geschichtsbewusstseins
ist die Dimension des Wirklichkeitsbewusstseins. Sie besteht in den kognitiven und
analytischen Fertigkeiten des Menschen, Fakten von Lügen sowie Geschehenes vom
Nichtgeschehenen, also historische Tatsachen von den Geschichtsmythen zu unterscheiden. Wirklichkeitsbewusstsein erwirbt man mit dem historischen Lernen. Die
Fähigkeit zur Trennung des historisch Realen vom historischen Fiktiven ist freilich
niemals konstant, sondern sie verändert sich im Sozialisationsprozess. Sie gehört zum
integralen Teil der nationalen und historischen Identität eines jeden Menschen.49 Unser historisches Lernen hat sich in diesem Sinne lebenslang zu bewähren, die Grenzen
zwischen Realität und Fiktionalität sind ständig neu zu ziehen. Besonders aktuell ist
diese Aufgabe an Landesgrenzen, wie noch zu zeigen wird.
Mit den beiden Fähigkeiten steht im direkten Zusammenhang das Historizitätsbewusstsein. Es drückt die Prozesshaftigkeit der Geschichte und des Geschichtsverständnisses aus, wobei besonders zu fragen ist, wie und wann die historischen Ereignisse
im Geschichtsbewusstsein erscheinen. Das, was dabei erinnert wird, hängt hier vor
allem von unserer Fähigkeit zum historischen Lernen ab. Beschäftigt man sich mit
dem Geschichtsbewusstsein, besteht die zentrale Fragestellung darin, welche Geschichtsteile relevant und wie sie in den Gedächtnisprozessen vorhanden sind sowie
warum. Das Nachdenken über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist in den
Grenzländern festzustellen ist eine Aufgabe, die nicht nur die an Austausch interessierten Eliten betrifft. Für die gesamte Bevölkerung diesseits und jenseits der Grenze kann
49 Vgl. Tomáš Kostelecký/Alena Nedomová: Czech National Identity – Basic Results of National
Survey. Prague 1996.
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Interesse an der Vergangenheit vorausgesetzt werden, da sich Geschichte hier deutlich
manifestiert (Feldzüge, Reiseberichte bedeutender Persönlichkeiten, Grenzziehungen,
Festspiele).
Wenn Émile Durkheim das Geschichtsbewusstsein als geistiges Band einer Gemeinschaft bezeichnet, dann meint er vor allem die moralischen und rechtlichen Regeln, Traditionen und Bräuche, die eine Identität bilden.50 Da die entsprechenden Geschichtsvorstellungen immer von der eigenen Gruppe entworfen werden und die Individuen stets dazu neigten, in sozialen und ideologischen „Wir“-Gruppen zu denken,
kann ebenfalls von einem Identitätsbewusstsein gesprochen werden. Diese geteilten
Erfahrungen unterliegen zwar Veränderungen, sie garantieren allerdings eine gewisse
Einheit oder Ähnlichkeit, die an Grenzen als Abgrenzungselemente gelten (ingroupoutgroup). Sie sind aber nur dann Element des historischen Bewusstseins, wenn jenes
„Wir“ im zeitlichen Kontext gesehen wird, also wenn Verweise auf vergangene Handlungen und Ereignisse der Wir-Gruppe gemacht werden. Außerdem haben die betreffenden Aussagen darüber letztlich nicht zwangsläu? g etwas mit der Identität zu tun.
Denn erst wenn man sich einer Gruppe als zugehörig fühlt, also zusätzlich ein Zugehörigkeitsbewusstsein entsteht, ist von Identität zu sprechen. Erst dann, wenn man
glaubt, dass Geschichte gebraucht wird, um sich selbst zu de? nieren, wird sie wichtig.
„Innerhalb der natürlichen, d.h. den einzelnen Individuen vorgegebenen (wenn auch
historisch entstandenen) sozialen Kollektiven (Nation, Sprachgemeinschaft, Kultur,
Religion, Schicht und Klasse) suchen wir uns historisch-erinnernd sozialgeschichtlicher, mentalitätsgeschichtlicher und ideologischer Vorfahren zu vergewissern. Indem
wir uns als deren Nachfahren betrachten, begründen wir unsere historische Identität.
In diesem Wir-Bewusstsein konstituieren wir gleichzeitig auch die Anderen.“51 Anders
ausgedrückt: Die ethnische und nationale Identität einer jeden Nation ist auf dem Wissen um das historische Erbe und das Bewusstsein von einer nationalen Geschichte
aufgebaut. Die Erfahrungen der Vergangenheit sollen Hilfestellung für Gegenwart und
Zukunft sein. Identi? zierung ist allerdings gleichzeitig Distanzierung von den anderen
(fremden) sozialen Kollektiven.52 Eine meiner Fragen befasst sich freilich auch mit
dem übernationalen Wissen und damit, ob gemeinsame historische Erfahrungen auf
eine gewisse Identität beiderseits der Grenze verweisen könnten.
Das politische Bewusstsein, das ich hier anschließen will, bedeutet wiederum synonym das Herrschaftsbewusstsein. Es bezeichnet die Tatsache, dass Gesellschaften
durch Herrschaft geordnet sind. Dieses weitere Strukturmoment innerhalb des Geschichtsbewusstseins ist deshalb nicht als Staatsangehörigkeitsprinzip zu verstehen,
sondern als von „oben“ nach „unten“ geordnetes System, das durch Orientierungsphänomene (wie Staatshymne, National? agge usw.) die Angehörigen einer sozialen Grup-
50 Vgl. Émile Durkheim: Über die Teilung der sozialen Arbeit. Frankfurt a.M. 1991.
51 Jörg Rüsen/Friedrich Jaeger (Fn. 47), S. 408.
52 Siehe Alois Wierlacher: Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. München 1993. Für die Herausbildung einer Wir-Gruppe ist
die Existenz von Fremdbildern bedeutend, denn sie hilft, die eigene Identität zu schaffen und zu
festigen.
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pe verbindet. Das Bewusstsein, dass gesellschaftliche Verhältnisse von Machtverhältnissen durchdrungen sind,53 soll in dieser Untersuchung insofern zum Thema werden,
als zu fragen ist, welche geschichtsbestimmenden Personen (Politiker, Philosophen,
Literaten, Er? nder usw.) meine Interviewpartner im bayerisch-böhmischen Grenzraum als bedeutend für die Geschichte ihrer Nation und die Etablierung der nationalen
Identität ansahen und welche geschichtsspezi? schen Ereignisse (Revolutionen, Kriege, kulturelle, wirtschaftliche Akte usw.) von ihnen re? ektiert wurden und in welchen
Zusammenhängen.
Beschäftigt man sich mit dem Geschichtsbewusstsein und ganz allgemein mit den
Vergangenheitsdiskursen, kann auch das ökonomisch-soziale Bewusstsein der Interviewpartner nicht übersehen werden. Sowohl die tschechische wie die deutsche Nation – betrachtet als soziale Kollektive – sind durch soziale Unterschiede determiniert.
Es gibt historisch gesehen gleich mehrere Möglichkeiten dieser Strati? kation, sei es
nach Stand, Ausbildung, Intelligenzgrad, Ethnizität, Besitztum. Für die Erhebung im
bayerisch-böhmischen Grenzgebiet bieten sich einige Aspekte an – zum Beispiel, welche soziale und ökonomische Gruppen der Bevölkerung positive oder negative Einstellungen gegenüber dem Anderen aufweisen, bei welchen sozialen Gruppen öfter
historische Mythen oder kollektiv geteilte Vorurteile vorkommen, egal ob es sich um
Autostereotypen oder Heterostereotypen handelt.
Spiegelt sich in den Vergangenheitsdiskursen das Geschichtsbewusstsein wider, so
geschieht es immer in einer wertenden Weise. Denkt man über die historischen Ereignisse nach, dann beurteilen wir sie und schätzen sie ein. Es gibt eine wertende Bezugnahme auf historische Ereignisse. Die Aussiedlung der Sudetendeutschen zum Beispiel betrachten die Tschechen und Deutsche zwar aus jeweils anderen Blickwinkeln,
in jeder ihrer Auffassungen versteckt sich jedoch ein Urteil. Dieses bildet wiederum
die Grundlage des moralischen Bewusstseins.54 Es ist in jedem der Vergangenheitsdiskurse mit enthalten.
„Wie die Gedächtniskunst zum Lernen, so gehört die Erinnerungskultur zum Planen und Hoffen, d.h. zur Ausbildung sozialer Sinn- und Zeithorizonte.“55 In der Erinnerung wird zwar Vergangenheit rekonstruiert, doch damit man sich auf sie beziehen
kann, muss sie als solche ins Bewusstsein treten. Jan Assmann geht hier von zwei
Speicherungsformen aus. Sie darf nicht nur zum Gestern werden, sondern muss Zeugnisse hinterlassen. Diese müssen heute Geltung haben, also vergegenwärtigt werden.
Die Erinnerungskultur ist als Gesamtheit des nicht (nur) spezi? sch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit zu bezeichnen, von der Geschichtsdarstellung in den Museen und Ausstellungen, den Gedenkreden, der Denkmalp? ege bis zu Filmen, Dokumenten und weiteren Fernseh-Infotainmenten. Im Zusammenhang der relevanten Formen der Vergegenwärtigung von Vergangenheit ist sie
ein weiteres Untersuchungsfeld dieser Arbeit, denn sie prägt das Selbstverständnis und
53 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Köln/Berlin 1964.
54 Vgl. Jürgen Habermas: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a.M. 1983.
55 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen. München 1997, S. 31.
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das kulturelle Gedächtnis einer sozialen Gruppe. Heute strebt Erinnerung nach Verdinglichung und Visualisierung, die beide medienwirksam sind.56 Es entstehen Gedenktafeln und Denkmäler, die geschehenes Unrecht festhalten. Jede Kultur hat für
diese Vergegenständlichung der Geschichte einen eigenen großen Erinnerungshaushalt, eine Gesamtheit von Gedächtnisformen, das heißt Repräsentationen der Vergangenheit, die die Geschichte verdinglichten. Die Erinnerungskultur hilft uns dabei, eine
Art und Weise zu suchen, wie man eigene Erinnerungen organisieren soll. In sozialen
Kollektiven kann man dann mit ihrer Hilfe bestimmen, was gedächtnisrelevant ist und
was nicht. Es ist die Einbettung der Interaktion von individuellen Erzählungen und
kollektiven Stilisierungen in längerfristige Überlieferungen.57
Der Mensch als historisches Wesen hat also eine Beziehung zu den vergangenen
Ereignissen; er weiß von ihnen und weiß außerdem davon, dass er es weiß. Was er
nicht weiß, ist eigentlich auch nicht geschehen. „Die Geschichte ist nicht nur dort, wo
es res gestae gibt, sondern auch dort, wo es historia rerum gestarum gibt – also in Bewusstsein dessen, was passiert ist, im Einblick und Verständnis [...].“58 Der Weg zu
diesem Einblick in die Geschichte und das metakommunikative Verständnis stellen die
„Produkte“ der Erinnerungskultur dar. Es sind Erinnerungsorte, Denkmäler, historische Bauten usw. als Visualisierung des Gedächtnisses. Darin liegen ihre Bedeutungen, denn die Menschen können über sie die sichtbare Seite der Geschichte erfahren.
Die Erinnerungskultur stellt somit einen unentbehrlichen Bestandteil der Vergangenheitsdiskurse dar.
Die Gedächtnisorte als eine der Erscheinungsformen der Erinnerungskultur sind,
um es mit Pierre Nora zu sagen, Manifestationen einer vergangenen Zeit und zugleich
Anknüpfungspunkte der gegenwärtigen Erinnerungsarbeit, die deswegen erforderlich
werden, weil sich die lebendigen, über die Generationenfolgen erstreckenden und über
Zeitbrüche hinweg fortsetzenden Erinnerungs- und Erzählgemeinschaften au? ösen
und neue entstehen.59 Peter Reichel bezeichnet sie als „ästhetisch-politisches Handlungsfeld“ einer Erinnerungskultur.60 In diesem Zusammenhang stellt sich trotzdem
die Frage, was eigentlich ein Gedächtnisort ist. Sind es Gegenstände, die von den vorherigen Generationen angehäuft und verehrt werden und mit denen sich handeln und
manipulieren lässt? Besucht man sie etwa als Stapelplatz von ohnehin verehrten Din-
56 Vgl. Jürgen Wilke: Geschichte als Instrument der Medien, in: Die Politische Meinung 364
(2000), S. 27-30.
57 Vgl. Konrad Jarausch: Zeitgeschichte und Erinnerung. Deutungskompetenz oder Interdependenz? In: ders./Martin Sabrow (Hrsg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Kon? ikt. Frankfurt a.M. 2002, S. 5-37, hier S. 14.
58 Vgl. Jaroslava Pešková: Role v?domí v d?jinách a jiné eseje [Die Rolle des Bewusstseins in der
Geschichte und andere Essays], Prag 1997, S. 34.
59 Vgl. Pierre Nora: Génération, in: ders. (Hrsg.): Les Lieux de Mémoire. Paris 1992. – Heinz
Bude: Die Erinnerung der Generationen, in: Helmut König/Michael Kohlstruck/Andreas Wöll
(Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Sonderheft 18. Opladen 1998, S. 69-85.
60 Vgl. Peter Reichel: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit. München/Wien 1995.
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gen, oder sind sie aus anderen Gründen für unseren Erinnerungshaushalt von Bedeutung? Ein Gedächtnisort ist ähnlich einem Denkmal nicht nur etwas Sehenswertes (ein
Gedächtnis in Stein), sondern auch ein spezi? scher Ausdruck des menschlichen Daseins. Er fungiert als Stütze der individuellen und kollektiven Erinnerung.
In beiden Ländern, Deutschland und Tschechien, ? nden sich viele dieser Gedächtnisorte. Die Exzesse der beiden totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts, die den
Massenmord an Millionen von Menschen zur Folge hatten, veränderten nicht nur die
Welt, sondern auch die nationale historische Erinnerung.61 In der Erinnerungskultur in
Deutschland des zwanzigsten wie des jetzigen Jahrhunderts dominiert nicht eine positiv
bewertete Erinnerung, sondern eine negative. „Die Gedächtnisorte sind (jedenfalls bis
zum Zusammenbruch der Diktaturen kommunistischer Provenienz) keine Freiheitsstatuen oder Orte mehr, an denen Freiheit und Menschenrechte erkämpft wurden, sondern
an denen sie auf schaurige Weise mit Füßen getreten wurden.“62 Sie spiegeln die Vielfältigkeit des Schreckens wider, ohne dass man sie deshalb dem Vorwurf der Relativierung aussetzen sollte. Denkmäler stiften nämlich auch Zusammenhang und Anknüpfung, sie werden zum Zeichen des Fragens, vielleicht zum Anlass für Antworten und
zur Deutung von Vergangenheit über Generationen hinweg. Sie dienen nicht mehr der
Verherrlichung der vergangenen historischen Ereignisse, sondern sind vielmehr auch
ein Gedenken der Opfer und Grausamkeiten von Schreckensherrschaften.
Im bayerisch-böhmischen Grenzraum verschwanden viele dieser Gedächtnisorte im
Rahmen der kommunistischen Geschichtsverschiebung. Deshalb sind wir heute Zeugen einer gewissen Renaissance von verschiedenen Denkmälern, Grabmälern, von Restaurationen oder Neugestaltungen von Gedenktafeln, Sanierungen von Kirchen und
Kapellen, die uns dabei behil? ich sein können, Geschichte auf neue Weise zum Sprechen zu bringen, und zwar nicht nur af? rmativ, sondern ebenfalls kritisch und in re? exiver Distanz.63 An der Rezeptionsgeschichte von Denkmälern lässt sich außerdem
einprägsam der geschichtliche Wandel kultureller Leitbilder und Identitäten rekonstruieren. Diese Gedächtnisorte und die mit ihnen verbundenen Kulte und Rituale des Gedenkens, die der Herstellung einer sinnvollen Beziehung zwischen als besonders bedeutend empfundenen vergangenen Ereignissen oder Personen aus der Vergangenheit
dienen, erinnern oft auch an Geschichte und die Klippen des deutsch-tschechischen
Zusammenlebens. Deshalb war es weiterhin eines der Ziele meiner Arbeit festzustellen,
ob die Interviewpartner die Gedächtnisorte in ihrer Heimatregion kennen, ob sie sie
besuchen und welche persönlichen Erfahrungen sie mit ihnen verbinden. Ich stellte
auch aktuelle Fragen wie zum Beispiel nach dem „Zentrum gegen Vertreibungen“.
Eine weitere Form des Zugriffs auf die Erinnerungskultur eines Staates stellen die
Museen, Ausstellungen und Archive dar, als Sammelorte für die Überreste der Vergangenheit, die auf dieser Art und Weise bewahrt, wieder aufbereitet und vor allem öffent-
61 Vgl. Horst Möller: Erinnerung(en), Geschichte, Identität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte.
Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 28 (2001), S. 8-14.
62 Ebd., S. 9.
63 Vgl. John R. Gillis (Hrsg.): Commemorations. The Politics of National Identity. Princeton
1994.
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lich zugänglich gemacht werden.64 Zwischen Deutschland und Tschechien besteht
dabei eine rege Zusammenarbeit meistens in Form von verschiedenen Schulprojekten,
die die historischen Grenzen überschreitenden Ereignisse thematisieren. Im Grenzraum entsteht langsam und mühsam ein merkwürdiger Ver? echtungsraum von Institutionen, der eine solide Basis für die Vergangenheitsdiskurse darstellt.
Zu den Elementen der Erinnerungskultur gehören auch die jährlich wiederkehrenden Gedenktage wie die Jubiläen von verschiedenen historisch bedeutenden Persönlichkeiten, Feierlichkeiten und Traditionen, die regelmäßig in unterschiedlichen Formen des kollektiven Gedächtnisses und der Vergangenheitsdiskurse erinnert werden.
Das kollektive Gedächtnis erstarrt einerseits infolge der Institutionalisierung in Form
der Gedenktage, andererseits durch die Manifestation der Gruppenidentität in feierlichen Ritualen, wie zum Beispiel die das kollektive Gedächtnis massenhaft prägenden
Aktionen der Umzüge zum 1. Mai in der kommunistischen Tschechoslowakei bezeugten. Die politischen Träger der Macht verlangten die Teilnahme an Feiern zu verschiedenen „denkwürdigen“ Ereignissen. Sie spielten nicht nur ihre politische und gesellschaftliche Macht aus, sondern eroberten sich auch das Gedächtnis.
2.2 Vergangenheitsdiskurs und Vergangenheitsbewältigung
Als fester Terminus hat sich „Vergangenheitsbewältigung“ vor allem in der Bundesrepublik Deutschland eingebürgert, und zwar wegen der Aufarbeitung der katastrophalen Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus.65 Dabei ist sich eine Reihe von
Autoren bewusst, dass die Vergangenheit nicht ungeschehen zu machen und dass
daher ihre „Bewältigung“ äußerst schwierig zu sein scheint.66 Zugleich herrscht
Uneinigkeit über den tatsächlichen Gehalt der Begrif? ichkeiten, die sich auf der semantischen Ebene in unterschiedlichsten Bezeichnungen wie Geschichts-, Vergangenheits- oder Erinnerungspolitik, Umgang mit der belasteten Vergangenheit, Geschichtsaufarbeitung, Aufarbeitung der Vergangenheit und Vergangenheitsbewältigung ausdrückt. Die jeweils verwendete Terminologie trifft bereits eine Vorentscheidung über
normative Implikationen, Ausdehnung und Gestaltung des Vorgangs. So ist zum Beispiel der Begriff „Umgang“ vergleichsweise neutral gewählt, während „bewältigen“
und „aufarbeiten“ sich hinsichtlich ihrer emotionalen Stärke deutlich unterscheiden
und verschiedene Assoziationen hervorrufen. Die „Bewältigung“ wirkt sprachlich persönlicher und belastender, „Aufarbeitung“ hingegen nüchtern und distanziert. Das, um
64 Vgl. Jörn Rüsen (Hrsg.): Geschichte sehen. Beiträge zur Ästhetik historischer Museen. Pfaffenweiler 1988.
65 Vgl. Michael Townson: The Linguistics of Vergangenheitsbewältigung, in: Roger Woods (Hrsg.):
Vergangenheitsbewältigung West und Ost. Birmingham 1989, S. 38-52.
66 Vgl. Eckhard Jesse: Umgang mit Vergangenheit, in: Werner Weidenfeld/Rudolf Korte (Hrsg.):
Handbuch zur deutschen Einheit. Frankfurt a.M./New York 1993, S. 648-655. - Peter Dudek:
„Vergangenheitsbewältigung“. Zur Problematik eines umstrittenen Begriffs, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte. B1-2 (1992), S. 44-53, hier 47.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In den deutsch-tschechischen Beziehungen spielt die Geschichte eine wichtige Rolle. Sie wird zum einen als Argument für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft benutzt, zum anderen aber auch als Waffe, um die andere Seite möglichst negativ darzustellen.
Die Arbeit untersucht an Hand eines qualitativen Datenmaterials die Funktion der Vergangenheitsdiskurse in der deutsch-tschechischen Nachbarschaft.