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auftretende neue Themen, vor allem über Kon? ikte der deutsch-tschechischen Geschichte, verlieren offensichtlich ihr negatives Ein? usspotential auf die Gestaltung der
gegenseitigen Nachbarschaft. Die Tschechen nehmen immer häu? ger deren positive
Effekte wahr, sei es die auf politischen Ausgleich bedachte Orientierung beider Diplomatien, sei es die sich ständig vertiefende grenzüberschreitende Zusammenarbeit.
Das hat eine günstigere Betrachtung der Qualität der Kontakte zur Folge.22
Auf der deutschen Seite liegt die erste Pilotuntersuchung zum Geschichtsbewusstsein der Grenzbewohner Bayerns ebenfalls bereits vor.23 Diese fasst in knapper Form
die Ergebnisse einer qualitativen regionalen Erhebung zusammen. Außerdem möchte
ich auf das Projekt „Border Identities“24 hinweisen, in dessen Verlauf mit den qualitativen Methoden der Sozialforschung die diskursive Konstruktion von Identitäten in
Grenzregionen entlang der Ost- und Südostgrenze der EU sowie die Selbst- und
Fremdbilder der Menschen am ehemaligen Eisernen Vorhang untersucht wurden.25
Aus dem oben Angeführten geht einerseits hervor, dass die im zweiten Teil meiner
Arbeit dargestellte qualitative Erhebung eine Forschungslücke schließen will, da im
bayerisch-böhmischen Grenzraum noch keine umfangreiche Befragung zur Vergangenheit durchgeführt wurde. Andererseits gibt es zwar vor allem aus dem tschechischen Grenzraum ein umfassendes quantitatives Datenmaterial zur Erforschung von
Einstellungen der Bürger: jedoch fehlen bisher Erkenntnisse aus der Anwendung qualitativer soziologischer und politikwissenschaftlicher Methoden, die interdisziplinär
ausgewertet und interpretiert werden müssten.
1.3 Aufbau
Die Arbeit gliedert sich in einen theoretischen Teil, der das methodische Gerüst für die
späteren Schritte und seine Anwendung auf die Vergangenheitsdiskurse von Deutschen und Tschechen zu den Ereignissen des 20. Jahrhunderts festlegt. Im zweiten
Kapitel wird die theoretische Erkundung des Themenkomplexes „Vergangenheitsdiskurs“ vorgestellt. Dabei werden das zugrunde liegende Konzept erörtert und eine erste de? nitorische Annäherung an die Thematik geliefert. Die daran anschließenden
ausführlichen theoretischen Überlegungen zu Begriffen „Geschichtsbewusstsein“ und
22 Vgl. Lukáš Novotný: Unsere Deutschen? Einstellungen in den tschechischen Grenzgebieten zur
deutsch-tschechischen Vergangenheit, in: Brücken 14. Germanistisches Jahrbuch Tschechien-
Slowakei 2006. Prag 2006, S. 161-180.
23 Vgl. Michael Weigl/Michaela Zöhrer: Regionale Selbstverständnisse und gegenseitige Wahrnehmung von Deutschen und Tschechen. München 2005.
24 Vgl. Werner Holly: „You‘re half a Sudeten-German.“ Identity and Social Style in Ethnographic
Interviews of Three-generation Families at the German-Czech Border, in: Wolfgang Aschauer/
Ingrid Hudabiunigg (Hrsg.): Alteritätsdiskurse im sächsisch-tschechischen Grenzraum. Chemnitz, S. 65-71.
25 Vgl. Wolfgang Aschauer/Ingrid Hudabiunigg (Hrsg.): Alteritätsdiskurse im sächsisch-tschechischen Grenzraum. Chemnitz 2005.
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„Vergangenheitsbewältigung“, die Elemente der Vergangenheitsdiskurse darstellen,
erschließen einerseits Gesichtspunkte individueller und kollektiver Vergangenheitsdiskurse sowie für ihre empirische Erfassung geeignete Forschungsperspektiven, andererseits werden die Relevanz und Aktualität von Vergangenheitsdiskursen und Vergangenheitspolitik in politikwissenschaftlichen Zusammenhängen nachgewiesen. Für
meine Zielsetzungen erscheint vor allem die theoretische Darlegung der Grenze und
der Alteritätserfahrung als wichtig.26 Dieser Überbau bildet im Hinblick auf die historische Darstellung von Vergangenheitsdiskursen in Deutschland und in der Tschechischen Republik und bei der empirischen Untersuchung eine unentbehrliche Grundlage.
Die folgenden sieben Kapitel (drei bis neun) beschreiben die historischen Entwicklungen der deutsch-tschechischen Symbiose mit dem Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert. Angesichts der mehr als 800 Jahre dauernden Gemeinschaft auf dem Gebiet
der böhmischen Länder sind in ganz Europa keine zwei anderen Völker zu ? nden, die
sich einander gegenseitig so durchdrungen haben und damit einander so nahe stehen
wie gerade Deutsche und Tschechen. Ich betone dabei nur historische Meilensteine der
deutsch-tschechischen Beziehungen, insbesondere die Katastrophe zwischen 1938
und 1947. Denn die deutsch-tschechische Situation war nicht nur durch die deutsche
Gewalttat gegenüber den Tschechen – die Teilung des tausendjährigen Böhmens
(1938) – beein? usst, sondern auch von der Vertreibung der deutschen Bevölkerung der
böhmischen Länder aus ihrer Heimat geprägt. Ich möchte hier betonen, dass es mir
fern liegt, irgendeine Gleichsetzung zu verwenden, wenn ich mich der Geschichte dieser stürmischen zehn Jahre (1938-1947) zuwende. Tatsache ist, dass die Tschechoslowakei durch die deutsche Expansionspolitik als Staat in der Zeit 1938/39 zerschlagen
worden ist, dass dadurch die tschechische Bevölkerung von der Gefahr der beabsichtigten Auslöschung ihrer nationalen Existenz bedroht war und dass die jüdischen Bewohner des Landes weitgehend vernichtet wurden. Es besteht außerdem kein Zweifel
daran, dass die tschechoslowakischen Deutschen nach 1945 oft gewaltsam vertrieben,
vor allem zwangsweise ausgesiedelt worden sind – und dass diese Vorgänge viele Opfer kosteten sowie traumatische Erinnerungen, kontroverse Rechtsstandpunkte und
Misstrauen gegenüber den Anderen hinterließen. Sie sind bis heute wirksam, bilden
einen Bestandteil der historischen Identität bei (Sudeten-)Deutschen und Tschechen,
verursachen weiterhin problematische Wahrnehmungen von Asymmetrien in der Relation zwischen beiden Ländern und den Staatsbürgern.
Dazu biete ich als Ergänzung einen Überblick über das Zusammenleben von Deutschen und Tschechen in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit sowie über die
diametral entgegengesetzten außenpolitischen Konzeptionen beider Staaten in dieser
26 Die Untersuchung der Rolle der Grenze innerhalb der Vergangenheitsdiskurse war ursprünglich
nicht geplant. Da sie die Interviewpartner insbesondere in ihren Erinnerungen an den Kalten
Krieg oft erwähnt haben, wurden dieser Gesichtspunkt sowie die Stellung der jeweils Anderen
im Rahmen der „erinnerten“ Geschichte“ bei der Auswertung und Interpretation des Datenmaterials berücksichtigt.
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Zeit, die schließlich zur offensichtlichen Feindseligkeit und zum Münchener Abkommen, zum Triumph der „Versöhner“ und zur Politik des Appeasement geführt haben.
Ich widme mich dabei der aggressiven Politik des Dritten Reiches gegenüber der
Tschechoslowakei, außerdem der sogenannten Zweiten Republik und der sechsjährigen Existenz des Protektorats Böhmen und Mähren. Den eindeutigen Schlusspunkt
des deutsch-tschechischen Zusammenlebens in den böhmischen Ländern bedeutete
freilich die Vertreibung der Deutschen, die in mehreren Phasen verlief, angefangen bei
den spontanen wilden Vertreibungen in den ersten Nachkriegswochen bis hin zur organisierten Aussiedlung der tschechoslowakischen Deutschen.
Nach der sechsjährigen Existenz des Protektorats Böhmen und Mähren und der darauf folgenden Ausweisung der Deutschböhmen (Sudetendeutschen) schien es, als sei
das deutsch-tschechische Verhältnis an einem Endpunkt angelangt. Ähnlich wie man
von einer zweiten Geschichte des Nationalsozialismus spricht, ging auch nach der
Machtübernahme durch die Kommunisten in der Tschechoslowakei im Jahre 1948 und
nach der Gründung beider deutscher Staaten im Jahre 1949 die Geschichte der deutschtschechischen Kontakte weiter. Zu beschreiben ist hier ebenfalls die Entwicklung der
bilateralen Beziehungen in der Zeit des Kalten Krieges, also in einer Phase der gegenseitigen Distanzierung und Vorsicht. Vor 1990 besaßen beide Seiten überhaupt keine
Eigenständigkeit, sondern waren nur den sich wandelnden Formen der Verhältnisse
der zwei Militärpakte angepasst. Neben der allgemeinen Verschärfung der Lage behandle ich weitere Faktoren, hauptsächlich die Entstehung von Organisationen der
Vertriebenen und ihre Akzeptanz in Deutschland sowie in der Tschechoslowakei. Aus
der Sicht der Bewältigung der kon? iktbeladenen Vergangenheit wird freilich erst die
Zeit nach dem Zerfall des Kommunismus bedeutend, denn jetzt wurden gleich mehrere Zeichen des politischen Willens gesetzt, die zu einer wesentlichen Beruhigung der
bisher emotional zugespitzten Vergangenheitsdiskurse beigetragen haben. Außerdem
hat man ziemlich bald nach 1989 die politische und zwischenmenschliche Annäherung
für beide Länder eingeleitet. Diese Aktivitäten überwiegen in den Grenzgebieten, verstärken das Kooperationspotential beider Nachbarn und werden daher ebenfalls dargestellt. Aus der Begegnung der zwei Kulturen entstanden jedoch neue Probleme, die
gegenwärtig die Grenzbewohner beschäftigen und oft als Folge der Vergangenheitsdiskurse zu sehen sind.
Die weiteren Kapitel (zehn bis zwölf) beschäftigen sich mit einzelnen Phasen der
Vergangenheitsdiskurse in der Bundesrepublik und in der Tschechischen Republik seit
1918, mit ihrer Intention und Qualität sowie mit den moralischen, rechtlichen und politischen Gesichtspunkten. Denn die Art und Weise, wie man sich zur eigenen historischen Entwicklung und zur „gemeinsamen“ Geschichte stellt, beein? usst entscheidend die Identitätsbildung. Ich gehe dabei auf die Erkenntnisse aus der eigenen im
bayerisch-böhmischen Grenzraum der Euregio Egrensis durchgeführten Untersuchung
ein. Es werden Faktoren des Bewusstseins in Anbetracht der deutsch-tschechischen
Geschichte untersucht sowie die Art und Weise, wie beide Nationen die historischen
Ereignisse wahrnehmen und bewältigen.
Da jede Auseinandersetzung mit diesem Thema schließlich das gegenwärtige Handeln der Bürger beein? usst – man kann es mit Michel Foucault so formulieren: „Die
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Kontrolle des Gedächtnisses der Menschen ist Kontrolle ihrer Gegenwart“27 –, halte
ich die Einbeziehung des kommunikativen Gedächtnisses für einen Bestandteil der
Beschäftigung mit den Vergangenheitsdiskursen und der darauf beruhenden Politik.
Mit Hilfe von qualitativen Daten aus der eigenen Erhebung wird die Meinungsbildung
in beiden Ländern dargelegt. Es interessiert mich auch, wie sich die deutsch-tschechische Geschichte in der Erinnerungskultur manifestiert und wie dazu die Bürger stehen.
Außerdem befasse ich mich mit der Betrachtung des „Anderen“ sowie dem Stellenwert dieses „Anderen“ in der eigenen nationalen und historischen Identität. Die Art
und Weise zu berücksichtigen, wie die Interviewpartner an die historischen Ereignisse
zwischen Deutschen und Tschechen erinnern, erscheint deshalb als wichtig, weil die
Sprecher mittels Erinnerungen, Erlebnisse und Erzählungen erklären können, wer man
überhaupt kulturell und politisch ist.
Die Arbeit endet mit einer Schlussbetrachtung im Kapitel dreizehn. Sie wertet die
jeweiligen methodischen Wege im Hinblick auf deren Ergiebigkeit und die Vergleiche
der qualitativen wie quantitativen Struktur der Vergangenheitsdiskurse und Perzeptionsmuster aus, resümiert die wichtigsten Befunde, beantwortet die eingangs formulierten zentralen Forschungsfragen und leitet daraus schließlich einige weiterführende
Gesichtspunkte und Empfehlungen für den deutsch-tschechischen Dialog ab.
1.4 Methode und Untersuchungsdesign
Um dem Zielkatalog meiner Untersuchung gerecht zu werden, war ihre interdisziplinäre Ausrichtung– politikwissenschaftlich-historische Analyse einerseits, empirische
Sozialforschung andererseits – unerlässlich. Neben der Beschreibung der nationalen
(also deutschen und tschechischen) Vergangenheitsdiskurse nutze ich die Anwendung
qualitativer soziologischer und politikwissenschaftlicher Methoden für die Erforschung der im kulturellen wie auch im kommunikativen Gedächtnis erscheinenden
historischen Ereignisse der deutsch-tschechischen Beziehungen auf der regionalen
Ebene im bayerisch-böhmischen Grenzgebiet. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen die in Frage kommenden nationalen Komponenten, dargestellt werden jedoch
auch die für die Grenzregion relevanten Vergangenheitsdiskurse. Denn es besteht eine
direkte Verbindung zwischen dem gesamtstaatlichen Geschichts- und Mentalitätswandel und dem regionalen Selbstverständnis (nicht nur) der Menschen auf beiden Seiten
der deutsch-tschechischen Grenze.
Durch ein intensives Studium der wissenschaftlich relevanten Arbeiten sowie eines
breit gefächerten Quellenbestandes – Heimatliteratur und Presse – wurden die theoretischen Grundlagen der Studie gelegt und die inhaltlichen sowie strukturellen Entwicklungen der Diskurse zwischen Deutschen und Tschechen nachgezeichnet. Eine
sozialwissenschaftliche Datenrecherche – eigene qualitative Erhebung – diente dazu,
die aktuelle Widerspiegelung von Geschichte im kommunikativen Haushalt der Inter-
27 Michel Foucalt: Film and Popular History: An Interview with Michel Foucalt, in: Radical Philosophy 11 (1975), S. 24f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In den deutsch-tschechischen Beziehungen spielt die Geschichte eine wichtige Rolle. Sie wird zum einen als Argument für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft benutzt, zum anderen aber auch als Waffe, um die andere Seite möglichst negativ darzustellen.
Die Arbeit untersucht an Hand eines qualitativen Datenmaterials die Funktion der Vergangenheitsdiskurse in der deutsch-tschechischen Nachbarschaft.