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5. Teil:
Zusammenfassende Thesen
1. Die Vorstandsorganisation nach dem deutschen Aktienrecht unterliegt dem
Kollegialprinzip, das sich in die Grundsätze der Gleichberechtigung und Gesamtverantwortung gliedert. Alle Vorstandsmitglieder treffen damit die gleichen
Rechte und Pflichten. Dies scheint eine personalisierte Leitung, d. h. eine in besonderer Weise durch eine bestimmte Person geprägte Leitung der Aktiengesellschaft zu verhindern.
2. Das Gesetz stellt jedoch mehrere Personalisierungsmöglichkeiten zur Verfügung. So kann ein Ein-Mann-Vorstand geschaffen werden. Im mehrköpfigen Vorstand ist die Ernennung eines Vorstandsvorsitzenden oder eines Vorstandssprechers möglich. Schließlich bestehen bei der Kommanditgesellschaft auf Aktien
besondere Gestaltungsmöglichkeiten.
3. Von den genannten Möglichkeiten ist allein die Ernennung eines
Vorstandsvorsitzenden bzw. eines Vorstandssprechers praktisch relevant. Dem
Vorstandsvorsitzenden können bestimmte formelle Rechte eingeräumt werden.
So wird ihm üblicherweise die Koordination der Vorstandsarbeit, die Sitzungsleitung, der Kontakt zum Aufsichtsrat und dessen Vorsitzendem sowie die Repräsentation des Unternehmens nach außen in der Geschäftsordnung übertragen.
Eine sachliche Leitung in Form eines Weisungsrechts ist hingegen gem. § 77 Abs.
1 S. 2, 2. Alt. AktG ausgeschlossen. Dem Vorstandssprecher werden in der Praxis
dieselben Rechte eingeräumt. Dies erscheint trotz seiner mangelnden Erwähnung
im Gesetz zulässig.
4. Von größerer Bedeutung als die genannten formellen Aufgaben sind jedoch
die dadurch eröffneten informellen Einflussmöglichkeiten, die zu einer erheblichen faktischen Dominanz des Vorstandsvorsitzenden bzw. Vorstandssprechers
gegenüber den anderen Vorstandsmitgliedern führen. Daraus folgt eine inhaltliche Leitung der Vorstandsarbeit durch den Vorsitzenden bzw. Sprecher, die vom
Gesetz nicht vorgesehen ist.
5. Dennoch besteht keine Notwendigkeit zu einer Reform der gesetzlichen Regelungen. Vielmehr sind die Einbeziehung größeren Sachverstandes und die Gewährleistung einer gegenseitigen organinternen Kontrolle klare Vorteile des Kollegialprinzips, die im Rahmen des dualistischen Systems unverzichtbar sind.
Stattdessen sollte im Deutschen Corporate Governance Kodex eine Konkretisierung der Rolle des Vorstandsvorsitzenden/-sprechers vorgenommen werden, die
die zulässigen Grenzen einer personalisierten Leitung deutlicht macht.
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6. Die für die AG gemachten Aussagen lassen sich im Wesentlichen auf die
(deutsche) dualistische SE übertragen, weil die Vorgaben der SE-Verordnung für
das dualistische System denen des deutschen Aktienrechts ähneln und bei der
Ausübung der Ermächtigungen für den nationalen Gesetzgeber ein Gleichlaufs
mit dem bestehenden Recht angestrebt werden sollte. So folgt aus dem Mehrheitsprinzip bei der Beschlussfassung gem. Art. 50 Abs. 1 SE-VO die Geltung des
Kollegialprinzips für das Leitungsorgan. Auch in der dualistischen SE sind die
Schaffung eines Ein-Mann-Vorstands sowie die Ernennung eines Vorstandsvorsitzenden bzw. -sprechers möglich. In der Praxis ist in der dualistischen SE eine
faktische Dominanz des Vorsitzenden bzw. Sprechers zu erwarten. Die börsennotierte dualistische SE müsste aber etwaige Ergänzungen des Deutschen Corporate
Governance Kodex für die Vorstandsorganisation der AG ebenfalls beachten. Dagegen besteht kein Bedürfnis, Empfehlungen in den Kodex spezifisch für die dualistische SE aufzunehmen. Außerdem würden sie gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 10 SE-VO verstoßen.
7. In der (deutschen) monistischen SE bestehen hingegen schon nach der SE-
Verordnung völlig andere Personalisierungsmöglichkeiten. Der Verwaltungsrat
als ihr primäres Leitungsorgan ist wegen Art. 50 Abs. 1 SE-VO ebenfalls ein Kollegialorgan, für das die Grundsätze der Gleichberechtigung und Gesamtverantwortung sinngemäß gelten.
8. Zunächst kann durch die Schaffung eines Ein-Mann-Verwaltungsrats eine
personalisierte Leitung verwirklicht werden. Dies soll aber wegen § 40 Abs. 1 S.
2 SEAG nur bei gleichzeitiger Ernennung eines externen geschäftsführenden Direktors zulässig sein und wird voraussichtlich von keiner großen praktischen Bedeutung sein.
9. Eine zentrale Rolle bei der Unternehmensleitung kommt dem Vorsitzenden
des Verwaltungsrats zu, der gem. Art. 45 S. 1 SE-VO zwingend zu ernennen ist.
Er hat eine dem Vorstandsvorsitzenden vergleichbare Koordinationsfunktion für
den Verwaltungsrat mit entsprechenden formellen Rechten. Faktisch werden ihm
damit ebenfalls informelle Einflussmöglichkeiten eröffnet, durch die er die Entscheidungen des Verwaltungsrats maßgeblich vorprägen kann. Ihm obliegt auch
in besonderer Weise die Kontrolle des leitenden geschäftsführenden Direktors.
10. Ein größeres Personalisierungspotenzial besteht im Bereich der
Geschäftsführung. Für die geschäftsführenden Direktoren, die als Delegierte des
Verwaltungsrats die Leitung des Tagesgeschäfts wahrnehmen, schreibt nämlich
weder die SE-Verordnung noch das deutsche SE-Ausführungsgesetz eine bestimmte Organisationsform vor. Es ist zu erwarten, dass die meisten Gesellschaften wie in den anderen monistischen Ländern eine direktoriale statt einer kollegialen Organisation mit einem weisungsberechtigten leitenden geschäftsführenden Direktor an der Spitze wählen. In diesem Fall hat der leitende geschäftsfüh-
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rende Direktor durch sein Alleinentscheidungsrecht eine deutlich überlegene
Stellung gegenüber den anderen Direktoren.
11. Die Erfahrungen in den USA, England und Frankreich lassen vermuten, dass
ein solcher leitender geschäftsführender Direktor in der Praxis das Verwaltungsorgan dominieren und eine übermächtige Stellung in der gesamten
Unternehmensleitung erlangen wird. Der deutsche Gesetzgeber musste daher bei
der Ausgestaltung der monistischen SE von Anfang an die Regelungen und Empfehlungen berücksichtigen, die in den genannten Ländern zur Stärkung des Verwaltungsorgans erlassen wurden. Darüber hinaus sind aber auch spezifisch für die
monistische SE geltende Empfehlungen im Deutschen Corporate Governance
Kodex vorzusehen.
12. Zur Begrenzung der Rolle des leitenden geschäftsführenden Direktors erscheint es insbesondere notwendig, im Deutschen Corporate Governance Kodex
die Kontrollfunktion des Verwaltungsrats zu betonen und die Errichtung eines
Personal- und Vergütungsausschusses sowie eine Mindestanzahl unabhängiger
Verwaltungsratsmitglieder zu empfehlen. Die personelle Trennung von Verwaltungsratsvorsitzendem und leitendem geschäftsführenden Direktor sollte für die
börsennotierte SE im SE-Ausführungsgesetz vorgegeben werden.
13. Trotz dieser Maßnahmen wird der leitende geschäftsführende Direktor die
bestimmende Figur in der Unternehmensleitung der SE werden und über größere
Macht als der Vorstandsvorsitzende verfügen. Die Praxis wird zeigen, ob dies in
der deutschen monistischen SE zu einer effektiveren Unternehmensleitung führt
und deshalb zukünftig die allgemeine Einführung des monistischen Systems in
Deutschland empfehlenswert ist.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie analysiert die Personalisierungsmöglichkeiten für eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland. Untersucht werden sowohl die klassische Aktiengesellschaft als auch die seit 2004 mögliche Europäische Aktiengesellschaft (SE).
Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine Systematisierung des Kollegialprinzips sowie der bereits im Gesetz angelegten Personalisierungsmöglichkeiten, wie der Vorstandsvorsitzende und der Vorstandssprecher. Sodann wird erörtert, auf welchen Faktoren deren faktische Macht beruht und wo die gesetzlichen Grenzen liegen. Daraus leitet die Autorin ab, ob die bestehenden gesetzlichen Regeln noch angemessen sind.
Darüber hinaus werden die Personalisierungsmöglichkeiten bei einer Europäischen Aktiengesellschaft (mit Sitz in Deutschland) aufgezeigt, und zwar zunächst für eine SE mit dem sogenannten dualistischen Leitungssystem. Für die SE mit monistischem System untersucht die Autorin rechtsvergleichend, inwieweit die Regelungen des deutschen SE-Ausführungsgesetzes bestehenden Corporate Governance-Grundsätzen entsprechen. Außerdem schlägt sie Regelungen über die monistische SE zur Aufnahme im Deutschen Corporate Governance Kodex vor.