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Für eine solche Betrachtung spricht auch Art. 50 Abs. 2 S. 2 SE-VO,560 der
bereits für die Ablehnung eines Alleinentscheidungsrechts herangezogen wurde.
Nach dieser Vorschrift ist das Recht zum Stichtentscheid nicht nur Mindest-, sondern auch Obergrenze eines Sonderrechts des Aufsichtsorgansvorsitzenden bei
der Beschlussfassung. Ihm kann kein darüber hinausgehendes Recht wie ein
Vetorecht eingeräumt werden. Daher kann der Vorstandsvorsitzenden erst recht
über kein Vetorecht verfügen. Dagegen wird man ein suspensives Vetorecht, d.h
eine Vertagungsbefugnis, ebenso wie bei der AG zulassen müssen.
c) Faktische Machtstellung
Bei der AG entfaltet der Vorstandsvorsitzende seine eigentliche Bedeutung erst
aufgrund seiner faktischen Machtstellung. Zwar gibt es noch keine praktischen
Erfahrungen mit dem Vorsitzenden in der dualistischen SE, jedoch ist hier eine
ähnliche Entwicklung wie bei der AG zu erwarten. Die dargestellten Regelungen
der SE-VO, die größtenteils denen des Aktiengesetzes entsprechen oder zumindest im Ergebnis dieselben Auswirkungen haben, zeichnen insofern keine Besonderheiten in der faktischen Stellung des Vorstandsvorsitzenden vor. Hinsichtlich
der Zulässigkeit dieser faktischen Stärkung des Vorsitzenden gelten ebenfalls die
oben herausgearbeiteten Grenzen, d. h. die Grundsätze der Gleichberechtigung
und der Gesamtverantwortung.
Werden die oben empfohlenen ergänzenden Regelungen zum Kollegialprinzip
in den Deutschen Corporate Governance Kodex aufgenommen, so würden diese
Regelungen ebenfalls auf den Vorstandsvorsitzenden in der dualistischen SE
Anwendung finden, weil Art. 9 Abs. 1 lit. c) ii) SE-VO auch auf § 161 AktG verweist.561 Für besondere Kodex-Regelungen über die dualistische SE besteht
weder ein Bedürfnis noch wären sie wegen des Diskriminierungsverbots gem.
Art. 10 SE-VO überhaupt zulässig.
IV. »Sprecher« des Leitungsorgans
Ein »Sprecher« des Leitungsorgans ist in der Verordnung ebensowenig wie im
Aktiengesetz vorgesehen. § 77 Abs. 2 AktG, aus dem die Zulässigkeit des Vorstandssprechers im deutschen Aktienrecht hergeleitet wird, gilt jedoch gem. Art.
9 Abs. 1 lit. c) ii) SE-VO auch für die dualistische SE. Dennoch könnten an der
Möglichkeit eines Vorstandssprechers in der dualistischen SE Zweifel bestehen,
weil es sich zum einen um eine deutsche Besonderheit handelt, die nicht zu einer
560 Teichmann, in: Hommelhoff/Lutter, SE-Komm, Art. 50 Rn 25 meint, ein Vetorecht könne
zwar nicht aus Art. 50 Abs. 2 S. 1 SE-VO, aber aus der allgemeinen Satzungsermächtigung
des Art. 50 Abs. 1 SE-VO hergeleitet werden.
561 Vgl. Hoffmann-Becking, ZGR 2004, 355 (364).
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supranationalen Rechtsform passt. Zum anderen deutet Art. 50 SE-VO an, dass
grundlegende Organisationsfragen in der Satzung und nicht in der Geschäftsordnung zu regeln sind. Dies spricht gegen eine Rechtsfigur, die nur auf der Geschäftsordnungskompetenz beruht, faktisch aber die gleichen Rechte wie ein Vorstandsvorsitzender hat.
Diese Zweifel lassen sich jedoch bei näherer Betrachtung widerlegen. Inwieweit nationale Besonderheiten bzw. nationales Recht für die SE gelten, regelt
allein Art. 9 SE-VO. Insofern ist die Anwendung des § 77 Abs. 2 AktG für alle
Geschäftsordnungsfragen außerhalb des Art. 50 SE-VO unumgänglich. Ungeachtet der faktischen Stellung des Vorstandssprechers beruht seine Zulässigkeit noch
immer rechtlich auf § 77 Abs. 3 AktG. Insofern ist er eindeutig eine Geschäftsordnungsfrage im Sinne des Art. 50 SE-VO. Für seine Zulässigkeit in der dualistischen SE spricht das Diskriminierungsverbot des Art. 10 SE-VO.
Es bedarf zur Bestellung eines Vorstandssprechers anders als beim Vorstandsvorsitzenden auch nicht notwendigerweise einer Regelung in der Satzung. Vielmehr reicht eine Regelung in der Geschäftsordnung gem. Art. 9 Abs. 1 lit. c) ii)
SE-VO i. V. m. § 77 Abs. 2 AktG aus. Eine Schaffung dieser Position in der Satzung ist wahlweise trotz des geltenden Grundsatzes der Satzungsstrenge562 möglich, weil die Ernennung des Vorstandssprechers der Regelung der Beschlussfassung dient, die gem. Art. 50 Abs. 2 S. 1 SE-VO in der Satzung festgelegt werden
kann.
Die Privilegierung des Art. 50 Abs. 2 S. 1 SE-VO gilt aber selbstverständlich
nicht für den Vorstandssprecher.563 Das Recht zum Stichentscheid kann ihm
jedoch in der Satzung gesondert eingeräumt werden. In diesem Fall müsste die
grundsätzliche Möglichkeit eines Vorstandssprechers bereits in der Satzung festgelegt werden, auch wenn ansonsten die Geschäftsordnung ausreichend ist.
Andererseits kann in der Satzung nicht festgelegt werden, dass ein Vorstandssprecher ernannt werden muss, weil dies die Kompetenz des Aufsichtsrats zur
Bestellung eines Vorstandsvorsitzenden aus § 84 Abs. 2 AktG verletzen würde.564
Auch Art. 50 Abs. 2 S. 1 SE-VO vermag sich darüber nicht hinwegzusetzen, da
er allein die Beschlussfassung regelt. Die Satzung kann somit nur bestimmen,
dass ein Vorstandssprecher ernannt werden kann und dieser dann das Recht zum
Stichentscheid hat, soweit der Aufsichtsrat keinen Vorstandsvorsitzenden ernannt
hat. Dieses etwas umständliche Vorgehen resultiert daraus, dass der Verordnungsgeber die Möglichkeit eines Vorstandssprechers bei der Ausarbeitung nicht
berücksichtigt hat.
Hält man es nach deutschem Recht für zulässig, dass dem Vorstandssprecher
dieselben formellen und informellen Rechte wie dem Vorstandsvorsitzenden eingeräumt werden, so muss dies auch für den Vorstandssprecher in der dualistischen
SE gelten. Der Vorstandssprecher hat daher in der dualistischen SE im Wesentlichen dieselbe Stellung wie in der Aktiengesellschaft.
562 Siehe oben 3. Teil A.II.3.
563 Drinhausen/Van Hulle/Maul, HdB Europäische Gesellschaft, S. 126.
564 Siehe oben 2. Teil A.II.3.b).
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Für die besonderen Gestaltungsmöglichkeiten der KGaA im deutschen Recht
gibt es dagegen keine Entsprechung bei der SE, weil die SE eine Aktiengesellschaft ist565 und die KGaA sich überdies an den meisten Gründungsformen der SE
nicht beteiligen kann.566
D. Zusammenfassung
Die dualistische SE unterliegt im Wesentlichen den gleichen Regelungen wie die
nationale AG. Die Geltung des Kollegialprinzips für den Vorstand in der dualistischen SE ist aus Art. 39 Abs. 1 S. 1, Art. 50 Abs. 1 u. 2 SE-VO sowie aus den
subsidiär geltenden §§ 76-78 AktG abzuleiten. Geringfügige Abweichungen gegenüber dem deutschen Recht bestehen insofern, als in der SE-Verordnung das
Mehrheitsprinzip statt des Einstimmigkeitsprinzips sowie der Stichentscheid des
Vorsitzenden für die Beschlussfassung vorgesehen und eine Abbedingung dieser
Regelungen nur in der Satzung möglich ist.
Die Personalisierungsmöglichkeiten ähneln ebenfalls denen der AG. So ist ein
Ein-Mann-Vorstand zulässig, und zwar nach der hier vertretenen Auffassung auch
in einer Aktiengesellschaft mit mehr als 2000 Arbeitnehmern, weil es in der dualistischen SE trotz § 38 Abs. 2 SEBG keinen Arbeitsdirektor geben kann. Daneben kann auch ein Vorstandsvorsitzender oder Vorstandssprecher geschaffen werden. Für diese beiden wichtigsten Personalisierungsmöglichkeiten gelten im
Wesentlichen die für die AG gemachten Aussagen. Keine Bedeutung für die deutsche dualistische SE erlangt hingegen die Bestellung von Geschäftsführern gem.
Art. 39 Abs. 1 S. 1 SE-VO.
Daher eröffnet die dualistische SE insgesamt keine weiterreichenden Personalisierungsmöglichkeiten im Vergleich zur AG. Dies war aufgrund der Ähnlichkeit
beider Rechtsformen auch nicht zu erwarten. Die im folgenden zu behandelnde
monistische SE hat dagegen kein Vorbild im deutschen Recht.
565 Art. 1 Abs. 2 SE-VO.
566 Die KGaA kann nicht an der Gründung einer Verschmelzungs-SE oder Holding-SE teilnehmen, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Anhang I SE-VO bzw. Art. 2 Abs. 2 i. V. m. Anhang II SE-
VO. Sie kann sich aber an der Gründung einer Tocher-SE gem. Art. 2 Abs. 3 SE-VO beteiligen. Dagegen dürfte sie nicht für eine Umwandlungs-SE gem. Art. 2 Abs. 4 SE-VO in
Betracht kommen, auch wenn die Aktiengesellschaft im Sinne des Art. 2 Abs. 4 SE-VO
nicht über Anhang I definiert wird.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie analysiert die Personalisierungsmöglichkeiten für eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland. Untersucht werden sowohl die klassische Aktiengesellschaft als auch die seit 2004 mögliche Europäische Aktiengesellschaft (SE).
Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine Systematisierung des Kollegialprinzips sowie der bereits im Gesetz angelegten Personalisierungsmöglichkeiten, wie der Vorstandsvorsitzende und der Vorstandssprecher. Sodann wird erörtert, auf welchen Faktoren deren faktische Macht beruht und wo die gesetzlichen Grenzen liegen. Daraus leitet die Autorin ab, ob die bestehenden gesetzlichen Regeln noch angemessen sind.
Darüber hinaus werden die Personalisierungsmöglichkeiten bei einer Europäischen Aktiengesellschaft (mit Sitz in Deutschland) aufgezeigt, und zwar zunächst für eine SE mit dem sogenannten dualistischen Leitungssystem. Für die SE mit monistischem System untersucht die Autorin rechtsvergleichend, inwieweit die Regelungen des deutschen SE-Ausführungsgesetzes bestehenden Corporate Governance-Grundsätzen entsprechen. Außerdem schlägt sie Regelungen über die monistische SE zur Aufnahme im Deutschen Corporate Governance Kodex vor.