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gehenden Gleichlaufs mit den nationalen Begriffen499 ist abzulehnen, weil das
Verwaltungsorgan im monistischen System eine grundsätzlich andere Funktion
als der Vorstand erfüllt.500 Es ist nämlich nicht nur Leitungs-, sondern auch Aufsichtsorgan. Manche haben für die Beibehaltung des Begriffs »Verwaltungsorgan« plädiert.501 Wie im dualistischen System ist dies aber nicht zwingend. Stattdessen bot sich in Anlehnung an die französische Bezeichnung »conseil d’administration« der Begriff »Verwaltungsrat« an.502
In der weiteren Darstellung werden für die deutsche SE die Begriffe »Vorstand«, »Aufsichtsrat« und »Verwaltungsrat« gebraucht. Ist nicht spezifisch die
deutsche SE, sondern die SE allgemein gemeint, so wird die Terminologie der
Verordnung verwendet. Im Rahmen des Rechtsvergleichs bei der monistischen
SE503 wird bei der Darstellung des nationalen Rechts ebenfalls auf die nationalen
Begriffe wie beispielsweise »board« zurückgegriffen. Die Bezeichnung der in
der monistischen SE gegebenenfalls zu ernennenden Geschäftsführer im Sinne
des Art. 43 Abs. 1 S. 2 SE-VO soll erst unten im Rahmen der Darstellung ihrer
Funktion erörtert werden.
B. Geltung des Kollegialprinzips
Nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen sind die für die dualistische SE geltenden Regelungen auf ihre Vorgaben für die Organisation des Vorstands zu untersuchen.
I. Die Regelungen zum dualistischen System im Einzelnen
Von den vier Artikeln der SE-Verordnung zum dualistischen System enthält nur
Art. 39 Bestimmungen über die Struktur des Leitungsorgans, während Art. 40-42
den Aufsichtsrat und die Beziehung beider Organe zueinander regeln.
Art. 39 Abs. 1 S. 1 SE-VO weist dem Leitungsorgan die Geschäftsführung zu,
und zwar im Gegensatz zu den früheren Verordnungsentwürfen504 »in eigener
Verantwortung«. Ein Vergleich mit der englischen und französischen Fassung der
499 So vorgeschlagen von Hirte, NZG 2002, 1 (6), der auch behauptet, dass die SE-Verordnung
die Mitglieder des Verwaltungsorgans als Geschäftsführer bezeichnet und sie mit den
inside directors gleichzusetzen seien. Dieser Vergleich berücksichtigt aber nicht, dass die
Geschäftsführer nicht notwendigerweise Mitglieder des Verwaltungsorgans sein müssen.
500 Vgl. auch Teichmann, ZGR 2002, 383 (452).
501 Ihrig/Wagner, BB 2003, 969 (974).
502 Kübler, ZHR 2003, 222 (232), Fn. 81; Teichmann, ZGR 2002, 383 (452).
503 Siehe unten 4. Teil.
504 Anders noch Art. 62 Abs. 1 S. 1 des Dritten geänderten Vorschlags für eine Verordnung
über das Statut der Europäischen Aktiengesellschaft vom 16.05.1991 (SE-VOV 1991),
KOM (91) endg., veröffentlicht im ABl. EG Nr. C 176 vom 08.07.1991, S. 1 ff.
101
SE-Verordnung505 lässt Zweifel daran aufkommen, ob Art. 39 Abs. 1 S. 1 SE-VO
wirklich eine Betonung der exklusiven Zuweisung der Leitungsaufgabe wie in
§ 76 Abs. 1 AktG beabsichtigt oder ob sich hier vielmehr die deutsche Lesart bei
der Übersetzung niedergeschlagen hat. Inhaltlich dürfte kein Unterschied vorliegen, weil die SE-Verodnung eine Einflussnahme des Aufsichtsorgans und der
Hauptversammlung auf die Leitung der dualistischen SE ebenso wie das deutsche
Recht nur in engen Grenzen vorsieht.506
Art. 39 Abs. 2-4 SE-VO regeln die Bestellung der Mitglieder des Leitungsorgans, während Art. 39 Abs. 5 SE-VO diejenigen Mitgliedsstaaten zum Erlass
eines dualistischen Systems ermächtigt, die ein solches noch nicht kennen. Für
Deutschland besitzt diese Regelung daher keine Bedeutung. Stattdessen kommt
für die dualistische deutsche SE gem. Art. 9 Abs. 1 lit. c) ii) SE-VO das deutsche
Aktienrecht zur Anwendung, sofern es nicht von den Regelungen der SE-Verordnung verdrängt wird.
Von den gemeinsamen Vorschriften für das monistische und dualistische
System ist vor allem die in Art. 50 SE-VO geregelte Beschlussfassung in den
Organen der SE von Bedeutung. Art. 51 SE-VO verweist schließlich hinsichtlich
der Haftung der Organmitglieder auf das nationale Recht.
Für die deutsche AG gilt gem. §§ 76-78 AktG das Kollegialprinzip.507 Für die
dualistische SE gelten jedoch gem. Art. 9 Abs. 1 lit. a) SE-VO vorrangig die
Bestimmungen der Verordnung. In früheren Verordnungsentwürfen wurde dagegen das Kollegialprinzip für den Vorstand ausdrücklich angeordnet.508 In der verabschiedeten Fassung fehlt jedoch eine entsprechende Bestimmung. Daher ist zu
untersuchen, inwieweit die §§ 76-78 AktG durch die Regelungen der SE-Verordnung verdrängt werden und der Grundsatz der Gleichberechtigung bzw. Gesamtverantwortung dennoch gelten.
505 Art. 39 Abs. 1 S. 1 SE-VO lautet in der englischen Fassung: »The management organ shall
be responsible for managing the SE.«
In der französischen Fassung: »L’organe de direction est responsable de la gestion de la
SE.«
506 Vgl. Art. 48, 52 Abs. 2 SE-VO, §§ 111 Abs. 4, 119 Abs. 2 AktG.
507 Zum Kollegialprinzip siehe oben 2. Teil A.I. Teichmann, in: Lutter/Hommelhoff, SE-
Komm., Art. 50 Rn. 7 leitet die Geltung des Kollegialprinzips für die Organe der SE sogar
direkt aus der Verordnung ab.
508 Art. 64 Abs. 2 SE-VOV 1975 lautete: »Besteht der Vorstand aus mehreren Mitgliedern, so
bilden diese ein Kollegium. Die Vorstandsmitglieder können ihre Befugnisse unter sich
aufteilen; die Aufteilung hat nur interne Wirkung. ...«. In Art. 74 Abs. 1 und 2 SE-VOV
1991 wurde zumindest noch angeordnet, dass alle Mitglieder eines Organs dieselben
Rechte und Pflichten nach Maßgabe der Verodnung haben.
Teichmann, in: Lutter/Hommelhoff, SE-Komm., Art. 50 Rn. 7 leitet die Geltung des Kollegialprinzips für die Organe der SE direkt aus der SE-Verordnung ab, auch wenn ihr endgültiger Wortlaut dies nicht mehr ausdrücklich besagt.
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II. Grundsatz der Gleichberechtigung
1. Mehrheitsprinzip bei der Geschäftsführung
Der Grundsatz der Gleichberechtigung wird im deutschen Aktienrecht im
Wesentlichen aus dem Grundsatz der Gesamtgeschäftsführung gem. § 77 Abs. 1
S. 1 AktG und dem Grundsatz der Gesamtvertretung gem. § 78 Abs. 2 S. 1 AktG
hergeleitet.
Art. 50 Abs. 1 lit. a) SE-VO regelt, dass für die Beschlussfähigkeit der
»Organe« der SE grundsätzlich die einfache Mehrheit der anwesenden bzw. vertretenen Mitglieder genügt. Die Beschlussfähigkeit ist im deutschen Recht zwar
nicht ausdrücklich geregelt, allerdings beinhaltet der Grundsatz der Gesamtgeschäftsführung in § 77 Abs. 1 S. 1 AktG, dass grundsätzlich alle Vorstandsmitglieder anwesend sein müssen.509 Sodann lässt Art. 50 Abs. 1 lit. b) SE-VO im
Gegensatz zu § 77 Abs. 1 S. 1 AktG auch für die Beschlussfassung grundsätzlich
die einfache Mehrheit der anwesenden bzw. vertretenen Mitglieder genügen.
Allerdings erscheint auf den ersten Blick zweifelhaft, ob Art. 50 Abs. 2 SE-VO
überhaupt für das Leitungsorgan gilt, weil diese Vorschrift die Existenz eines Vorsitzenden vorauszusetzen scheint. Ein solcher Vorsitzender ist aber gem. Art. 41
S. 1 und Art. 45 S. 1 SE-VO nur für das Aufsichts- und Verwaltungsorgan zwingend. Andererseits ist das Leitungsorgan ohne Weiteres vom Wortlaut erfasst und
kein Grund erkennbar, warum die Beschlussfassung für das Leitungsorgan anders
bzw. nicht geregelt sein soll. Art. 50 SE-VO gilt daher auch für das Leitungsorgan, wobei die Bedeutung des Absatz 2 später erörtert werden soll.510
Das Mehrheitsprinzip für die Beschlussfähigkeit und -fassung in Art. 50
Abs. 1 SE-VO ist jedoch ausdrücklich dispositiv. So kann stattdessen ein Einstimmigkeitserfordernis für die Vorstandsbeschlüsse aufgestellt werden, wie umgekehrt im deutschen Aktienrecht das Einstimmigkeitsprinzip zu Gunsten des
Mehrheitsprinzip abbedungen werden kann und in der Praxis auch durchgehend
abbedungen wird.511 Die Regelung des Art. 50 SE-VO gibt daher wieder, was bei
der AG zwar nicht Gesetz, aber ständige Praxis ist. Die praktikablere Regelung
der SE-Verordnung kann daher sogar Vorbild für eine Reform des deutschen Aktienrechts sein.512 Die Abbedingung des Mehrheitsprinzips gem. Art. 50 Abs. 1 SE-
VO ist aber im Gegensatz zu § 77 Abs. 1 S. 2 AktG nur in der Satzung und nicht
in der Geschäftsordnung möglich.
Hinsichtlich der Reichweite der Abbedingung enthält Art. 50 Abs. 2 S. 2 SE-
VO keine dem § 77 Abs. 1 S. 2, 2. HS AktG vergleichbare Einschränkung, die
besagt, dass nichts gegen die Mehrheit der Organmitglieder durchgesetzt werden
kann. Da die Verordnung die Beschlussfassung umfassend regelt, kann die deut-
509 Siehe oben 2. Teil A.I.2.a)(2).
510 Siehe unten 3. Teil C.III.3.b)(1)
511 Siehe oben 2. Teil A.I.2.a)(2).
512 Vgl. zur Vorbildfunktion der Regelungen der SE-Verordnung Hommelhoff, AG 2001, 279
(283).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie analysiert die Personalisierungsmöglichkeiten für eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland. Untersucht werden sowohl die klassische Aktiengesellschaft als auch die seit 2004 mögliche Europäische Aktiengesellschaft (SE).
Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine Systematisierung des Kollegialprinzips sowie der bereits im Gesetz angelegten Personalisierungsmöglichkeiten, wie der Vorstandsvorsitzende und der Vorstandssprecher. Sodann wird erörtert, auf welchen Faktoren deren faktische Macht beruht und wo die gesetzlichen Grenzen liegen. Daraus leitet die Autorin ab, ob die bestehenden gesetzlichen Regeln noch angemessen sind.
Darüber hinaus werden die Personalisierungsmöglichkeiten bei einer Europäischen Aktiengesellschaft (mit Sitz in Deutschland) aufgezeigt, und zwar zunächst für eine SE mit dem sogenannten dualistischen Leitungssystem. Für die SE mit monistischem System untersucht die Autorin rechtsvergleichend, inwieweit die Regelungen des deutschen SE-Ausführungsgesetzes bestehenden Corporate Governance-Grundsätzen entsprechen. Außerdem schlägt sie Regelungen über die monistische SE zur Aufnahme im Deutschen Corporate Governance Kodex vor.